2. Satz:
Andante – Die erneute Weltkarriere
Von der Vision zur Realität
Statt sich nun mit aller Kraft seiner Vision widmen zu können, musste David andere Anforderungen erfüllen. Da sein Lebensunterhalt immer noch nicht ganz gesichert war, nahm David auch nach seiner Abschlussprüfung Engagements nach altem Muster an. 2004 gab er erneut klassische Konzerte in Europa. Er spielte mit dem britischen Royal Philharmonic Orchestra unter Leonard Slatkin das Violinkonzert von Tschaikowsky und gab ein Gastspiel beim Saarländischen Staatsorchester, bei dem unter dem Dirigenten Jiří Kout das Violinkonzert D-Dur op. 77 von Brahms aufgeführt wurde. Diese Auftritte waren zwar ehren- und achtenswert, brachten David seinem Crossover-Projekt jedoch nicht näher.
Ganz im Gegenteil schien David nach den Jahren, in denen er zumindest auf persönlicher Ebene so viele Fortschritte gemacht hatte, nun wieder festzustecken. Den Bonus als Wunderkind hatte er längst verloren. Man respektierte ihn als überaus fähigen Geiger, ein roter Teppich wurde für ihn jedoch keineswegs ausgerollt – schon gar nicht, wenn er über seine Pläne sprechen wollte.
Auch sein an einem der renommiertesten Konservatorien der Welt erworbener Studienabschluss führte nicht dazu, dass man ihn machen ließ, was er wollte. Die konservative Haltung im klassischen Musikbetrieb äußerte sich nicht allein dadurch, dass man sich an uralte Regeln hielt, sondern auch in der Weigerung, neue musikalische Wege zu beschreiten. Den Verantwortlichen war der Gedanke völlig fremd, Mozart mit Metallica oder Brahms mit den Beatles zu verbinden.
Ob Konzertveranstalter oder Plattenfirma – wo auch immer David Garrett sein mittlerweile ausgefeiltes Crossover-Konzept vorstellte, stieß er auf taube Ohren. Nicht nur, dass die Idee nicht auf Begeisterung stieß, sie wurde als vollkommener Irrsinn klassifiziert. Eine wie auch immer geartete Umsetzung schloss man völlig aus. Es war, als hätten die Musikmanager seit Jahren ihre Büros nicht mehr verlassen: Während sie bei Davids Präsentationen seines Projekts nur die Köpfe schüttelten, tourte die »Night of the Proms« weiter in jährlich wechselnder Besetzung durch die Lande und vergrößerte ihr Publikum dabei ständig.
Niemand erkannte, dass David nicht nur einfach eine spontane Idee anpries. Er befand sich mittlerweile regelrecht auf einer Mission und glaubte so fest an sein Konzept, dass er sich von den unzähligen Absagen nicht beirren ließ. Wenn ihm ein Plattenlabel prophezeite, er würde von seinem seltsamen Crossover-Album nicht mehr als fünf Exemplare verkaufen, stellte David sein Projekt einfach dem nächsten Unternehmen vor.
Diese Zeit erforderte von David viel Energie. Er lebte in New York, brach aber, wenn er gebucht wurde, immer wieder zu rein klassischen Konzerten auf. Zusätzlich setzte er alle Überzeugungskraft ein, um bei Veranstaltern und Plattenfirmen die Entscheidungsträger auf seine Seite zu ziehen – um immer wieder das gleiche negative Ergebnis zu erzielen.
Eines Tages trat dann doch die unerwartete Wendung ein: David erhielt von dem britischen Plattenlabel Decca Records die Zusage, das geplante Crossover-Album aufzunehmen. Diese Kooperationsbereitschaft war vermutlich auch auf zurückliegende Kontakte zurückzuführen. Das Unternehmen besaß eine lange Tradition und hatte seit seiner Gründung im Jahr 1934 neben zahllosen Klassikproduktionen zum Beispiel Alben von den Rolling Stones oder Tom Jones veröffentlicht. Der einstige Glanz schwand jedoch, nachdem 1970 die Rolling Stones das Label verließen und andere Künstler ihnen folgten. Nach dem Tod des Firmengründers wurde das Unternehmen 1980 an PolyGram verkauft – das wiederum stellte einen Zusammenschluss der Label Philips Phonographische Industrie und Deutsche Grammophon Gesellschaft dar.
Deutsche Grammophon? Da war doch etwas. Tatsächlich kehrte David über Decca im Grunde in den Schoß seiner einstigen Plattenfirma zurück. Decca Records wurde nach der Übernahme neben Philips Classics und Deutsche Grammophon zum dritten Klassiklabel PolyGrams.
Endlich also schien David seine Idee Wirklichkeit werden lassen zu können, um der Welt zu zeigen, dass Crossover mehr war als ein Hirngespinst. Er machte sich mit der von ihm gewohnten Hartnäckigkeit und Ausdauer an die Aufnahmen, spielte die Stücke virtuos und hoch motiviert ein. Belohnt wurde seine Arbeit nicht. Tatsächlich war das Management doch nicht so von seinen Plänen überzeugt, wie David angenommen hatte. Zwar ließ man ihn das Album komplett einspielen, erklärte ihm jedoch anschließend, dass man nicht an den Erfolg des Konzeptes glaube und keine Absicht habe, die CD zu veröffentlichen. Davids großes Werk, sein geplanter Anstoß für den Beginn einer zweiten und ihm sehr am Herzen liegenden Karriere verschwand in den Schubladen.
