1. Einleitung und Quellenlage
Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war der Beginn eines Krieges von noch nie gekanntem Ausmaß. Sämtliche völkerrechtlichen Regeln für den Krieg wurden von der Wehrmacht außer Acht gelassen. Die deutschen Absichten waren jedoch von vornherein gekennzeichnet durch größte Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Militär des Gegners und seiner Zivilbevölkerung. Eine Reihe von Erlassen und Anordnungen, die vor Kriegsausbruch ergingen, belegen die deutsche Haltung im „Fall Barbarossa“: Der Gegner sollte nicht nur aus dem Felde geschlagen, sondern physisch vernichtet werden.
Hieraus ergab sich eine gänzlich neue Qualität der Kriegführung, die vom Obersten Befehlshaber bis hinunter zum einfachen Soldaten größtmögliche Akzeptanz der Vernichtungspläne voraussetzte. Willige Helfer fanden sich jedoch sowohl im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), als auch in untergeordneten Kommandoebenen. Bereitwillig wurden Pläne erarbeitet und schließlich auf grausame Art und Weise in die Tat umgesetzt. Leidtragende waren in erster Linie die sowjetischen Kriegsgefangenen und die sowjetische Zivilbevölkerung.
Die systematische Vernichtung von mindestens zwei Millionen sowjetischer Kriegsgefangener durch Wehrmachtsteile stand jedoch lange Zeit im Schatten der Vernichtung der europäischen Juden, sie stellt einen „vergessenen Holocaust“ dar.[1] Die Masse der Gefangenen starb an Unterversorgung oder an Krankheiten aufgrund der katastrophalen Lebensverhältnisse in den Lagern, zudem wurden etwa 600.000 Gefangene im Zuge der Aussonderungsmaßnahmen von Sonderkommandos der Sicherheitspolizei (Sipo) und des Sicherheitsdienstes (SD) erschossen.[2]
Laut Alexander Dallin gerieten im Jahr 1941 3.355.000 Rotarmisten in deutsche Kriegsgefangenschaft, im Jahr 1942 waren es 1.653.000 und im Jahr 1943 wurden 565.000 Soldaten der Roten Armee gefangengenommen. Annähernd die Hälfte aller Gefangenen überlebte ihre Gefangenschaft nicht.[3] Erschreckend ist, daß im Bereich des Oberkommandos des Heeres (OKH-Bereich), also im frontnahen Gebiet, von rund zwei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen 845.000 in den Lagern starben, 535.000 wurden ins Zivilleben oder für den Militärdienst entlassen. „Sonstige Abgänge“ (z.B. Fluchten, Abgaben an SD, an Luftwaffe) sind mit 495.000 Soldaten der Roten Armee beziffert[4], so daß schließlich mit Stand vom 1. Mai 1944 nur 175.000 Überlebende registriert, von denen 151.000 als Arbeiter eingesetzt wurden.
Obwohl Alexander Dallin bereits 1958 erstmals eine umfangreiche Untersuchung über die deutsche Besatzungspolitik in der Sowjetunion vorgelegt hatte, wurde das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in den Folgejahren nur marginal behandelt.[5] Erst Szymon Datner hat 1964 schließlich die Verantwortung der Wehrmacht für das Massensterben der Gefangenen deutlicher herausgearbeitet und auch die Morde an sowjetischen Kommissaren untersucht.[6]
Zwischen 1968 und 1981 erschien schließlich eine Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, die die Gerichtsprozesse zwischen 1945 und 1966 zum Gegenstand hatte.[7] Es wurden jedoch hauptsächlich Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen in Lagern auf deutschem Gebiet sowie dem Generalgouvernement verhandelt. Das lag an der zunächst eingeschränkten Zuständigkeit der deutschen Gerichte, die begangene Verbrechen im Ausland weitgehend ausschloß. In der Sammlung ist daher nur ein Fall zu finden, der sich mit Wehrmachtsverbrechen in einem Kriegsgefangenenlager auf sowjetischem Gebiet befaßt.[8] Allerdings blieb die Urteilssammlung eher unbeachtet.
Der Historiker Christian Streit hat 1978 erstmals eine detaillierte Untersuchung über die allgemeine Behandlung und Ernährung der sowjetischen Kriegsgefangenen in Lagern des Reichsgebietes, des Generalgouvernements und der Sowjetunion sowie die Beteiligung der Wehrmacht an der Durchführung des „Kommissarbefehls“ auf der Grundlage von Dokumenten aus dem Bundesarchiv-Militärarchiv vorgestellt.[9] Anders der Jurist Alfred Streim 1981, der hauptsächlich Material aus der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Ludwigsburg verwandt hat. Streim akzentuierte die Tätigkeit der Einsatzgruppen und hat die Wehrmacht als aktiven Part im Vernichtungskrieg gegen die Kriegsgefangenen nicht beachtet. Das drückt sich auch in der Tatsache aus, daß er die Durchführung des „Kommissarbefehls“ seitens der Wehrmacht weitgehend negierte.[10]
Zwar hat Christian Gerlach jüngst eine sehr umfangreiche, fundamentale Studie über die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944 vorgestellt, in der er auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern auf weißrussischem Gebiet beschrieb.[11] Jedoch stellt Christian Streits Untersuchung von 1978 bis heute die fundamentale Studie über das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand dar.
