Die in den Audiokassetten vorhandenen Interviews wurden vollständig transkribiert und auf Datenträgern gespeichert, um den Informationsverlust möglichst gering zu halten. Dabei wurden gleichzeitig die personenbezogenen Daten anonymisiert und die Fälle mit einem vom Probanden nach dem Interview ausgesuchten Ersatznamen versehen, um eine Identifizierung auszuschließen. Zitate aus den Transkriptionen wurden in unterschiedlicher Art und Weise verwendet: „als Referenz, als Illustration, als Substitut für ein eigenes Argument oder als Quintessenz, wenn die Formulierung etwas in einer solchen Weise auf den Punkt bringt, daß sie nicht zu übertreffen ist.“ (Kudera 1995: 66)
Die nationale Herkunft des Probanden gilt als Auswahlkriterium. Der Proband oder die Interviewte mußte Student und Nachkomme türkischer Einwanderer sein. Der Interviewte erfüllt als türkischer Besucher der Konstanzer FH diese Voraussetzungen. Yavuz wurde von einem Bekannten des Interviewers vermittelt. Die erste Kontaktaufnahme zum Interview fand persönlich auf einer vom Interviewer und dem Probanden besuchten Uniparty statt, wobei er sofort einwilligte. Proband und Interviewer kennen sich, haben aber keine soziale Beziehung zueinander.
Das Interview wurde am Freitag, den 14.5.1999, im Zimmer des Probanden, in seiner WG in Petershausen/Konstanz zwischen 18 und 20 Uhr durchgeführt und mit einem Tonbandgerät aufgezeichnet. Es fand am Schreibtisch des Probanden statt, wobei beide sich gegenüber saßen. Der Proband sollte aus folgenden Gründen zu Hause befragt werden: es sollte sich der Interviewer einen Einblick in das Inventar des Jugendlichen an Besitz- bzw. Gegenständen verschaffen. Darüber hinaus wurde eine Reduktion des äußeren Zeitdrucks sowie eine Entspannung der Situation durch die vom Probanden vertraute und selbstbestimmte häusliche Umgebung angestrebt, was auch durch die Bekanntschaft beider erreicht werden sollte. Der Interviewer und der Proband waren zur Interviewzeit sowohl in dessen Zimmer als auch in der Wohnung allein, während der Mitbewohner einkaufen gegangen war. Vor dem Interview wurden dem Probanden die Absichten des Interviews vorgelesen. Danach wurde der Leitfaden beim Interview eingesetzt, wobei während des Gesprächs aufgekommene neue Fragen auch gestellt worden sind. Es wurde im Komplex ‚Zukunftsvorstellungen‘ dem Probanden ein Blatt mit Induktoren vorgelegt, den dieser zu ergänzen gehalten war. Es wurden anschließend leicht objektivierbare sozialstatistische Daten anhand eines standardisierten Fragebogens erhoben. Am Ende des Interviews wurden verschiedene weitere neu entstandene Fragen gestellt, welche vom Probanden beantwortet worden. Im Anschluß an das Interview wurden in einem Kurzprotokoll Besonderheiten und Auffälligkeiten des Interviewverlaufs festgehalten und eine Inventarliste angefertigt. Der dem flüchtig Interviewer bekannte Proband ging frei und interessiert mit dem Gespräch um. Die Gesprächsatmosphäre war entspannt und mitunter heiter und wurde durch entsprechende Bemerkungen beider gekennzeichnet, wobei aber die Seriosität der Datenerhebung nicht in frage gestellt worden ist. Fragen, deren Sinngehalt vom Probanden nicht erfaßt wurde, wurden mit dessen Rückfragen begegnet. Dies könnte ein Indiz dafür sein, daß er am Gespräch, an der korrekten Beantwortung der Fragen und am Thema interessiert war. Allerdings wurde das Interview zweimal durch ein Telephonat und eine WC- Pause des Probanden unterbrochen, wobei das jeweilige Thema nach einer kurzen Wiedereinführung des Interviewers weiter bearbeitet wurde.
Das empirische Interviewmaterial mußte dann aufbereitet und ausgewertet werden, damit dessen Präsentations- und Analysefähigkeit sichergestellt werden konnte, wobei das Transkript aus Platzgründen nicht beigelegt ist.
Die Auswertung des Interviews umfaßt das Portrait, die Rahmendaten des Probanden und eine Gesamtinterpretation der gesammelten Daten vor dem Hintergrund theoretisch- konzeptueller Überlegungen über die Antwort auf die gestellten Forschungsfragen.
Der folgende Abschnitt dient dazu, den Respondenten vorzustellen und sich einen groben Eindruck von ihm zu verschaffen.
