Eine Zeit der Umbrüche
Es ist grundsätzlich schwer, einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten in wenigen Zeilen zu charakterisieren. Völlig unmöglich ist dieses Unterfangen aber für das 20. Jahrhundert. Es gibt zahlreiche Fachbücher, welche diese Zeit darstellen. Daher sollen im Folgenden nur einzelne Aspekte beleuchtet und ein grober Überblick gegeben werden.
In den 50 Jahren zwischen 1930 und 1980 erfuhren alle Lebensbereiche einen totalen Umbruch. Es waren also nicht nur die schrecklichen Jahre des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges, die keinen Stein auf dem anderen ließen.
Nach dem Ende der Österreichisch-Ungarischen Monarchie war der politische und wirtschaftliche Neuanfang ein sehr schwerer, und die neuen Institutionen der Politik und der Wirtschaft konnten sich nur langsam durchsetzen. Die Inflation, eine unübersichtliche Parteienlandschaft, der Verlust von Südtirol, die weitgehende Abhängigkeit von Deutschland, der nur langsam wieder anlaufende Tourismus sind nur einige wenige der zahllosen Problemfelder. Diese Stichworte umschreiben die Lage der ersten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Wenig Grund für die Menschen, positiv in die Zukunft zu blicken.
In den 1930er Jahren verschärfen sich vor allem die politischen Auseinandersetzungen, sodass es 1934 sogar zu einem – wenn auch sehr kurzen – Bürgerkrieg kommt. Die Ermordung des seit 1933 diktatorisch regierenden Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß am 25. Juli 1934 ist ein weiterer Schritt in Richtung des sich anbahnenden politischen Zusammenbruchs. Die Frage der wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit dieses „Rest-Österreichs“ wird immer dringlicher. Der Schutz in einem großen und wiedererstarkten Deutschen Reich scheint für die meisten der einzige Weg. Der Austrofaschismus ist bei der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich. Das gesellschaftliche Klima ist sehr frostig, der Antisemitismus überaus weit verbreitet.
Im Tourismusbereich, in dem vor allem die deutschen Gäste eine tragende Rolle spielen, bringt die sogenannte Tausend- Mark-Sperre 1933 diese wichtige Einnahmequelle beinahe vollständig zum Erliegen. Deutsche Staatsbürger müssen bei einem Grenzübertritt nach Österreich 1.000 Reichsmark bezahlen. Das entspricht heute etwa einem Wert von 3.500 bis 4.000 Euro. Naturgemäß ist dies keine gute Voraussetzung für den Tourismus. Die neuen Seilbahnen auf den Hahnenkamm, die Zugspitze sowie auf die Nordkette und den Patscherkofel sind dennoch Tourismusmagneten.
Der in Tirol und ganz Österreich auftretende politische Radikalismus rührt von einer weitgehenden Unerfahrenheit mit den demokratischen Spielregeln her, aber auch von dem Bewusstsein, nichts mehr verlieren zu können. Der aus dieser Sicht „logische“ Anschluss an das Deutsche Reich erscheint als die Lösung, um der Probleme Herr zu werden, stellt sich aber kurz darauf als große Katastrophe heraus.
In Innsbruck sind diese Prozesse zu Beginn der 1930er Jahre etwas abgeschwächt wiederzufinden. Alle politischen Richtungen vereint der Widerstand gegen den Verlust von Südtirol. Da es in Tirol wenig große Industrien gibt, ist auch die Sozialdemokratie schwächer ausgeprägt als in anderen Teilen des Landes. Gleichzeitig ist die Begeisterung für den Anschluss auch hierorts überaus groß.
Der Besuch Adolf Hitlers am 5. April 1938 in Innsbruck wurde zu einem frenetisch gefeierten Ereignis, das Ergebnis der Volksabstimmung in Innsbruck war ebenso eindeutig wie überall sonst in der „Ostmark“, wie Österreich nun für einige Jahre heißen sollte.
Inhaftierungen politisch (Anders-)Denkender und die schrittweise Vertreibung und Ermordung der jüdischen Mitbürger stehen an der Tagesordnung. Nach den ersten militärischen Erfolgen kommt der Krieg bald auch nach Innsbruck. Anfangs „nur“ mit Verwundetentransporten, bald auch mit Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern und schlussendlich mit bombenbeladenen Flugzeugen. Die Folgen sind etwa 500 Tote und nahezu 60 Prozent beschädigten bzw. zerstörten Wohnraums. Es dauert viele Jahre, bis sich Innsbruck von dieser Katastrophe erholt.
Die amerikanischen Befreier verlassen Tirol im Juli 1945 bereits wieder, um der französischen Besatzungsmacht Platz zu machen. Man betrachtet die Besatzer als „notwendiges Übel“ und begegnet ihnen mit einer klugen Politik der Zurückhaltung. Die vielen Jahre ihrer Anwesenheit hatten weniger Einfluss auf das Leben der Tiroler, als es bei einer so langen Besatzungszeit zu erwarten gewesen wäre. Entsprechend sind die Spuren heute kaum mehr zu finden.
