Vorwort
Mein Interesse an Eßstörungen entwickelte sich aus meiner therapeutischen Arbeit mit Frauen und meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Frage, was es bedeutet, in der heutigen Gesellschaft Frau zu sein. Gestörtes Eßverhalten taucht als Problem vornehmlich bei Frauen auf. Ich interessierte mich zunehmend für Mädchen und Frauen mit diesen Störungen, denn im Gegensatz zur Überzeugung meiner Kollegen und dem, was die Literatur darüber sagt, handelt es sich nicht um furchtbar schwierige Klientinnen, sondern um besonders intelligente, begabte und kreative Menschen. Sie sehen sich selber allerdings nicht so, sondern betrachten sich vielmehr als inkompetent, wertlos und unattraktiv. Mich reizte diese Diskrepanz zwischen meiner Wahrnehmung und ihrer, und so hörte ich ihren Geschichten mit größter Aufmerksamkeit zu.
Diese Frauen erzählten mir ihre Lebensgeschichten in der Hoffnung, dadurch einen Schlüssel zu finden, eine Antwort auf die Fragen nach dem Ursprung jener geheimnisvollen Obsession, die ihr Leben beherrscht. Eine Frau berichtete von dem Mißbrauch durch ihren Vater, während eine andere einen Vater beschrieb, der sie stets ermutigte, förderte und ihre Leistungen lobte. Eine Frau beschrieb eine alkoholsüchtige Mutter, die ums bloße Überleben kämpfte und ihr nur wenig Zuwendung geben konnte, während eine andere ihr Leben mit einer sie abgöttisch liebenden, manchmal überfürsorglichen Mutter schilderte. Ich behandelte Frauen, die einen Elternteil durch Tod oder Scheidung verloren hatten und andere, deren Familien eng zusammenhielten. Auf jede Leidensgeschichte kam eine Lebensgeschichte mit nur wenig augenfälligen Schwierigkeiten.
Die Lebensberichte ergaben kein bestimmtes Muster, doch fiel mir in den so unterschiedlichen Erfahrungen allmählich ein unterschwelliges Thema auf. Der rote Faden, der sich durch sie hindurchzuziehen schien, war das beherrschende Gefühl, nicht richtig in die Familie hineinzupassen, die Dinge nicht so zu sehen wie die anderen, das Gefühl, Außenseiterin zu sein.
Ich erfuhr, daß diese Frauen als kleine Mädchen sehr aufgeweckt und intelligent gewesen waren und ein ungewöhnliches Gespür für die Vorgänge in ihrer Umgebung aufgewiesen hatten. In den meisten Fällen waren die Frauen, die heute mit einer Eßstörung kämpften, einst Mädchen, die Unsichtbares wahrnahmen, die zwischen den Zeilen lesen konnten und spürten, wenn etwas nicht stimmte. Sie bemerkten es, wenn Leute das eine sagten, aber etwas anderes taten. Sie durchschauten Verhaltensmuster und ahnten, wozu sie führten. Sie wußten, wenn sich jemand unehrlich und unaufrichtig gegenüber ihnen verhielt.
Aus irgendeinem Grund wurde diese Fähigkeit in der Familie aber nicht geschätzt. Man wollte mit dem eigenen widersprüchlichen Verhalten nicht konfrontiert werden, noch sich mit dem auseinandersetzen müssen, was als seltsame Sorgen oder ungewöhnliche Erwartungen erschien. Man wollte sich nicht mit der Hypersensibilität für emotionale Zwischentöne befassen. Manchmal fühlten sich die Erwachsenen offensichtlich durch die Frühreife des Kindes geradezu bedroht. Immer wenn es die Wahrheit aussprach oder Dinge in Frage stellte, bekam es die deutliche (oft nonverbale) Botschaft, daß dieses aufrichtige, neugierige Verhalten nicht in Ordnung sei und sogar die Stabilität der Familie gefährde.
Das Überleben des Kindes hing davon ab, sich an die Familie anzupassen. Es mußte einen Weg finden, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, damit die Eltern sich von ihm nicht überfordert fühlten, damit Brüder und Schwestern nicht eifersüchtig waren und ernsthafte Probleme nicht aufgedeckt wurden, die vielleicht ein Auseinanderbrechen der Familie ausgelöst hätten. Das Mädchen kollaborierte daher mit den anderen Familienmitgliedern, indem es so tat, als stimme etwas mit seiner Wahrnehmung nicht, als sei es selbst nicht in Ordnung. Immerhin sah kein anderer in der Familie die Dinge so wie sie.
Auf der Suche nach etwas, was sie von ihrem Unbehagen ablenken und ihre Wahrnehmungen abschwächen konnte, stieß das Mädchen erstmals auf die Bedeutung des Essens.
Vielleicht handelte es sich um ein junges Mädchen, das am Verhalten seiner Mutter erkannte, daß die elterliche Ehe lieblos war. Das ängstigte sie so sehr, daß sie zwanghaft zu essen begann – versuchte, die Wahrheit in sich hineinzustopfen, die drohte, die Familie auseinanderzureißen. Obwohl sie in der Schule unter den Hänseleien über ihr Dicksein stark litt, konnte sie doch immerhin verhindern, daß das Geheimnis im normalen Alltag in ihr Bewußtsein drang und den anderen Familienmitgliedern enthüllt wurde.
