EINLEITUNG
Heute lebt die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten. Und der Anteil der städtischen Bevölkerung nimmt in vielen Teilen der Welt weiter zu. Ob diese Entwicklung als ökologische und soziale Bedrohung der Zukunft unseres Planeten zu betrachten ist oder ob sie vielmehr große Chancen birgt, wird intensiv diskutiert.[1] Auch in weiten Teilen Europas ist die Verstädterung des Kontinents eine vergleichsweise junge Entwicklung. Sieht man von Nordwesteuropa ab, ist sie primär ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Dem trägt die Stadtforschung bislang kaum Rechnung, kann man sich doch über die Stadt im Mittelalter sehr viel leichter und umfassender informieren als über die Stadt im 20. Jahrhundert. Der Anteil der in Städten lebenden Bevölkerung und die Intensität ihrer Erforschung scheinen sich umgekehrt proportional zu einander zu verhalten. Der Hauptgrund für diese paradoxe Situation dürfte darin bestehen, dass die Stadt der Vormoderne baulich, rechtlich, sozial und politisch sehr viel deutlicher vom Land unterschieden war, als das für das 19. oder das 20. Jahrhundert der Fall ist. Der Bedeutungsgewinn der Stadt ging offenkundig mit dem Verblassen klarer Konturen einher. Aber selbst wenn man der Überzeugung wäre, Stadt-Land-Differenzen hätten sich im ausgehenden 20. Jahrhundert gänzlich abgeschliffen und eine eigenständige Stadtgeschichte damit ihre Existenzberechtigung verloren, bliebe die Analyse des Wandels von einer primär ländlichen zu einer durchgängig urbanen Gesellschaft von zentraler Bedeutung.
Schließlich spielte die Großstadt eine zentrale Rolle für die von Jürgen Osterhammel für die Zeit um 1900 konstatierte «Selbstverwestlichung» von Teilen Asiens oder Nordafrikas.[2] Das galt an den Rändern Europas in noch höherem Maße, boten doch London und Paris, Berlin und Wien die unmittelbaren Referenzpunkte für die städtische Entwicklung in St. Petersburg, Moskau oder Konstantinopel. «Er fährt nach Europa», hieß es im frühen 20. Jahrhundert in Elias Canettis Heimatstadt, dem bulgarischen Rustschuk, «wenn jemand die Donau hinauf nach Wien fuhr».[3] Was Rustschuk von Europa trennte, waren nicht zuletzt Standards von Urbanität. Nun waren diese Standards wie das Referenzsystem städtischer Selbstwahrnehmung keineswegs fix. Für eine an historischer Prägung und baulicher Monumentalität hinter London und Paris zurückbleibende Großstadt wie Berlin war es um 1900 naheliegend, die Modernität und Funktionalität nordamerikanischer Metropolen wie New York oder Chicago zu Merkmalen einer Weltstadt zu erklären.[4]
Die weitgehende Konzentration des vorliegenden Buches auf die vergangenen 150 Jahre ist in der Anlehnung an eine Theorie der Moderne begründet, wie sie in den letzten Jahren insbesondere von Peter Wagner und Andreas Reckwitz entwickelt worden ist. Sie trifft sich mit Diskussionsbeiträgen von historischer Seite, die gleichfalls für eine zeitliche Ausdifferenzierung des Modernekonzeptes plädieren. Dabei kommt der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine Schlüsselrolle zu und das vor allem aufgrund von Entwicklungen, die in den Großstädten dieser Zeit ihren Ort haben.[5] Gemeinsam ist den vorgeschlagenen Periodisierungen einer fortdauernden Moderne ihre Dreigliedrigkeit. Einer (restringiert) liberalen bürgerlichen Moderne folgte die organisierte Moderne, die seit den 1960er/70er Jahren von der Postmoderne abgelöst wurde.
Dabei setzen die Autoren durchaus unterschiedliche Akzente. Mit Blick auf Reinhart Kosellecks Begriff der «Sattelzeit» – also die Epochenschwelle zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts – und die damit ins Leben tretende frühe Moderne spricht Peter Wagner deshalb von einer restringiert liberalen Moderne, weil deren Freiheits- und Utopieverheißungen weitestgehend Männern von Besitz und Bildung vorbehalten blieben. Erst die organisierte Moderne, deren Anfänge Wagner auf das späte 19. Jahrhundert datiert, brachte eine Ausweitung der Partizipationschancen, aber auch einen kräftigen Schub in Richtung Standardisierung und Konventionalisierung in einer Vielzahl von Lebensbereichen. Besondere Bedeutung hatte hier die Massenkultur. Diese spielt auch für Andreas Reckwitz eine herausgehobene Rolle, der von Foucault beeinflusst stärker auf den Wandel der Subjektkulturen abhebt. Mit der organisierten Moderne löste für ihn das Angestelltensubjekt das bürgerliche zunehmend ab, ein Prozess, in dem der Metropolenerfahrung und dem Kino sowie dem Konsum und einer neuen Ästhetik des Visuellen großes Gewicht zukamen. Reckwitz nimmt aber stets auch Gegenbewegungen wie für die bürgerliche Moderne die Romantik in den Blick. Die deshalb von ihm für die organisierte Moderne analysierten Avantgarden aber standen, ohne dass dies das Zentrum seines Interesses bildete, in einer intensiven Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Metropolen dieser Zeit. Und in diesen Metropolen wurden viele der von Reckwitz auf die 1920er Jahre datierten Wandlungsprozesse schon im späten 19. Jahrhundert vorweggenommen oder zumindest eingeleitet.
