Die Vorstellungen über das Sterben, den Tod und dem, was diesem folgt, prägen den Umgang mit Sterben und Tod. Sie sind die Voraussetzung für die Form des gesellschaftlichen und individuellen Verhaltens.
Obwohl der Tod auf der ganzen Welt als universelles Phänomen betrachtet wird, existiert doch keine einheitliche Definition. Jede Gesellschaft, jedes Individuum versucht ihn mit jeweils anderen, spezifischen Begriffen faßbar zu machen, hinter denen wiederum eine bestimmte Bedeutung oder Vorstellung - auch emotionaler Art - verborgen ist. So findet sich eine Vielzahl an Bildern, Metaphern, Symbolen und Zeichen.
Häufig wird der Tod verglichen mit Schlaf, einer letzten Reise, Abschied oder Heimkehr und wird in Verbindung gebracht mit Schuld, Trieb, Einsamkeit, Isolation, Angst, Schmerz, Krankheit oder Wahnsinn. Er tritt auf als Gerippe, Spielmann, Sensenmann, apokalyptischer Reiter, Totengräber, Gevatter Hein, Schnitter Tod, Liebhaber oder Vampir und kann Jäger, Krieger, Widersacher, Erlöser und Mutter Erde im Sinn von Todesgöttin sein. Häufig trägt er eine Art Waffe mit sich wie Sense, Schaufel, Sichel, Schwert, Beil, Hacke, Keule, Speer, Lanze, Pfeil und Bogen, Messer, Stachel oder fängt die Lebenden mit Strick, Seil, Schlinge oder Netz. Der Tod naht, ereilt, stellt hinterhältig nach, erledigt, erwischt, fällt hinterrücks, wirft zu Boden oder bringt zur Strecke. Daneben kennt man den Alterstod, den Kindstod, den Massentod, den Tod durch Unfall, als Folge einer Krankheit, Mord oder Hinrichtung, den Selbstmord und das Siechtum oder auch den Heldentod. Allen liegt eine bestimmte, erhoffte respektive unerwünschte Art des Sterbens oder Todes zu Grunde. Diese Metaphern deuten auf ein ambivalentes Verhältnis zum Tod hin:
„Einerseits erscheint der Tod verlockend: als Ruhe, Geborgenheit, Schlaf; andererseits als schrecklich: als das absoulte Nichts“ (Mischke 1996: 20).
Als 'schlechter' Tod gilt bei vielen Naturvölkern sein plötzliches und unerwartetes Auftreten, das auf eine bestimmte Ursache zurückzuführen ist, wie bei den Batak in Sumatra, wo er als „ehrlos“ und als „Strafe der Götter und Ahnen für die Übertretung der Sitten“ (Mooren 1995: 20) angesehen wird. Wer einen abnormen, plötzlichen Tod stirbt, offenbart damit eine schlechte Lebensführung. Die Negativität dieses Sterbens liegt im Verständnis der traditionellen Völker im Ausschluß der Gemeinschaft aus dem Sterbeprozeß und zieht eine Änderung der Bestattungsriten nach sich. Auch in der industriellen Gesellschaft herrscht zum Teil noch die Vorstellung, daß die spezielle Art des Sterbens oder des Todes verdient ist: Ein Verbrecher soll beispielsweise qualvoll sterben. Er wurde früher aus der Gemeinschaft der Verstorbenen ausgeschlossen, indem er entweder außerhalb oder an einer abgelegenen Stelle des Friedhofes beerdigt wurde. Das plötzliche Sterben wird aber in der modernen westlichen Welt von den meisten Menschen gewünscht. Hier wird der Tod auch überwiegend als die negative Definition von Leben betrachtet.
Der natürliche, 'gute' Tod nach einem erfüllten Leben dagegen ist nicht unzeitgemäß und kündigt sich an; er läßt die Vorbereitung auf ihn zu und bietet dem Sterbenden die Möglichkeit, sich zu verabschieden. In der deutschen Vergangenheit war die priesterliche Verabreichung der Sterbesakramente eine unumgängliche Handlung des Sterbeprozesses (siehe Punkt 2.2.). Auch die Ars Moriendi-Literatur galt als hilfreich für das Erreichen eines guten Todes (siehe Punkt 1.3.). Ariès entwirft in diesem Zusammenhang das Modell des im vierzehnten Jahrhundert aufkommenden und bis ins achtzehnte Jahrhundert bekannten „schönen und erbaulichen Todes“:
„Es ist der Tod des Gerechten, der seinen physischen Tod nicht erst bedenkt, wenn er nahe ist, sondern ihn sein ganzes Leben lang bedacht hat“ (Ariès 1997: 398).
Heute ließe sich von einem akzeptablen Tod, nach einem erfüllten Leben, sprechen. In den meisten Fällen gehört zu diesem 'normalen' Tod ein ritueller oder imaginärer „Test, dem sich die verstorbene Person zu unterziehen hat und der darüber entscheidet, ob er oder sie ins Paradies oder an einen ähnlichen Platz kommt“ (Mooren 1995: 21). Dieser Test wird häufig als eine Art Befragung angenommen, ähnlich wie im christlichen Kontext das Jüngste Gericht.
