Die geschichtliche Entwicklung des Kirchenaustritts1
René Löffler
1. Staatliche Regelungen zur Kirchenmitgliedschaft in einem konfessionell gemischten Land
Im Mittelalter bildeten Staat und Religion eine Einheit. Eine Loslösung von der einen Kirche war auch aus staatlicher Sicht nicht erlaubt. Mit der Reformation endete die konfessionelle Einheit, was auch eine neue staatskirchenrechtliche Situation im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und darüber hinaus mit sich brachte. Das Zusammenleben der katholischen und protestantischen Konfession wurde zunächst im Augsburger Religionsfrieden von 1555 geregelt. Danach hatten die Reichsstände das Recht, zwischen den Konfessionen zu wählen. Nach dem Grundsatz „cuius regio – eius religio“ mussten die Untertanen der vom Landesherrn gewählten Religion folgen oder auswandern. Der evangelischen Forderung nach einer freien Wahl des Bekenntnisses wurde nicht entsprochen. Dies blieb im Westfälischen Frieden von 1648 nahezu unverändert. Aufgrund der Kräfteverschiebung durch den Dreißigjährigen Krieg mussten die Rechte der Konfessionen jedoch spezifiziert werden. Den Angehörigen der je anderen Konfession wurde die öffentliche Religionsausübung für die Zukunft in dem Maße garantiert, wie sie im fixierten Vorkriegsjahr – dem Normaljahr 1624 – praktiziert wurde. Ein Übertritt zu einer anderen Konfession war möglich, so sie im Land erlaubt ausgeübt werden konnte. Staatskirchentum und Staatskirchenhoheit blieben jedoch das beherrschende System.
In Folge der Aufklärungsbewegung mit ihren religionskritischen Einflüssen kam es auch zu einer zunehmenden Differenzierung des christlichen Milieus. Friedrich Wilhelm II. sah durch Aufklärung und Freidenkertum die drei Hauptkonfessionen Reformierte, Lutherische und Römisch-Katholische gefährdet und beabsichtigte mit dem Woellnerischen Religionsedikt vom 25. 07. 1788 deren Stabilisierung. Das im Augsburger Religionsfrieden und im Westfälischen Frieden festgeschriebene geschützte Verhältnis der drei Hauptkonfessionen wurde bestätigt, andere Religionsgemeinschaften („geduldete Sekten“) toleriert. Ein Konfessionswechsel war nun bei den staatlichen Behörden zu melden. Religionsfreiheit im eigentlichen Sinn räumte das Woellnerische Religionsedikt nicht ein, war doch nur ein Wechsel zwischen den vorgegebenen Religionsgemeinschaften gegeben, nicht aber die Möglichkeit, keiner Religion anzugehören.
Nach wenigen Jahren wurde das Woellnerische Religionsedikt wieder außer Kraft gesetzt, da mit dem „Allgemeinen Preußischen Landrecht“ von 1794 neue Regelungen getroffen wurden. Dieses sicherte jedem Einwohner Preußens die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit und damit auch die freie Wahl einer Religion zu. Wer das 14. Lebensjahr vollendet hatte, konnte unter den bestehenden Religionen frei wählen. Eine Konfessionslosigkeit war im Allgemeinen Landrecht nicht vorgesehen. Vielmehr musste jeder Bürger nach dem Willen des Staates einer Kirche angehören, hatten die Kirchen, vor allem die protestantischen, doch den Auftrag, ihre Mitglieder zum Gehorsam gegenüber den Gesetzen, zur Treue gegenüber dem Staat und zu sittlich guter Gesinnung gegenüber ihren Mitbürgern zu erziehen. Neue religiöse Gesellschaften durften nur mit staatlicher Genehmigung gebildet werden und der Staat beanspruchte die Oberaufsicht über die Kirchen. Die Pfarrer der drei anerkannten Kirchen wurden zur Personenstandsführung verpflichtet, indem sie Kirchenbücher zu führen und eine überprüfte Abschrift beim Amtsgericht des Wohnsitzes zur Aufbewahrung abzugeben hatten. Auch die Angehörigen der nur geduldeten Religionsgemeinschaften waren hierin aufzunehmen. Auf diese Weise erhielten die Kirchenbücher den Charakter staatlicher Register.
Das Allgemeine Preußische Landrecht war nur ein Schritt in Richtung Religionsfreiheit, eine Trennung von Kirche und Staat noch nicht vollzogen. Ein Kirchenaustritt mit der Folge der Religionslosigkeit war noch nicht denkbar.
