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Karl der Große

Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch

VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641128616
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Der mächtigste Kaiser des Mittelalters und die Zeit, in der er lebte
Karl der Große ist die Schlüsselfigur des frühen Mittelalters. Mit seinem Frankenreich etablierte der sagenumwobene Herrscher nach dem Ende der römischen Herrschaft die erste neue Großmacht im Westen. Der im Jahr 800 zum Kaiser Gekrönte setzte Maßstäbe für die christliche Zukunft des Kontinents - auch in der mitunter blutigen Abgrenzung gegen östliche Heiden, Byzanz und den Islam. Karls Regierungsstil, sein politisches Kalkül und seine Entscheidungen hatten enorme Wirkung auf das geistig-kulturelle Fundament des Abendlandes. Obwohl Karl sicher nicht der Ahnherr Europas war, zu dem er heute oft gemacht wird, ist das Erbe der karolingischen Epoche bis in unsere Gegenwart spürbar. 1200 Jahre nach seinem Tod im Jahr 814 geben SPIEGEL-Autoren und Historiker spannende Einblicke in das Leben Karls des Großen und die Zeit, in der er herrschte.

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Leseprobe

Der heilige Barbar

Noch wundersamer als das Leben Karls des Großen war und ist sein Nachleben.

Von Dietmar Pieper

Der Mann hat viele Leute aufgeregt, noch lange nach seinem Tod. Das ist bestimmt nicht das Übelste, was man über einen mittelalterlichen Herrscher sagen kann. Als Sachsenschlächter wurde Karl der Große angefeindet, als dekadenter Unhold, der in großem Stil Verderben über die Welt gebracht hat. Aber noch häufiger wurde er als Inbegriff eines vorbildlichen Monarchen verehrt, als Gründervater Deutschlands und Frankreichs, als wahrhafter Europäer. Er wurde zur Hölle gewünscht und heiliggesprochen (wenn auch nicht vom Papst persönlich).

Als Erster aus dem barbarischen Volk der Franken hat er die römische Kaiserwürde erlangt – und damit einen Reichsmythos begründet, der bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkte. Der Weihnachtstag des Jahres 800, an dem der Papst den Frankenkönig zum Imperator erhob, ist ein Schlüsseldatum der Weltgeschichte. Aber wie und warum es geschah, ob mit strategischer Absicht, zufällig oder sogar gegen Karls Willen, das ist eine offene Frage. Niemand hat der Nachwelt den Gefallen getan, unparteiisch Protokoll zu führen. Was übrig blieb an Aufzeichnungen von damals, sind gewöhnlich Propagandawerke, die auch noch lückenhaft sind.

Natürlich gibt es sie, die Spuren seines herrschaftlichen Lebens: Urkunden auf Pergament, die von den Taten und Befehlen des mächtigen Mannes künden. Silberne Münzen mit seinem Bildnis, dessen Züge aber wahrscheinlich frei erfunden sind. Einige Prachtbauten in Aachen, ein paar Mauerreste in Ingelheim am Rhein und anderes mehr. Historiker und Archäologen haben mit viel Mühe allerhand Überreste und Dokumente aus der Zeit vor 1200 Jahren zusammengetragen. Aber eigentlich ist es furchtbar wenig. Das einzige Zeugnis, das mit Sicherheit von Karls eigener Hand stammt, ist ein keilförmiger Strich in seiner Signatur, ein Häkchen der Beglaubigung in der Mitte jenes berühmten Namenszeichens, das seine Schreiber für ihn angefertigt haben: Karolus.

Unterzeichnungssymbol Karls auf einer Urkunde von 779 über die Schenkung eines Waldes bei Saint-Denis. Nur der innere Haken in der Monogramm-Raute stammt vom Herrscher selbst, der Rest des Dokuments ist von Kanzlisten und Schreibern verfertigt.