Vielleicht war es ein Mädchen, das entdeckte, daß es seine natürliche künstlerische Begabung unterdrücken mußte, um seinem arbeitsamen, ehrgeizigen Vater zu gefallen. Sie entdeckte, daß sie mit einem ständigen Hungergefühl alle Bedürfnisse nach kreativem Ausdruck verdrängen konnte, die zwischen dem Vater und ihr zum Konflikt führten. Ihre Anorexie bereitete der Familie zwar schließlich große Sorgen und Probleme, aber so konnte sie immerhin die für sie wichtige Bindung zum Vater aufrechterhalten, weil sie die Verschiedenheit von ihm vor sich selbst und vor ihm verbarg.
Sie war vielleicht ein schönes und intelligentes Mädchen, das viele Freunde hatte und merkte, daß ihre alleinstehende Mutter ihr jedesmal die Zuneigung entzog, wenn sie aufgeregt von ihren Verabredungen erzählte, und ihre ältere Schwester mit Abneigung reagierte, wenn sie gute schulische Leistungen erzielte. Sie entdeckte, daß sie die Eifersuchtsgefühle der anderen eindämmen konnte, wenn sie selbst ein »Essensproblem« hatte, weil diese sich dann nicht mehr von ihrer Perfektion bedroht fühlten. Nachdem sie mit einem Problem zu kämpfen hatte, konnte sie in den Chor einstimmen: Das Leben ist ungerecht. Das reduzierte die Wahrscheinlichkeit, daß die anderen sie ablehnten.
Für alle diese Mädchen bedeutete die Obsession mit Essen ein neues Zentrum für ihr Leben. Sie konnten nun Kalorien zählen und über jedes neue Kilo klagen, statt ihre tiefer sitzenden Qualen und Ängste zu empfinden. Die zunehmende Beschäftigung mit dem Körper setzte ihrer Angst Grenzen, anders zu sein und Dinge zu sehen, die andere nicht wahrnahmen. Das Gefühl von Einsamkeit, weil man nirgendwo richtig hineinpaßte, rückte so in den Hintergrund.
Im Vergleich zu den anderen Problemen in ihrem Leben schienen die Schwierigkeiten mit dem Essen und Dicksein – so quälend sie sein konnten – einfacher. Sie brauchte nur eine Diät zu halten, und alles würde wieder gut. Die Botschaften der Medien in einer Kultur, die vom Schlanksein besessen ist, bestätigten diese Denkweise.
Je mehr sie sich aber in den Kampf gegen Essen, Dicksein und Diäten verstrickte, desto unklarer wurde diese »einfache Lösung«. Sie wußte, was sie tun mußte (weiter abnehmen), wußte aber nicht, wie. So entwickelte das Mädchen eine Selbsteinschätzung, in der sie sich als minderwertig, inkompetent und hilflos sah – und die Gesellschaft bestätigte ihre Selbstverdammung, weil sie nicht die Willenskraft besaß, ihren Körper zu kontrollieren.
Die Gabe ihrer Einsicht wurde unter vielen Schichten des Selbstzweifels und des Selbsthasses vergraben.
Als Frau fühlte sie zwar in sich die Fähigkeit zu spüren, wenn etwas nicht stimmte, Zwischentöne herauszuhören, Spannungen in Beziehungen zu erkennen und Differenzen zwischen dem, was andere sagten, und ihrem Verhalten, aber die Interpretation ihrer Wahrnehmung wurde nun durch ihre Selbstzweifel und ihre niedrige Selbstachtung verzerrt. Wenn sie hinter der »hilfsbereiten« Kritik einer Freundin Feindseligkeit spürte, dachte sie, sie sei zu sensibel. Wenn ihr Mann ihr besorgt und in sich gekehrt erschien, glaubte sie, er habe sich über sie geärgert oder fände sie nicht mehr attraktiv. Wenn sie über die Manipulationsversuche ihrer Mutter wütend wurde, nahm sie an, übertrieben zu reagieren. Und ihr emotionales Unbehagen überdeckte sie mit Gedanken an Essen.
Mit außer Kontrolle geratenem Eßverhalten und praktisch ohne Selbstachtung fanden viele der Frauen schließlich den Weg ins Zentrum für Anorexie und Bulimie auf Hawaii, das ich mit zwei anderen Frauen gegründet habe – und begaben sich ins Labyrinth der Gesundung.
Ein Labyrinth ist ein uraltes, geheimnisvolles Sinnbild. Es besteht aus einem Weg, der sich in verschiedene Richtungen windet, Schlaufen dreht, ein Zentrum erreicht und sich dann wieder zurück schlängelt. In vielen Religionen war das Labyrinth ein Symbol für den Weg durchs Leben, für Tod und Wiedergeburt. Es wurde als Meditationshilfe benutzt, führte zum eigenen Zentrum und wieder zurück in die Welt.
Die Frauen auf dem Weg zur Heilung von ihren Eßstörungen begannen eine Reise, bei der sie einem gewundenen, sich schlängelnden und komplizierten Pfad zu ihrem Zentrum folgten. Dazu mußten sie alte Einschätzungen ihres Selbst, die sie von anderen übernommen hatten, zurücklassen und die eigene innere Autorität wiedergewinnen. Sie mußten auf die Stimme in ihrem Innern lauschen, die sie auf dieser Suche nach den wahren Gedanken, Gefühlen und Bedürfnissen leitete und stützte. Sie stellten dabei fest, daß sie die Erwartung eines geradlinigen Fortschritts aufgeben, den Verstand außer Kraft setzen und sich der Macht ihrer Emotionen und Intuitionen anvertrauen mußten.
Durch die Beschäftigung mit Mythen, Märchen und alten Legenden lernten sie die Sprache der Metapher, eine Sprache, die sie für das Verständnis und das Akzeptieren der inneren Wahrheit brauchten, um die eigene mythische Realität zu finden und die tiefe Weisheit ihrer eigenen Geschichte zu...