Ziel dieses Kapitels ist es, darzustellen, wie sich bei den Schülern die Entwicklung des geometrischen Denk- und Vorstellungsvermögens vollzieht. Dazu werde ich exemplarisch einige zentrale Theorien vorstellen sowie praktische Konsequenzen für den Unterricht in meiner Lerngruppe aufzeigen.
Jean Piaget stellte eine umfassende Erkenntnistheorie zur Entwicklung des räumlichen Denkens auf. Für das Verständnis geometrischen Lernens bilden seine Untersuchungsergebnisse bis heute die bedeutendsten Erkenntnisgrundlagen. "Für Piaget kann die Entwicklung geometrischer Begriffe nicht durch ein Ablesen von Eigenschaften erfolgen, sondern nur über Handlungserfahrungen an Materialien oder im realen Raum."[7]
Piaget hatte eine aktivistische Grundvorstellung vom Lernen. Darauf basierend entwickelte er die Äquilibrationstheorie. Sie geht davon aus, dass das Individuum in einer Umwelt lebt, die Zwänge und Kräfte ausübt und sich ständig verändert. Dadurch ist das Individuum zur Auseinandersetzung mit der Umwelt gezwungen. Für diese Auseinandersetzung baut das Individuum so genannte Schemata auf. Nach Wittmann (1987) ist ein Schema ein "Operations-, Denk- oder Erklärungsmuster, das in die kognitive Gesamtorganisation des Individuums integriert ist und die Aktivitäten des Individuums steuert."[8]
Das Individuum ist nach Meinung Piagets immer bestrebt, dass zwischen Umwelt und den eigenen Erklärungsmustern ein Gleichgewicht herrscht. Ist dieser Zustand erreicht, so lebt das Individuum im Einklang mit seiner Umwelt. Sind Umwelt und Schema jedoch nicht in Einklang, so besteht das Bestreben, diesen Einklang herzustellen (Adaption). Dies kann auf zwei Arten geschehen:
1. Assimilation: Das Individuum versucht, sein Schema beizubehalten und möglichst viele Erscheinungen diesem Schema unterzuordnen.
2. Akkomodation: Das Individuum verändert die ihm zur Verfügung stehenden Schemata oder baut neue Schemata auf.
Während bei der Assimilation das Schema konstant bleibt und die Erscheinungen variieren, wird bei der Akkomodation die neue Erscheinung festgehalten, und die inneren Erklärungsmuster (Schemata) werden variiert (vgl. Lauter 1997).
Bezogen auf die Entwicklung des räumlichen Vorstellungsvermögens, erkannte Piaget, dass räumliche Beziehungen schrittweise aufgebaut werden. Das Kind empfängt diese Beziehungen nicht passiv nur aufgrund von Wahrnehmung, sondern es konstruiert diese ausgehend vom konkreten Handeln mit räumlichen Gegenständen. Nachdem das Kind etwas wahrgenommen hat, folgt ein Prozess der inneren Nachahmung, des Handelns mit Vorstellungsbildern. So erfolgt eine Abstraktion vom simplen sensomotorischen Tun zum inneren systematischen Operieren mit geometrischen Objekten auf einer höheren Stufe (vgl. 6.3.8. Reflexion der 3.Unterrichtsstunde). Entscheidend ist im Sinne Piagets eine handlungsorientierte, verinnerlichte Vorgehensweise, welche den Übergang von effektiver Handlung zu vorgestellter Handlung bewusst fördern möchte.
Piagets Theorie ist vor dem Hintergrund zur Entwicklung der Intelligenz zu sehen. Anhand seiner Beobachtungen und Interviews mit Kindern stellte er eine Stufentheorie der Intelligenzentwicklung auf. Dabei lassen sich folgende fünf aufeinander folgende Entwicklungsstufen unterscheiden (vgl. Lauter 1997):
Stufe der sensomotorischen Intelligenz (bis ca. 2 Jahre)
Stufe des symbolischen und vorbegrifflichen Denkens (ca. 2 – 4 Jahre)
Stufe des symbolisch-anschaulichen Denkens (ca. 4 – 7 Jahre)
Stufe des logisch konkreten Denkens (ca. 7 – 11 Jahre)
Stufe des formalen Denkens (ab 12 Jahre)
Die ersten drei Stufen werden auch zum präoperatorischen Stadium zusammengefasst. Stufe vier bezeichnet Piaget auch als konkret operatorisches Stadium, Stufe fünf als formal operatives Stadium.
Aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungsfortschritte der Kinder sollten die Altersangaben nur als grobe Orientierung verstanden werden. Für meine Lerngruppe sind die Stufen des symbolisch-anschaulichen Denkens, die Stufe des logisch konkreten Denkens sowie der Übergang zwischen diesen beiden Stufen von Bedeutung (vgl. 5.4. Inhaltliche Lernvoraussetzungen).
Im präoperatorischen Stadium erwirbt das Kind auf der Grundlage sensomotorischer Aktionen räumliche Schemata, die zunehmend mobiler und strukturierter werden. Am Ende dieses Stadiums zeigen sich Ansätze der Transformation. Im Alter von 7 bis 8 Jahren wird die operationale Stufe der Entwicklung des räumlichen Denkens erreicht. In dieser Phase sind die Aktionen der Kinder mobil, reversibel und in konkrete Operationen transformierbar (vgl. Radatz/ Rickmeyer 1991, S.12). "Das Kind ist jetzt zu weit mehr aktiven Manipulationen an Bildern und Objekten im räumlichen Bereich fähig. Es kann jetzt durch reversible mentale Operationen einschätzen, wie Objekte für jemanden aussehen, der einen anderen Standort einnimmt.“[9] Der Begriff Operation kann vereinfacht als verinnerlichte Handlung verstanden werden.
Die wichtigsten Eigenschaften von Operationen sind:
(1) Die Kompositionsfähigkeit, d.h. Operationen lassen sich zu ganzen Operationssystemen, so genannten Gruppierungen, zusammensetzen.
(2) Assoziativität, d.h. bei der Zusammensetzung von Operationen kommt es nicht auf die Reihenfolge an.
(3) Reversibilität, d.h. eine Operation lässt sich umkehren. Zu jeder Operation gibt es eine entgegen gesetzte Operation. Dies ist die Eigenschaft, die am leichtesten zur Identifizierung von Operationen beiträgt (vgl. 6.3.8. Reflexion der 3.Unterrichtsstunde).
Im Stadium der formalen Operation gelangt die Anschauung zu ihrer Vollendung und der Jugendliche ist fähig, mit abstrakten Räumen oder formalen Raumgesetzen umzugehen (vgl. Maier 1994).
Es gibt zahlreiche Kritiken an der Theorie Piagets. An dieser Stelle möchte ich aber nur einige wenige aufzählen und mich verstärkt auf die Erkenntnisse berufen, die ich aus seinen Ergebnissen für meine Unterrichtsplanung ziehen kann. Folgende Punkte gilt es dabei aber kritisch zu beachten (vgl. Maier 1994):
Aus heutiger Sicht sind die durchgeführten Tests nicht hinreichend empirisch abgesichert. Freudenthal (1981) macht auf die starke verbale Komponente in den Testaufgaben aufmerksam. In vielen Fällen hätten die Schüler die Fragen nicht verstanden.
Die Altersangaben sind höchstens als grobe statistische Anhaltspunkte einzuschätzen.
Die wichtigste Konsequenz ist sicher die Förderung des operativen Denkens als zentrales Ziel des Mathematikunterrichts in der Grundschule (vgl. 5.6. Didaktische Begründungen). Hier ist vor allem den konkreten Handlungen, aus denen sich erst Operationen entwickeln, Beachtung zu schenken. Eine Verinnerlichung geometrischer Begriffe muss im Grundschulalter über Handlungserfahrungen sowie den Umgang mit vielfältigen konkreten Materialien und Modellen erfolgen (vgl. Radatz/ Rickmeyer 1991, S.12). In diesem Zusammenhang wurde das so genannte operative Prinzip abgeleitet, welches die Begründung für die Verwendung von Arbeitsmaterial für die Hand des Schülers gibt. Eine weitere Folgerung ist die Beachtung reversibler Aufgabenstellungen, wo immer sie möglich sind um operatives Denken weiter ausbilden zu können (vgl. Lauter 1997, S.19).
Da das Verständnis grundlegender geometrischer Begriffe sehr früh abgeschlossen ist, erachte ich es als notwendig, dass die Schüler in der Grundschule räumliche Handlungserfahrungen sammeln können. Eine gründliche Förderung des räumlichen Vorstellungsvermögens ist Voraussetzung für die Umwelterschließung und kognitive Entwicklung des Kindes (vgl. 5.6. Didaktische Begründungen).
Aus Piagets Ergebnissen bezüglich seiner Äquilibrationstheorie folgere ich, dass sich das Lernen der Schüler dadurch aktivieren lässt, indem ich bei ihnen ein inneres Ungleichgewicht erzeuge. Piaget spricht in diesem Zusammenhang auch von einem kognitiven Konflikt. Meiner Meinung nach eignet sich das Prinzip des Entdeckenden Lernens...