Eben noch jubelnd und erleichtert, folgte nun wieder tiefe Niedergeschlagenheit. David hatte zwar bekommen, was er wollte, doch andere Menschen würden Davids neue Musik nicht zu hören bekommen. Also kehrte er zurück in seinen Alltag und nahm zum Broterwerb erneut rein klassische Engagements an, die ihn mal nach Italien, mal nach Südamerika oder Asien führten.
David empfand dieses Umfeld nun in besonderem Maße als Rückschritt und als Symbol des Scheiterns seines Crossover-Projekts mit Decca Records. Fast schon trotzig spielte er zum Ausgleich seine neue Musikauswahl im Rahmen kleinerer Auftritte.
Während David glaubte, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden, nahm das Publikum bei diesen Konzerten sehr wohl wahr, dass sich etwas verändert hatte. War David früher einzigartig, weil er als Wunderkind vermarktet wurde, so hob er sich jetzt von anderen Künstlern ab, weil er zu einer Persönlichkeit gereift war. Die Zuhörer empfanden ein David-Garrett-Konzert als besonderes Ereignis. Unerwartet stieg die Zahl der Konzertanfragen, David trat wieder häufiger auf und er wurde auch wieder gefeiert. Dann geschah das, was David sich so lange erhofft hatte: Ein in Berlin ansässiger Konzertveranstalter glaubte an ihn und nahm ihn unter Vertrag.
Neustart im Eiltempo
Die DEAG Deutsche Entertainment AG machte schnell klar, welchen Stellenwert sie dem Projekt David Garretts beimaß. Man wollte keinen kleinen Achtungserfolg erzielen, sondern plante Großes mit dem Künstler. Wie David selbst hatte das Unternehmen erkannt, dass sich Klassik für ein breit gefächertes Publikum eignete – wenn die musikalische Mischung stimmte und der Künstler bereit war, sich entsprechend vermarkten zu lassen.
Einer der ersten Schritte der Zusammenarbeit bestand darin, dass der Konzertveranstalter David einen Exklusivvertrag bei einer Plattenfirma vermittelte. Die Auswahl des Labels erfolgte mit Kalkül: Mit Decca Records wurde die Firma verpflichtet, die David nach der Aufnahme seines Crossover-Albums rücksichtslos hatte abblitzen lassen. Jetzt erlaubte der Vertrag mit dem Label den Zugriff auf das bereits eingespielte Material. Das noch namenlose Werk wurde aus dem Archiv geholt und sollte tatsächlich veröffentlicht werden. Nichts anderes hatte David gewollt.
Das Album erschien im März 2007 unter dem Titel free – ein Begriff, der David viel bedeutete und der für die erste CD seiner zweiten Karriere passend gewählt war: David war endlich frei, er hatte sich nicht nur von der Vergangenheit gelöst, sondern auch von den mit der klassischen Musik verbundenen Zwängen. Endlich konnte die Welt hören, was David sich unter Crossover vorstellte.
Der erste Titel des Albums war das 1970 von dem italienischen Komponisten Ennio Morricone für den gleichnamigen Spielfilm mit Romy Schneider geschaffene zeitlos schöne Lied La Califfa. Darauf folgten die von Georges Bizet im 19. Jahrhundert komponierte Carmen Fantasie und die kraftvolle Ballade Nothing Else Matters von der Heavy-Metal-Band Metallica. Allein diese drei Titel verdeutlichten, wie weit David Garretts Konzept des Crossover reichte und wie perfekt diese Symbiose der Stilrichtungen funktionierte. Insgesamt befinden sich auf dem Album elf Stücke, darunter auch drei Eigenkompositionen von David Garrett.
Free wurde in verschiedenen Ländern veröffentlicht, allerdings nicht in Deutschland. Das Album erzielte keinen großen Erfolg, es erreichte nie die vorderen Plätze der Charts. Dennoch erfüllte es seinen Zweck, denn im Grunde war diese Erstveröffentlichung als Fingerübung zu bezeichnen, die den Weg zur weiteren Vermarktung des Musikers ebnen sollte. Das CD-Cover war in den einzelnen Ländern unterschiedlich gestaltet, aber immer wurden das Gesicht des Künstlers und die mittlerweile sehr langen Haare des gut aussehenden Musikers in den Mittelpunkt gestellt. Es schien, als wolle man testen, in welcher Form das Image des rebellischen Geigers am besten angenommen wurde.
In der Zwischenzeit bereitete die DEAG mit und für David Garrett den Start auf dem deutschen Markt vor. Der Testballon free bewies, dass das Konzept funktionierte, jedoch noch ein wenig Feinschliff erforderte. Für die nächste Aufnahme ließ man die Abfolge der Titel unverändert, überarbeitete aber einzelne Teile.
Im November 2007 erschien die CD unter dem Titel Virtuoso auch in Deutschland. Das Cover zeigte David, der unter dem Sakko ein weit geöffnetes weißes Hemd trug, das den Blick freigab auf die Brust und die Schmuckstücke, die David gewählt hatte, darunter ein silbernes Kreuz. Mit leicht geneigtem Kopf schien David die Zuschauer anzublicken.
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