Im Neuen Testament herrscht die Auffassung, der Tod sei die Folge der Gottesferne der Menschen in ihrer irdischen Existenz oder anders gesagt, „Der Tod ist der Sünde Sold“[7]. Der ungläubige Mensch ist demnach bereits tot, auch wenn er noch physisch existiert. Die Gleichsetzung des Glaubens an Christus mit einem Weiterleben im Jenseits, das heißt der Entmachtung des Todes, findet sich insbesondere im Johannesevangelium. Eine ähnliche Definition, der Tod als kosmologischer Tausch, existiert in vielen traditionellen Gesellschaften. Durch den Ritus, der in den meisten Fällen die Verbindung mit dem Ahne schaffen soll, wird eine Kontinuität der Gemeinschaft über den Tod hinaus gewährleistet. Im afrikanischen Zusammenhang bedeutet Tausch meist Austausch, womit das materielle Erbe gemeint ist.
Es soll kurz auf die Problematik eigener Tod und Tod des anderen eingegangen werden. Freud nennt sogar drei verschiedene Todesvarianten, mit denen der Mensch konfrontiert wird: den eigenen Tod, den eines geliebten Menschen und den eines Feindes. Der erste sei für das Bewußtsein inakzeptabel, der zweite mit ambivalenten Gefühlen besetzt, der dritte erwünscht[8]. Die Ursache dieses Paradoxons liegt in der Unmöglichkeit der Vorstellung eines Todes des eigenen Ichs, weil in den westlichen Industriegesellschaften die Notion eines natürlichen Todes fehlt.
Der Tod als das „notwendige Instrument der Erneuerung“, wie der moderne Hinduismus seine Bedeutung definiert[9], existiert auch als Gedanke in der christlichen Tradition, nämlich in Form des Fegefeuers, in dem die Seelen der Sünder geläutert werden, um doch noch 'in den Himmel zu kommen'.
Die Vorstellung, dass eine Seele den Körper eines Verstorbenen verläßt, kennen wir nicht nur in der christlichen Kultur, sondern auch in Indien, wo der Tod definiert wird als
„Zaubertrick, der an der Seele vorgenommen wird und der zur Folge hat, daß diese den Leib verläßt“ (Mooren 1995: 77).
Er ist also das Werk einer übernatürlichen Macht.
Die Ambivalenz des Todes wird in der Vorstellung einiger kalifornischer Indianer besonders deutlich, wo der Trickster nicht nur die Kultur verkörpert, sondern gleichzeitig als der „Bringer des Todes“ gilt[10]. In der griechischen Antike, die noch heute als geistesgeschichtliche Wurzel des Abendlandes dient, entspricht dem, der Begriff Mutter Erde, die sowohl Leben spendet als es auch nimmt.
Die Beurteilung der genannten Sterbe- beziehungsweise Todesarten ändert sich immer wieder und in den verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich. Die zugrunde liegenden Vorstellungen, die in Punkt 1.3. verglichen werden und weitere Todesdefinitionen liefern werden, sind ausschlaggebend für das Verhalten gegenüber dem Sterben und Tod, was insbesondere anhand der gestalterischen Vielfalt des Rituals deutlich wird.
Ebenso zahlreich und verschiedenartig wie die Definitionen, Begriffe, Metaphern und Bedeutungen im vorangegangenen Kapitel sind die Rituale, die im Zusammenhang mit dem Sterben und dem Tod existieren. Sie sind Ausdruck dieser Vorstellungen und gleichzeitig ein bedeutender Aspekt des Umgangs mit Sterben und Tod.
Das religiöse wie das säkulare Ritual stellt eine mögliche Form der Kommunikation zwischen der göttlichen und der menschlichen Ebene beziehungsweise zwischen dem Staat und dem Individuum dar, wobei die Übergänge zwischen religiösem, säkularen oder politischem Inhalt fließend sind[11]. In jedem Fall zeichnet sich ein Ritual durch seine standardisierte, repetitive, formalisierte, stereotype und traditionelle Form aus und findet nur bei außergewöhnlich wichtigen Anlässen statt.
Bloch und Parry sehen im Ritual “a form of social control”, ein Mittel, mit dem die Gesellschaft die Gefühle ihrer Mitglieder ordnet[12]. Ähnlich argumentiert Hocart, der darin eine Technik zur “acqusition and control of life” erkennt[13]. Als zentrale Funktion des Rituals sieht Durkheim in der Tradition der Anneé Sociologique: “the renewal of common values, a reaffirmation of communal conceptions, and a strengthening of social bonds”. Todesrituale betrachtet er aber nicht als Ursprung von Religion oder gar Gesellschaft[14]. Keesing sieht in den Ritualen um das Sterben und den Tod eine “Sequenz der Desakralisierung”, mit deren Hilfe man zur...