RMN-Grand Palais/Art Resource, NYImage

Die Autoren dieses Buches haben den Versuch unternommen, ein möglichst realistisches Bild des Herrschers und seiner Zeit zu entwerfen. Sie haben von führenden Experten in Aachen Neuigkeiten erfahren und in Saint-Denis bei Paris die lange Vorgeschichte der fränkischen Karolingerdynastie erkundet. Die alten Quellen standen ihnen ebenso zur Verfügung wie eine unübersehbar reichhaltige Forschungsliteratur. Auf dieser Grundlage zeichnen sie den geheimnisvollen Aufstieg der merowingischen Könige nach, sie beschreiben den Zusammenprall von islamischer und christlicher Welt im frühmittelalterlichen Europa, sie beleuchten die Beziehungen der fränkischen Herrscher zum alten Kaiserreich Byzanz und zum Kalifen von Bagdad, sie schreiten den erstaunlichen intellektuellen Horizont dieser Epoche ab, die gar nicht so dunkel war, wie viele glauben. Und sie gehen aus unterschiedlichen Blickwinkeln der Frage nach, wer dieser Karl wohl gewesen ist:

Ein ausdauernder und auch brutaler Krieger, der nur in 2 seiner 46 Herrschaftsjahre keine Feldzüge geführt hat? Gewiss. Ein Lebemann und Frauenheld mit einer unüberschaubar großen Anzahl Nachkommen? Ja klar. Ein gläubiger Christ, der sich mit allen Mitteln für die Verbreitung seiner Religion eingesetzt hat? Das auch. Außerdem ein kaltschnäuziger Politiker und ein warmherziger Familienmensch.

Aber Karl wäre nicht so groß, wie er uns heute noch vorkommt, wenn auf sein erfülltes und farbiges Leben nicht ein noch reicheres Nachleben gefolgt wäre. Jede Zeit hat sich ihren eigenen Karl geschaffen; seit zwölf Jahrhunderten wächst Schicht um Schicht das Sediment der Erzählungen und Mythen über den alten Kaiser. Zwei Nationen führen ihre Anfänge auf diesen einen Mann zurück, Carolus magnus, und oft genug wurde Charlemagne ebenso kompromisslos zum Franzosen gemacht, wie ihn die Geschichtsdeuter nebenan zum Deutschen erklärten.

Diesseits wie jenseits des Rheins blieb Karl als Held einer Fülle von Sagen und Legenden populär, wobei die erzählerischen Motive mühelos die nationale Schranke übersprangen. Szenen von Krieg, Treue und Verrat, die zuerst auf Französisch in den hochmittelalterlichen »Chansons de geste« ausgeschmückt wurden, dienten in Deutschland noch nach dem Zweiten Weltkrieg als Vorlage für Margarine- oder Zigarettenbildchen zum Sammeln. Etwas historischen Glanz hat man sich auch in anderen Ländern, deren Gebiete einst zu Karls Reich gehörten, vom großen Frankenherrscher versprochen. Die Belgier glaubten im 19. Jahrhundert, seinen Geburtsort in der Nähe von Lüttich finden zu können. Und das kleine Volk der Andorraner ehrt ihn noch heute in seiner Nationalhymne: »El gran Carlemany, mon Pare dels àlarbs em deslliurà« singt man dort auf Katalanisch, »Karl der Große, mein Vater, befreite mich von den Sarazenen«.

Schon zu karolingischen Zeiten war es von der Propaganda zum Mythos nur ein kleiner Schritt. Das 536 Verse umfassende Karlsepos aus dem 9. Jahrhundert preist den Herrscher in hohem Ton und beschreibt unter anderem die Begegnung zwischen dem König und Papst Leo III. in Paderborn. Als der Kirchenfürst von den Franken mit allen Ehren empfangen wird, heißt es: »Karl erstrahlt inmitten des Heeres, frohgemut; golden deckt der Helm das Haupt, glanzvoll erscheint er in der Waffenrüstung, ein riesiges Ross trägt den gewaltigen Führer.« Der anonyme Lobredner des Monarchen hatte keine Scheu, dick aufzutragen. Er rühmt Karl als »erhabenen Leuchtturm« und »Vater Europas«. Da ist sie also, wohl zum ersten Mal in der Geschichte: die ominöse Floskel vom Ahnherrn eines ganzen Kontinents. Heute hängt sie Karl an wie der Rauschebart, den er auf den meisten der allesamt frei erfundenen Porträts trägt (wahrscheinlich trug er einen Schnurrbart).