Die ersten Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind von Mangel an allen Ecken und Enden gekennzeichnet: wenig Nahrung, wenig Freiheit, schlechte Wirtschaftslage, wenig Wohnraum. Doch schon bald wächst auch der Bedarf an Unterhaltung. Die modernen Strömungen der Jugendkultur gelangen über den Atlantik auch nach Innsbruck. Es wird aber noch einige Jahre dauern, bis der Wirtschaftsaufschwung und die positive Stimmung auch in Tirol um sich greifen.
Der Einfluss der katholischen Kirche auf das Leben der Menschen ist enorm groß. Die neuen Freiheiten und Strömungen werden heftig bekämpft. Comics werden zum Feindbild gemacht, der sogenannte Schundroman als verwerfliches Schrifttum abgetan. Dennoch lässt sich die neu entstandene Freiheit nur aufhalten, aber nicht verhindern. Die Jugend der Nachkriegszeit will Jazz, will Freiheit, will ihr Leben selbst gestalten. Daraus entwickeln sich in den späten 1960er Jahren die Studentenproteste, die das gesellschaftliche Gefüge schwer erschüttern werden.
Im Laufe der späten 1940er und der 1950er Jahre kann die ärgste Wohnraumnot bekämpft werden, und schon denkt man an neue Herausforderungen. Bereits für 1960 bewirbt man sich – wenn auch erfolglos – um die Austragung der Olympischen Winterspiele. 1964 werden die IX. Olympischen Winterspiele dann in Innsbruck stattfinden. Dieses Ereignis und auch weitere, die in diesem Jahr stattfinden, bilden quasi symbolisch den Abschluss des Wiederaufbaus und den Beginn des modernen Innsbrucks. Denn 1964 wird Innsbruck auch Bischofssitz und erhält zudem den Europapreis. Innsbruck als (kleine) europäische Stadt wird wieder in den Kreis der geachteten Städte „aufgenommen“. Diese doch sehr markante Zäsur ist bis heute immer etwas unterschätzt geblieben.
Die neue Zeit bringt auch neue, herausfordernde Aufgabenstellungen: Beispielsweise sollte die Verkehrsbelastung zwar durch die neu gebaute Autobahn entschärft werden, jedoch tritt das Gegenteil ein. Auch im innerstädtischen Verkehr frisst der Straßenbau die wenigen freien Flächen immer schneller auf. Der Ausbau des öffentlichen Verkehrssystems kann hier nicht Schritt halten. Zudem wird infolge einer tragischen Fehleinschätzung die sogenannte Haller Straßenbahn 1974 eingestellt. Ein Fehler, der kaum wieder gutzumachen ist. Gleichzeitig entstehen neue Straßenzüge, die uns heute so vertraut sind: der Südring, die Freiburger Brücke, die Grenoblerbrücke, die Bachlechnerstraße.
Der Flughafen steht zwischendurch vor seinem Ende. Eine Volksabstimmung soll über seine weitere Zukunft entscheiden. Diese – ein demokratiepolitisches Armutszeugnis mit einer Wahlbeteiligung von etwa zehn Prozent – sichert ihm dennoch seine weitere Existenz. Heute stellt der Flughafen einen der wichtigsten Faktoren für den (Winter-)Tourismus und für die Regionalwirtschaft dar. Er ist aber auch für die TirolerInnen selbst ein Tor in die Welt.
In Innsbruck entsteht quasi aus dem Nichts das größte Jugendzentrum Europas: das Kennedy-Haus von Pater Sigmund Kripp. Diese Einrichtung ist ihrer Zeit weit voraus – zu weit womöglich. In den Jahren ihres Bestehens ist die MK, die Marianische Kongregation, wie sie eigentlich genannt wird, eine prägende Institution für eine ganze Generation damals junger Innsbruckerinnen und Innsbrucker. Schlussendlich wird Sigmund Kripp abgesetzt. Die damals noch sehr traditionsverhaftete Amtskirche hat die ungleiche Auseinandersetzung gewonnen, letztendlich aber doch verloren.
Die Wirtschaft boomt, Innsbruck boomt. Und es geht immer so weiter. Na ja, nicht ganz. Es folgt der Ölpreisschock. Die Jahre des Wirtschaftswunders sind vorbei und die Energiekrise offenbart erstmals die Verschiebung des politischen Gewichts. Die Zeiten, als Europa den Erdball nach Belieben beherrschte, sind endgültig Vergangenheit.
Mit den XII. Olympischen Winterspielen 1976, die Innsbruck aufgrund des Rückzuges von Denver in den USA quasi als Ersatz austragen kann, wird die Stadt wieder ins internationale Rampenlicht gerückt. Die Reichen und Schönen aus den Illustrierten reisen wieder nach Tirol.
Die Entwicklung Innsbrucks von einer einigermaßen modernen Stadt in den 1920er Jahren zu einer, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist, ist ein Prozess, den die Menschen und politischen Vertreter der Stadt allen weltpolitischen Turbulenzen zum Trotz immer weiter vorangetrieben haben. Der Traditionalismus ist als Werthaltung bis heute vorhanden. Aber inzwischen orientiert man...