3.1. Rahmendaten und Portrait des türkischen Studenten
Der 1975 in einer Stadt an der Grenze zur Schweiz geborene, aber erst seit 1991 aus İzmir im Westen der Türkei zu seinen Eltern in Deutschland hinzugezogene Yavuz studiert im vierten Semester Elektrische Nachrichtentechnik an der Konstanzer Fachhochschule. Er möchte später in der Telekommunikation in der Türkei tätig sein, nachdem er Erfahrungen in Deutschland und in der Schweiz gesammelt hat. Er, der die Grund- und Mittelschule in der Türkei absolviert hat, besuchte nach seiner Rückkehr in Deutschland die Hauptschule, bevor er die mittlere Reife in der Berufsschule sowie die allgemeine Hochschulreife auf einem technischen Gymnasium erworben hat. Was den Herkunftskontext seiner Eltern anbelangt, gehört sein Vater zur muslimisch- türkischen Minderheit in Bulgarien[22], der vor etwa 27 Jahren zunächst in die West- Türkei emigriert und von dort wiederum zwei Jahre nach seiner Heirat mit Yavuz‘ Mutter nach Deutschland gekommen ist. Die Tatsache, daß beide Hadschis sind, daß sie Funktionäre im örtlichen Türkisch- Islamischen Kulturverein sind und daß seine Mutter ein Kopttuch trägt, stützt die Vermutung über die elterliche Religiosität, die von Yavuz bestätigt wird:
„Wir sind, wie soll ich sagen, wir sind traditionelle Türken, von der Religion her, von der Mentalität her bin ich türkisch, also in Anführungsstrichen, bin ich türkisch großgezogen worden...Beispiele? Zum Beispiel, als ich klein war, habe ich die Koranschulen besucht, oder was weiß ich, von meinen Eltern aus, ja wie soll ich das jetzt erklären, zum Beispiel Ohrringe oder was weiß ich, die werden bei uns in der Familie nicht so gerne angesehen, oder Alkoholtrinken oder Nachtleben, isch nicht so gern angesehen.“
Yavuz nimmt jede Woche am nur für Männer stattfindenden Freitagsgebet teil, was zunächst auf religiöse Orientierungen hinweist. Aber trotz seiner Sozialisation in der Türkei, in der türkischen Schule in İzmir, in den Koranschulen, in das elterliche türkisch- islamische Umfeld sowie Vereinswesen und in der türkisch-islamisch dominierten Nachbarschaft seines Wohnviertels in Deutschland, nimmt Yavuz die Angelegenheit etwas lockerer: „Ohrringe würde ich sowieso nicht tragen, von der Mentalität her. Und sonst, Nachtleben, halt, ich trink Alkohol oder was weiß ich, Nachtleben halt, ich gehe ziemlich oft aus“. Dazu zählen auch gelegentliche Besuche in Nachtbars.[23] Dies steht unter dem Motto der „Integration halt, man muß sich da anpassen. “ Auch er ist mit seinen Eltern zusammen Mitglied des Kulturvereins. Seine politische Aktivität beschränkt sich jedoch auf seine (eher passive) Mitgliedschaft in dem Verein, bei dem seine Eltern aktiv sind, und auf das Abreißen von PKK- Plakaten. Er besitzt momentan die türkische Staatsbürgerschaft mit der befristeten Aufenthaltserlaubnis und hat den unbefristeten Status und die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Was seine Lebensführung anbelangt, so besitzt sie eine Struktur, die sich in einer routinisierten Regelmäßigkeit dessen zeigt, was er tut. Yavuz weiß genau, was er regelmäßig, wann, wo, warum , wie und mit wem er macht. Die Lebensweise ist vom Dualismus zwischen Werktagen und dem Wochenende geprägt. Innerhalb der Woche besucht er mit seinen Kommilitonen täglich von früh morgens bis nachmittags die Vorlesungen an der Fachhochschule und ißt mit ihnen mittags in der Mensa. Die Vor- und Nachbereitung des Lehrinhalts erfolgt abends allein zu Haus, um erfolgreich zu sein. Momentan befindet er sich in einem Praxissemester in einer Firma in der Nähe von Konstanz, die er von morgen Früh bis zum späten Nachmittag in den Werktagen per Bus und Bahn aufsucht. Im Gegensatz zu Yusuf, dem zweiten Probanden, besucht Yavuz am Wochenende seine Eltern seltener und nimmt zusammen mit seinen neu von ihm in Konstanz kennengelernten Freunden, die in Mehrzahl studierende Personen türkischer Herkunft sind, an den von den religiös fundierten elterlichen Normalitäts- und Wertvorstellungen abweichenden Freizeitaktivitäten teil: „Unter der Woche gehe ich halt nicht so oft raus. Und am Wochenende sind man ziemlich oft zusammen. Das heißt in Restaurants oder was trinken oder ab und zu, aber nicht zu oft aber, ab und zu gehen wir ins Kino oder Diskos, Nachtclubs.“
Tabellarische Darstellung der Rahmendaten
3.2. Herkunftsorientierung
Es ist bei Yavuz ein hohes Ausmaß an Herkunftsorientierung im Sinne der...