Damals freilich war Europa nur ein Wort unter vielen. Auch wenn es zu einer festen Gewohnheit geworden ist, den Imperator aus dem frühen Mittelalter als europäischen Gründervater zu betrachten – mit der historischen Wirklichkeit hat das wenig zu tun. Der Historiker Johannes Fried hält die karolingischen Europa-Anspielungen für bloße Rhetorik, die »auf wenige Schreibstuben beschränkt blieb«. Und Frieds Kollege Michael Borgolte meint trocken: »Von einer klaren Vorstellung über Europa kann weder in der Zeit Karls des Großen noch in den späteren Jahrhunderten die Rede sein.«

Bis weit in die Neuzeit hinein war anderes wichtiger: Karl wurde zu einer Sagengestalt, die mit ihrer ritterlichen Lebensführung, manchmal auch durch übermenschliche Kräfte Bewunderung erregte. Europa blieb eine seltene Vokabel.

Etwa 50 Jahre nach Karls Tod schrieb ein Kleriker aus Mainz eine angebliche Vision des großen Frankenkönigs nieder. Das stolze Reich war zerfallen, die zermürbenden Erbstreitigkeiten der nächsten Karolinger-Generationen nahmen kein Ende. In der »Visio« kommt die Sehnsucht nach einem geeinten Frankenreich zum Ausdruck; Schlüsselszene ist eine Traumsequenz, in der dem großen Karl ein Schwertträger erscheint. Auf der Schneide sind die rätselhaften Worte »raht, radoleiba, nasg, enti« eingraviert, die der König mit Hilfe seiner Ratgeber zu deuten versucht. Schließlich muss er erkennen, welches Unheil seine zerstrittenen Erben anrichten werden. Mit einem leichter zugänglichen Werk erschrieb sich dann bald ein Mönch aus St. Gallen einen Namen. Notker, genannt »der Stammler«, trug in Hülle und Fülle Anekdoten zusammen, in denen »der weiseste der Könige« stets Bella figura macht. Schön zu lesen, wenn auch historisch wertlos, entfalteten die »Gesta Karoli Magni« beachtliche Langzeitwirkung.

Einheitliche Worte und Werte nach christlichem Maß sollten in Karls Reich gelten. Zum Erneuerungsprogramm zählten die Abschriften wichtiger Texte sowie eine Münzreform, die bis heute nachwirkt. Auf diesen zwei Seiten des Lorscher Evangeliars sieht man den Anfang des Johannes-Evangeliums mit dem Bild des Evangelisten und seinem Symboltier, dem Adler.

AKG

Wie sehr Karl im Lauf des Mittelalters zum Mythos wurde, zeigt beispielhaft die Geschichte von den Neun Guten Helden (französisch »Les Neuf Preux«) aus dem 14. Jahrhundert. Nirgendwo in der Welt der Karlslegenden ist der Zeithorizont so weit gespannt wie in diesem Lob der exzellenten Ritterlichkeit: Neben die drei christlichen Helden Karl, König Artus und Gottfried von Bouillon treten die antiken Heroen Hektor von Troja, Alexander der Große und Julius Cäsar sowie die alttestamentlichen Lichtgestalten Judas Makkabäus, König David und Josua, der Prophet. Beliebt war es, die illustre Runde in Rathäusern bildlich oder plastisch darzustellen; als große Figurengruppe ist sie heute noch im Hansasaal des historischen Kölner Rathauses zu sehen. Man könnte meinen, wenn man die Neun Guten Helden betrachtet, dass es die Menschen des Mittelalters mit der Wahrheit nicht genau nahmen; schließlich gehören hier erfundene und historische Gestalten gleichermaßen zu den Auserwählten. Aber kaum jemand dürfte das damals problematisch gefunden haben; es war eben nicht so wichtig, geschichtliche Realität und erzählerische Fiktion klar auseinanderzuhalten. Im breiten Strom der Überlieferung floss beides ineinander. An einem kleinen Beispiel veranschaulicht der...

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