Scheint es also gerade mit Blick auf die Stadt plausibel, die wahlweise als organisierte Moderne oder als Hochmoderne beschriebene Zäsur des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt zu nehmen, wirft der Begriff der Postmoderne deutlich mehr Probleme auf. Dass sie dem Präfix «post» zum Trotz in aller Regel als Teil der Moderne begriffen oder gleich als «zweite Moderne» konzipiert wird, gehört dazu.[6] Denn wenn man eine spezifische, an der Offenheit und Gestaltbarkeit der Zukunft ausgerichtete Zeitsemantik als Wesenskern der Moderne versteht, dann ist mit der Absage an ein gerichtetes Zeitverständnis, mit der Aufgabe von Begriffen wie Fortschritt und Entwicklung in der Tat ein Punkt nach der Moderne erreicht.[7] Bei der Klärung solcher Fragen wird die Stadtgeschichte vermutlich keine zentrale Rolle spielen, auch wenn gerade die freie (oder beliebige) Kombination von Stilelementen verschiedenster Epochen in der postmodernen Architektur den Wandel der Zeitsemantik besonders früh zur Anschauung gebracht hat. Gleichwohl ist es möglich, einige der für eine weniger radikal verstandene Postmoderne in Anschlag gebrachten Kennzeichen wie die nicht zuletzt durch Konsum und Ästhetisierung vollzogene Individualisierung auch für die Analyse der jüngsten Stadtgeschichte nutzbar zu machen.[8]
Der Hinweis auf die künstlerischen Avantgarden hat bereits deutlich gemacht, dass der von der historischen Soziologie entlehnte Theorierahmen die Veränderungen von Semantik und Wahrnehmung zu seinen konstitutiven Bestandteilen zählt. Die als «Auflösung aller Vertrautheit» beschriebenen Wandlungsprozesse in den Künsten gehören ebenso hierher wie die Revolutionierung des Verhältnisses von Zeit und Raum durch neue Kommunikationsmittel oder die Medialisierung der (Großstadt-)Wahrnehmung (vgl. Kapitel VI).[9] Zu den weiteren Vorzügen des knapp umrissenen Theorierahmens zählt, dass er die Ambivalenz der Moderne systematisch in Rechnung stellt und etwa Faschismus wie Sozialismus gleichermaßen als Ordnungsmodelle der organisierten Moderne zu verstehen sucht.[10] Damit ist zugleich festgehalten, dass es ganz verschiedene Wege in die Moderne geben kann. Shmuel Eisenstadts Konzept der multiple modernities, dessen religions- und zivilisationsgeschichtliche Schwerpunktsetzung hier nicht übernommen wird, scheint insofern durchaus hilfreich.[11] Allerdings ändert die Rede von der Moderne im Plural nichts daran, dass eine solche Rede einen gemeinsamen Kern von Moderne voraussetzt, um sinnvoll zu sein.[12] Ohnehin macht gerade das in diesem Buch im Zentrum stehende Beispiel der Städte deutlich, dass deren Modernität ständiger Gegenstand wechselseitiger Beobachtung war.
Die Grenzen dieser wechselseitigen Beobachtung waren nicht die geographischen Grenzen Europas. Das hat schon der Hinweis auf die Selbstverwestlichung von Teilen Asiens und Nordafrikas deutlich gemacht. Und noch intensiver waren die Städte Nord- und teilweise auch Südamerikas in die europäischen Diskussionen über städtische Entwicklung einbezogen.[13] Nicht zuletzt spielten auch die europäischen Kolonialstädte eine bedeutende Rolle, von denen gelegentlich als Laboratorien der Moderne gesprochen worden ist. Sie sind nur insofern Gegenstand dieses Buches, als sich in ihnen europäische Stadt- und Stadtplanungskonzepte kristallisierten, nicht jedoch als Lebenswelten eigenen Rechts.[14] Mit Blick auf die dadurch vorgegebene Begrenzung auf Europa ist nun aber wesentlich, die Städte Ost- und Südeuropas nicht mit Hilfe eines nordwesteuropäisch geprägten Typus der «europäischen Stadt» von vorneherein definitorisch auszugrenzen.[15] Vielmehr gilt es, sie mit Bezug auf städtische Vergesellschaftungsmuster oder Architekturdiskussionen in ihrer Europäizität zu analysieren.[16] Kontakt- und Übergangszonen insbesondere im Süden und Osten Europas sind deshalb in die Untersuchung einzubeziehen.
Nun impliziert die Rede von Kontakt- und Übergangszonen an der europäischen Peripherie letztlich...