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Wut, Chaos und Zerstörung. Gesellschaft und Ichbewusstsein

Gesellschaft und Ichbewusstsein

AutorFritz Frey
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl227 Seiten
ISBN9783638551717
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Fachbuch aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Philosophie - Philosophie des 20. Jahrhunderts, Note: keine, , 77 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Wo liegen die Gründe stets zunehmender Aggression und Zerstörungswut in unserer Gesellschaft? Nicht allein der politische Ausdruck dieses Phänomens durch link- oder rechtsextreme Gruppierungen wirkt beunruhigend und verunsichernd auf den Alltag zurück. Die zunehmende Gewaltbereitschaft auf Pausenhöfen und in Klassenzimmern gegenüber Gleichaltrigen oder Erwachsenen lässt längst aufhorchen. Die jungen Menschen als Indikatoren des Gesundheits- oder Krankheitszustandes unserer Gesellschaft reagieren am schnellsten auf Störungen im zwischenmenschlichen oder staatlich-sozialen Bereich. Das Phänomen zeigt sich ebenso in den Fussballstadien und in den Discotheken. Durch wirklichkeitsfremde, aus Statistiken und Prognosen erzeugte soziologische Konstrukte, durch welche die Gesellschaftsstrukturen verändert und der Zeit angepasst werden sollen, lässt sich das Bedürfnis der Kinder und Jugendlichen nach echter, wirklichkeitsgemässer (eben nicht konstruierter!) Begegnung nicht erfüllen. Repression und Prävention auf der Grundlage wirklichkeitsferner Konstrukte haben keine Wirkung. Die jungen Menschen empfinden sich nicht als die psychischen Konstrukte, als welche ihr Ich-Bewusstsein wissenschaftsgegeben bezeichnet wird, sondern als reale Wirklichkeiten, welche wahrgenommen und ernst genommen werden wollen. In diesem Buch wird das gesellschaftliche Denken, das zur gegenwärtigen Situation geführt hat gründlich analysiert. In der Analyse kommt der Autor zum Schluss, dass einerseits wirklichkeitsfernes Denken letztlich zu Repression führt, ebenso wie zusammenhangloses Denken zur Unverbindlichkeit zwischen den Menschen führen muss. Beide Denkweisen der Erwachsenenwelt finden keinen Zugang zu den jungen Menschen. Ein Umdenken, das die Wirklichkeit des Menschen und der Welt erfassen kann tut not. Denn durch ein solches Denken ist jeder Mensch erreichbar, es ist geradezu eine Grundvoraussetzung zu einer gesunden Entwicklung. Der Weg dahin ist im Buch dargestellt. Ebenso werden die Gründe ausgeführt, warum sich die postmoderne Gesellschaft mit Händen und Füssen gegen ein solches Umdenken wehrt.

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Leseprobe

2 Das Opfer


 

Ausgehend von der Darstellung (s.: Horkheimer/Adorno, 1.2.1) der Wand­lung des Opfers vom Menschenopfer letztlich zum Warentausch, stellten wir fest, dass das Be­wusstsein des Menschen gemäß deren Ansicht durch den Tausch konstituiert wird. Darin findet der Produzierende seine Iden­tität. Was ist aber das im Tausch fließende Opfer? Es sind die Lebens­kräfte des Menschen. Er steckt die seiner physischen Organisation zu Grunde liegenden Kräfte in den Arbeitsprozess, indem er produziert. Jeden Tag lassen viele Men­schen gar ihr Leben im Pro­duktionsprozess. Das Opfer der Hingabe von Lebenssubstanz durch die Pro­du­zierenden wird durch den Arbeitslohn in dem Sinne legitimiert, dass der eine Mensch mit dem anderen sein Leben fristen und sich fortpflanzen und somit der Pro­duktionsprozess aufrechterhalten werden kann. Es geht aber darüber hinaus. Wenn einzig ein mehr oder weniger großer Teil der Lebensenergie in die Produk­tion hineingeopfert würde, wären die Pro­duzierenden nicht mehr und nicht weniger als Tiere. Aber es werden auch Bewusstseinskräfte da hineingeopfert. Die Aussage von den Marxis­ten und Neomarxisten allerdings, dass Bewusstsein erst durch Pro­duktion entsteht (vgl.: 1.3.3), erklärt die Bewusstseinsklarheit zur Ent­schä­digung für das darge­brachte Opfer der Arbeitsleistung. Daraus ergibt sich auch das moderne Men­schenbild der Hoffnungslosigkeit eines Menschen, der auf Gedeih und Verderb in den ökonomischen Prozess eingebunden ist. Wie sich Marx und Engels die Befrei­ung von dieser gewaltigen Maschinerie vorstellten und wie diese Befreiung (als kategorischer Imperativ) gedacht wird, verfolgen wir vorerst anhand ihrer eigenen Gedanken, um dann zu sehen, wie diese von der Kritischen Theorie und der Dekonstruktion der Poststrukturalisten (insbesondere Jean Baudrillard) aufgenommen werden:

 

«[...] Welch kolossale Täuschung, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die Gesell­schaft der Industrie, der allgemeinen Konkurrenz, der frei ihre Zwecke verfolgenden Pri­vat­interessen, der Anarchie, der sich selbst entfremdeten natürlichen und geistigen Indi­vidualität – in den Menschenrechten anerkennen und sanktionieren zu müssen und zugleich die Lebensäußerungen dieser Gesellschaft hinterher an einzelnen Indivi­duen annullieren und zugleich den politischen Kopf dieser Gesellschaft in antiker Weise bilden zu wollen! […]»[54]

 

Marx und Engels sprechen ihren kategorischen Imperativ der Befreiung, der Emanzipation, des Menschen als Produzierenden an:

 

«[…] Die Wurzel für den Menschen ist der Mensch selbst. (…) Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!»[55]

 

Hartmut Krauss beschreibt, wie sich der substantielle Marxsche Freiheitsbegriff bildet. Für ihn ist der kapitalistisch bürgerliche Freiheitsbegriff, die scheinbare Willensfreiheit, bedingt durch den Besitz des Kapitals. Dies nennt Marx die negative Freiheit, welche aber die grund­legende Bedingung und Voraussetzung zur positiven Freiheit ist. Diese positive Freiheit findet in der Befreiung von der Herrschaft der Besitzen­den und des Kapitals ihren Ausdruck. Subjektiv gesehen, ist die positive Freiheit an die Erkenntnis von Handlungsmöglichkeiten gebunden. Sie findet ihren Ausdruck in der Einsicht in die Notwen­digkeit:

 

«[…] Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dieses Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse (dies auch tun, Anm. d. V.); aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihr als einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist seine Voraussetzung. […]»

 

Da nun, außerhalb des Bereiches der Notwendigkeit seine leiblichen Grund­bedürfnisse zu befriedigen, kann also, gemäß Marx, die wirkliche Freiheit begin­nen. Die Freiheit an sich ist aber durchaus an das Bewusst­sein bildende ökonomische Geschehen gebunden, das auch die Ge­schich­te der Menschen und damit ihr Freiheitsempfinden prägt. Marx entwickelt also einen sehr einge­schränkten Freiheitsbegriff. Dass dieser eine Illusion ist, kann in der Marx Rezeption durch das 20. Jahrhundert hindurch verfolgt werden. In ihr zeigt sich, dass die dem sozialistischen System zu Grunde liegende materialistische Methodologie, durch die ihr innewohnende Auffassung des Menschen als eines kulturschaf­fenden, produzie­renden Wesens, gezwungenermaßen in die Dekadenz und Banali­tät abgleiten muss.

 

Warum dies so ist, wird uns klar, wenn wir die Bedingungen zur Bewusstseinsbildung reflektieren. Marx/Engels und mit ihnen sämtliche Nachfol­ger, Rezipienten und Interpreten haben sich bis heute nicht von der dogmatischen materia­listischen Auffassung getrennt. Diese besagt, dass sich Bewusstsein von der Materie ausgehend (Atome, Moleküle, Eiweiße, Zellen, Organe, Organismus) durch die Wechselwirkung zwischen Mensch und Welt bildet. Dies sei möglich dadurch, dass Instinkt, Trieb und Begierde sich (vgl.: Freud, 1.3.3) in Form von bioche­mischer Elektrizität in die Neuronen und Synapsen des Gehirns ergießen und so den Menschen zu einem psychischen Bewusstseinsapparat gestalten sollen, der in die Umwelt eingeschaltet ist und diese im selbstorganisiert entstandenen Bewusstsein spiegelt. Was ihn vom Tier unterscheidet, ist einzig und allein die größere Kapazität seines Nervensystems, das in Wechselwirkung mit der Welt sich selbstorgani­sierend Kul­tur produziert.

 

Der Mensch wird also zu einem System, in welchem sich die Welt spiegelt und sein Bewusstsein ist ein Abbild dieser Welt. Dies ist einfach die umgekehrte Auffassung Hegels, welcher sagt, dass das Bewusstsein vom Weltengeist geprägt ist. Beide Auffassungen führen zu einem Bestimmtsein von außen und damit zur Unfreiheit des Menschen. Das eine Mal ist er es durch die Materie, das andere Mal durch den Geist.

 

Bei Kant ist es so, dass das nicht erkennbare Ding an sich durch die Emanation elektromagnetischer Wellen oder Partikel die Sinne und das Gehirn affiziert. Der Mensch bildet dann aber aus nicht erkennbaren, transzendentalen Gründen in den reentranten Wechselwirkungen des Gehirns ein Bewusstsein als Vorstellung von diesen nicht erkennbaren Dingen an sich. Diese Vorstellung von den Erscheinungen stülpt er dann der Welt über. So ergibt sich kein realer Bezug zu einer wirklichen Welt. Den Kantischen Freiheitsbegriff wollen wir später noch genauer anschauen.

 

In der Gehirnphysiologie und in der konstruktivistischsystemischen Denkweise Ende des 20. und Anfangs des 21. Jahrhunderts ergibt sich eine seltsame Kombi­nation dieser verschiedenen Denkarten. Rekapitulieren wir:

 

Hegel:  Das IchBewusstsein wird durch den Geist geprägt. Freiheit ist die absolute Identifikation des SubjektIch mit dem Weltengeist. Unsere Folgerung: Das Su­bjekt löst sich im Weltengeist auf, ist folglich alles andere als frei.

 

Marx: Die materielle Welt bildet sich im Bewusstsein des Ich ab, spiegelt sich gewissermaßen darin, indem die durch die Befriedigung der Leibesbedürfnisse entstandene Ökonomie, der Tausch, das Bewusstsein prägt. Freiheit entsteht nur dadurch, dass man sich der Herrschaftsverhältnisse entledigt und die Natur beherrscht. Dadurch aber ist die Notwendigkeit der Produktion nicht aufgehoben. Unsere Folgerung: Der Frei­heitsbegriff ist also sehr eingeschränkt und das Subjekt droht sich im Kollektiv aufzulösen durch Engels Grundsatz, dass Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit ist, sich der Besitzenden zu entledigen, die das individuelle Eigentum am Kapital zur Herrschaft über die Produzierenden benützen.

 

Durch diese Auffassungen des Menschendaseins wird das Freiheits­problem...

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