2. Positionen zur Bedeutung von phonologischer
Bewusstheit für die Entstehung von LRS und
deren Prävention
2.1 Definitionen phonologischer Bewusstheit und
Unterscheidungen
In diesem Kapitel möchte ich darlegen, wie verschiedene Autoren den Begriff phonologische Bewusstheit bestimmen und welche Formen phonologischer Bewusstheit sie unterscheiden. Am Ende des Kapitels möchte ich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Bestimmungen phonologischer Bewusstheit eingehen.
Heiner Jansen und Harald Marx, die zu den Autoren des Bielefelder-Screenings gehören, fassen phonologische Bewusstheit als Teil metalinguistischer Bewusstheit auf.[65] In Anlehnung an Tunmer und Bowey bestimmen sie phonologische Bewusstheit als "Bewusstheit für lautliche Elemente unterhalb der Wortebene".[66] Metalinguistische Bewusstheit werde von den Kindern beim SSE verlangt.
"Das Kind muß, um Lesen und Rechtschreiben lernen zu können, vom Bedeutungsaspekt gesprochener Sprache Abstand nehmen und sich den lautlichen und strukturellen Aspekten der Sprache zuwenden".[67]
Die Definition von phonologischer Bewusstheit als Bewusstheit für lautliche Elemente unterhalb der Wortebene halten sie aber für nicht zufriedenstellend. Es geht ihnen um eine Unterscheidung im Begriff phonologischer Bewusstheit, die es u.a. erlaubt, zu beurteilen, wieweit phonologische Bewusstheit entwickelt ist.[68]
In Anlehnung an Morias[69] unterscheiden Jansen und Marx zu diesem Zweck zwischen phonetischer Bewusstheit, die zu lautassoziativen Leistungen befähigt und phonologischer Bewusstheit, die zu kategorialen Leistungen befähigt. Phonetische Bewusstheit zeige sich darin, dass ein Kind seine Aufmerksamkeit den phonetischen Besonderheiten eines gesprochenen Wortes zuwenden könne. Hierdurch sei es ihm möglich, lautliche Übereinstimmungen zwischen Wörtern oder Einzellauten und Wörtern zu erkennen. "Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Kinder Reimwörter erkennen oder bilden (z.B. /ku:/ - /schu:/ oder die Gleichheit von Einzellaut und Wort (/o:/ - /opa/ erkannt wird."[70] Wenn Kinder fähig seien, die lautlichen Ähnlichkeiten zwischen Wörtern oder unterhalb der Wortebene liegenden lautlichen Ereignissen zu erkennen, so sei dies kennzeichnend für verknüpfende, lautassoziative Leistungen. Diese seien aber von Segmentierungsleistungen zu unterscheiden. Verfüge ein Kind über phonologische Bewusstheit, dann könne es lautliche Einheiten[71] benennen und nutzen. In Anlehnung an Morias sprechen Jansen und Marx, wo es um Leistungen mit Phonemen geht, von Phonembewusstheit. Phonembewusstheit zeige sich in der Segmentierung von Phonemen. Davon kann nach Janssen und Marx erst dann gesprochen werden, wenn ein Kind die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten in einem Wort identifizieren und benennen kann. Für die Segmentierungsleistung auf Phonemebene müsse das zu identifizierende Phonem dem Kind als Phonem und damit als "abstrakte Analyseeinheit"[72] zur Verfügung stehen. Diese Verfügung über die kategoriale Einheit erlaube es von lautlichen Unterschieden zwischen verschiedenen Varianten desselben Phonems abzusehen und dasselbe Phonem in unterschiedlichen Phonemkontexten verschiedener Wörter zu identifizieren.[73]
Eine andere Unterscheidung im Begriff der phonologischen Bewusstheit stammt von Harald Marx und Helmut Skowronek. Sie unterscheiden zwischen phonologischer Bewusstheit im weiteren Sinne und phonologischer Bewusstheit im engeren Sinne. Unter phonologischer Bewusstheit im weiteren Sinne verstehen sie die Fähigkeit, gesprochene Sprache in Silben zu gliedern und Reime zu erkennen. Phonologische Bewusstheit im engeren Sinne zeige sich in Sprachleistungen, "bei denen explizit mit lautlichen Strukturen operiert werden muss, die weder semantische noch sprechrhytmische Bezüge aufweisen".[74] Hierzu zählen nach Marx und Skowronek Leistungen wie z.B. erkennen können, ob ein Phonem in einem Wort enthalten ist oder Phoneme zu einem Wort verbinden können.[75] Phonologische Bewusstheit im engeren Sinne schließt nach Marx und Skowronek offenbar den bewussten Umgang mit Phonemen ein.[76] Die Unterscheidung zwischen phonologischer Bewusstheit im engeren und weiteren Sinne betont die unterschiedliche Nähe von Leistungen der Synthese und Analyse auf der Ebene von Silben und Phonemen zu den im Schriftspracherwerb geforderten komplexen Analyse- und Syntheseleistungen. Begründet wird diese Unterscheidung mit der Reihenfolge ihrer Entwicklung und ihrer unterschiedlichen Nähe zum schulischen Schriftspracherwerb: Phonemanalyse und Syntheseleistungen seien bei deutschsprachigen Vorschulkindern, "die über keine Schriftspracherfahrung verfügen [...] oder nicht in besonderer Weise trainiert worden sind [...], nicht oder nur in rudimentären Ansätzen nachweisbar".[77] Vorschulkinder seien am ehesten zu Analyse- und Syntheseleistungen auf Silbenebene in der Lage, da bei solchen Aufgaben an Sprachleistungen angeknüpft werde, die "in konkreten, dem Kind vertrauten Spielhandlungen enthalten sind"[78].