Mittlerweile liegen vermehrt auch regionalgeschichtliche Darstellungen zum Thema Kriegsgefangenen- und Arbeitslager im Reichsgebiet vor, zu den einzelnen Kriegsgefangenenlager in der Sowjetunion ist bislang jedoch wenig veröffentlicht worden, eingehende Untersuchungen des Lageralltags und die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen stehen noch immer aus.[12]
Dabei wäre es interessant zu erfahren, wie z.B. die Lagerkommandanten und das Lager-, bzw. Wachpersonal mit den Befehlen hinsichtlich der sowjetischen Kriegsgefangenen umgegangen sind, was die Motive der Täter waren. Bis auf ein kürzlich aufgefundenes Tagebuch eines Lagerkommandanten ist über deren Handlungsweise so gut wie nichts bekannt geworden, die Darstellung aus der Sicht der Täter fehlt fast gänzlich.[13] Man versteifte sich auf Untersuchungen über die höheren Kommandostäbe, die weit weg von jeglichem Lager die Befehle und Richtlinien ausgearbeitet hatten.
Leider haben viele Historiker bislang die sog. „NS-Prozesse“ außer Acht gelassen, bis dato wurde die Ergiebigkeit dieser Prozesse als historische Quelle nicht beachtet. Sicherlich sind die reinen Gerichtsurteile von eher untergeordnetem Wert, aber gerade die Zeugen- und Täteraussagen sowie die Recherche der Staatsanwaltschaften bieten dem Historiker zusätzliches, aber auch wertvolles Material, um die damalige Situation rekonstruieren und bewerten zu können. Bisher waren es hauptsächlich Juristen wie Alfred Streim, Adalbert Rückerl[14] oder Herbert Jäger[15], die Material aus der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Ludwigsburg bearbeitet und veröffentlicht haben. Erst in jüngster Zeit befassen sich auch Historiker vermehrt mit Prozeßmaterialien aus NS-Prozessen, zu nennen wären hier Christopher Browning[16] und Daniel Goldhagen[17], die sich aber mit den Reserve-Polizeibataillonen, also keinen Wehrmachtsangehörigen, auseinandergesetzt haben.
1.1 Strafprozeßakten als historische Quelle
Im Kellerarchiv der Staatsanwaltschaft Hannover lagen bis vor kurzem versteckt in einer Ecke eines großen, mehrere Fächer umfassenden Holzregals die Akten eines NS-Strafprozesses aus dem Jahr 1968.[18] Die Prozeßakten, das sind 14 Bände von eher geringem Umfange und daher recht unscheinbar, bestehen lediglich aus etwa 2.500 Blättern über die Ermittlungen und die Protokolle des Prozesses, der für die Angeklagten mit einem Freispruch geendet hatte. Womöglich wären die Pappordner längst vernichtet worden, hätten sie nicht „unsichtbar“ in der hintersten Ecke und ausgerechnet im untersten Regal des Kellers gelegen. Erst die hartnäckige Suche eines Staatsanwaltes führte schließlich zum Auffinden des Aktenbestandes, der mittlerweile ins Niedersächsische Hauptstaatsarchiv Hannover gelangt ist.[19]
Die Bände I bis XIV der „Strafsache gegen Garbe u.a. wegen Beihilfe zum Mord“ der Staatsanwaltschaft Hannover aus dem Jahr 1968 bergen für den Historiker interessantes Material. Der Angeklagte war als Kompaniechef im Landesschützenbataillon 783 mit der Bewachung des Stalag 305 in Adabasch/Ukraine beauftragt. Hier waren es Wehrmachtssoldaten, die in den Jahren 1941 bis 1944 an Einzel- und Massenerschießungen von sowjetischen Kriegsgefangenen, aber auch von Zivilisten, beteiligt waren. So bieten die Prozeßakten anhand detaillierter Zeugen- und Täteraussagen die Möglichkeit einer relativ genauen Rekonstruktion der damaligen Situation im Stalag 305. Daraus ergaben sich folgende Fragen: Wie war die Organisation des Kriegsgefangenenwesens in der Ukraine aufgebaut? Welche Anweisungen über die Behandlung von Kriegsgefangenen hatten die Soldaten des Stalag 305 und des Landesschützenbataillons 783? Wie und von wem wurden Juden und Kommissare erkannt und ausgesondert? Erfolgte eine Zusammenarbeit mit dem SD, auf welche Art und Weise? Wer erschoß die sowjetischen Gefangenen und Juden, waren es Wehrmachtsoldaten oder SD-Leute? Wurde immer auf Befehl gehandelt oder auch willkürlich gemordet? Gab es...