Nach 1789 wurde auch in Preußen die Forderung nach einer Trennung von Staat und Kirche erhoben, gipfelnd in der Revolution von 1848. Um ein friedliches Zusammenleben der Religionen zu gewährleisten, erließ Friedrich Wilhelm IV. das Religionspatent vom 30. 03. 1847, nach dem unter Bezugnahme auf das Allgemeine Landrecht die freie Wahl des Glaubens und des Bekenntnisses, religiöse Vereinigungsfreiheit und die Möglichkeit eines Austritts ohne Verlust der bürgerlichen Rechte zugesagt wurde. Die religiösen Gemeinschaften bedurften der Anerkennung durch den Staat. Nur die drei großen Bekenntnisse erhielten einen öffentlich rechtlichen Status. Ergänzt wurde das Religionspatent durch die „Verordnung betreffend die Geburten, Heirathen und Sterbefälle vom 30. 03. 1847“. Während die Aus- bzw. Übertrittsmöglichkeit des staatlichen Rechts schon immer gegen das Selbstverständnis der katholischen Kirche verstießen und sie die Verpflichtung zur Personenstandsführung für Nichtkatholiken widerwillig umsetzte, stellte sich durch die Abspaltungen der Freikirchen nun auch für die evangelischen Kirchen die Frage nach einer Fortführung der bisherigen Praxis. Während in anderen Ländern dies zunächst erhalten blieb, entschärfte der preußische Staat dieses Konfliktpotential, indem der Austritt aus einer anerkannten Kirche nur noch durch eine persönliche Erklärung vor dem Ortsrichter erfolgen konnte. Damit war jedoch kein allgemeines Austrittsrecht beabsichtigt. Vielmehr ging die Verordnung von 1847 davon aus, dass der Ausgetretene sich wieder an eine neue Konfession bindet. Der Grundsatz der negativen Religionsfreiheit fehlte auch in dieser Verordnung. Die preußischen Untertanen sollten einer Religionsgemeinschaft angehören, das (Staats-)Kirchentum seine ihm zugedachte staatstragende Rolle behalten.
Obwohl vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt, gab es dennoch schon Mitte des 19. Jahrhunderts einzelne Fälle des Kirchenaustritts ohne einen anschließenden Übertritt zu einer anderen Religionsgemeinschaft. In diesen Fällen blieb aber der Kirchenzwang erhalten, da der Ausgetretene weder von den Personalzehnten noch von anderen Pflichten der Kirchenmitgliedschaft einschließlich des Religionsunterrichts für die Kinder entbunden wurde. Diese Praxis wurde durch die Rechtsprechung bestätigt, da Spezialgesetze wie das Allgemeine Landrecht oder die Verordnung von 1847 Vorrang vor der Preußischen Verfassung von 1850 hatten, welche die Trennung von Kirche und Staat sowie die individuelle und negative Religionsfreiheit beinhaltete.
2. Das „Preußische Gesetz, betreffend den Austritt aus der Kirche vom 14. April 1873“
Dieser Zwiespalt zwischen der neuen Preußischen Verfassung und dem Allgemeinen Landrecht bzw. der Verordnung von 1847 sowie Unterschiede in der Rechtsprechung, unterschiedliche Circular-Reskripte der Regierung, keine einheitliche steuerrechtliche Regelung im Staatsgebiet sowie zahlreiche Petitionen und Beschwerden von Dissidenten verlangten nach einer Lösung, die 1873 durch das „Preußische Gesetz, betreffend den Austritt aus der Kirche“ herbeigeführt wurde. Der gerade tobende „Kulturkampf“ war somit nicht die Ursache dieses Gesetzes.
Im Unterschied zu den vorherigen Regelungen handelte es sich nun tatsächlich um ein Kirchenaustrittsgesetz, das nur für mit Korporationsrechten ausgestattete Religionsgemeinschaften galt. Für den Übertritt zwischen solchen Religionsgemeinschaften blieben das Allgemeine Landrecht und das Religionspatent von 1847 in Geltung. Ein Austritt aus einer Religionsgemeinschaft ohne Korporationsrechte richtete sich nach dem Gesellschafts- oder Vereinsrecht.
Der Kirchenaustritt mit bürgerlicher Wirkung erfolgte durch die persönliche Erklärung des Austretenden vor dem Ortsrichter. Nach vier bis sechs Wochen musste die Austrittserklärung noch einmal vor dem Ortsrichter wiederholt werden („Karenzzeit“). Inzwischen informierte der Richter den Vorstand der zuständigen Kirchengemeinde, damit der zuständige Geistliche während dieser Zeit auf den Austrittswilligen zwecks Änderung seines Entschlusses einwirken konnte. Dem Ausgetretenen war, so gewünscht, eine Austrittsbescheinigung auszustellen.
Mit seinem Austritt entledigte man sich der bürgerlichen Wirkungen seiner Kirchenmitgliedschaft, insbesondere der finanziellen Verpflichtungen zum Ende des auf die Kirchenaustrittserklärung folgenden Kalenderjahres. Nicht betroffen war jedoch die Verpflichtung der Kinder zum Besuch des Religionsunterrichts, da das preußische Staatskirchenrecht keine konfessionslose Erziehung der Kinder kannte. Negative Auswirkungen hatte der Austritt auf das elterliche Erziehungsrecht der Kinder, die aktive und passive Wahlfähigkeit etwa bei Schulvorstandswahlen sowie den Erwerb von Stipendien, Armenstiftungen, Vermächtnissen, die häufig von der Konfessionszugehörigkeit abhängig waren. Über einen Verlust der innerkirchlichen Mitgliedschaftsrechte konnte und wollte der staatliche Gesetzgeber keine Regelung treffen. Es handelte sich im Gesetz ausdrücklich um einen „Austritt aus der Kirche mit bürgerlicher Wirkung“.
Die katholischen Bischöfe lehnten eine Mitwirkung am Vollzug des Gesetzes von 1873 ab, da sie hierin eine Verletzung der kirchlichen Rechte sahen. Infolgedessen missachtete der Klerus gezielt das Gesetz. Aufgrund des dem Kirchenaustritt zugrunde liegenden Gedankens der Religions- und Gewissensfreiheit waren sie sogar durch den Papst zum Widerstand verpflichtet, denn dieser wurde von Pius IX. in seiner Enzyklika „Quanta cura“ vom 08. 12. 1864 als Irrtum und verderblich für das Seelenheil abgelehnt und im der Enzyklika folgenden Syllabus verurteilt. In seiner „Enzyklika an die...