Wolfgang Schneider und Petra Küspert subsumieren in ihrem Förderprogramm "Hören, lauschen, lernen" phonologische Bewusstheit unter den Begriff phonologische Informationsverarbeitung.[79] Phonologische Informationsverarbeitung bestimmt Schneider als die Fähigkeit zur "Nutzung von Informationen über die Lautstruktur bei der Auseinandersetzung mit gesprochener und geschriebener Sprache".[80] Phonologische Bewusstheit meint in diesem Zusammenhang die Fähigkeit, "die Lautstruktur der gesprochenen Sprache zu erkennen – also beispielsweise Silben, Reime oder gar Laute (Phoneme) in Wörtern herauszuhören".[81] Das Förderprogramm hat von den Bereichen der phonologischen Informationsverarbeitung nur phonologische Bewusstheit zum Inhalt.[82]
Ingrid Schmid-Barkow bestimmt phonologische Bewusstheit ausdrücklich als Teil von Sprachbewusstheit.[83] Phonologische Bewusstheit als Teil von Sprachbewusstheit[84] umfasse drei Dimensionen: Dekontextuelle Sprachauffassung, Sprachanalyse sowie Aufgaben- und Problemverständnis. Erst das Zusammenspiel dieser drei Dimensionen mache phonologische Bewusstheit zu einem Teil von Sprachbewusstheit[85], ihre getrennte Darstellung sei daher eine rein analytische.[86]
Der metasprachliche Aspekt phonologischer Bewusstheit – so Schmid-Barkow – verweise auf die dekontextuelle Sprachauffassung. Deren Bedeutung für phonologische Bewusstheit als Teil von Sprachbewusstheit bestehe darin, Wörter von ihrem Inhalts- und Erfahrungsbezug zu lösen und sie in Hinblick auf ihre lautliche Struktur zu betrachten. Sprachanalyse betrifft die Segmentierung von gesprochener Sprache in diskrete Einheiten. Die Segmentierung im Bereich der phonologischen Bewusstheit besteht im Erkennen von lautlichen Segmenten auf der Silben-, Reim- und Phonemebene[87]. Die Segmentierung von Phonemen setze die Fähigkeit zu einer bewussten und gezielten Betrachtung dieser Segmente voraus. Die Segmentation von Sprache ist nach Schmid-Barkow "kein mechanischer Vorgang, sondern setzt Einsichten in die Struktur von Sprache voraus, die im Wesentlichen durch die Schrift selbst vermittelt sind."[88]
Dass die Fähigkeit zur Segmentierung von Sprache in Phoneme von Einsichten in die Strukturen von Schriftsprache und Sprache abhängig ist, zeigt sich nach Schmid-Barkow an der dritten Komponente der phonologischen Bewusstheit, der Aufgaben- und Problembewusstheit. Erst beim Schreibenlernen werde das Kind mit der Frage konfrontiert, welche Elemente der Sprache durch die Schrift fixiert werden sollen. Das Problembewusstsein für die Segmentierung auf Phonemebene bestehe in der Einsicht des Kindes, dass Grapheme auf Phoneme verweisen und umgekehrt und dass Schriftsprache auf diese Weise funktioniere. Aufgaben- und Problembewusstheit könne die Entwicklung befördern oder bei ihrem Fehlen auch beeinträchtigen, denn es sei unwahrscheinlich,
"dass Kinder zweckfrei Phoneme analysieren lernen wollen. Kinder brauchen ein Ziel für diese mühevolle, geistige Arbeit und dieses Ziel besteht im Erwerb der Fähigkeit, lesen und schreiben zu können".[89]
Kommentar
Jansen und Marx bestimmen die Segmentierung von Wörtern in Phoneme als kategoriale Leistung. Sie tragen damit dem Umstand Rechnung, dass die Fähigkeit zur Analyse und Synthese von Phonemen wesentlich auch sprachlich-kognitive Leistungen erforderlich macht.
"Phoneme sind definiert nach dem Kriterium der phonetischen Ähnlichkeit und der bedeutungsunterscheidenden Funktion. Sie sind abstrakte Einheiten der Sprachstruktur und als solche im konkreten lautlichen...