Die Ergebnisse auf einen Blick
Der Leitfaden »Bürger beteiligen!« ist das Ergebnis des »Innovationsdialogs Bürgerbeteiligung«. Dieser Arbeitskreis wurde von der Bertelsmann Stiftung im Dezember 2011 initiiert. Über einen Zeitraum von anderthalb Jahren haben 27 Praktiker und Vordenker aus Ministerien, Staatskanzleien und Kommunen mit Vertretern der Bertelsmann Stiftung in sechs Arbeitstreffen über Bürgerbeteiligung diskutiert, Erfahrungen ausgetauscht und Wissen gebündelt. Die Diskussionen fanden auf hohem Niveau in einer kollegialen, sehr sachlichen und offenen Atmosphäre statt. Alle Teilnehmer haben über positive und negative Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung in ihrem jeweiligen Verwaltungskontext berichtet. Die Auseinandersetzung mit eigenen konkreten Projekterfahrungen ist durch fachliches und wissenschaftliches Wissen von außen ergänzt worden. Werkzeuge und Methoden, die in Bürgerbeteiligungsprozessen zum Einsatz kommen, wurden während des Innovationsdialogs praktisch erprobt.
Die vielfältigen Impulse und lebendigen Ansätze zur Bearbeitung des Themas haben allen Beteiligten nicht nur viele neue Anregungen gegeben. Sie haben auch dazu geführt, dass eine gründliche Analyse von Partizipationsmöglichkeiten im Kontext der Verwaltungsrealität vorgenommen werden konnte. Das machte eine realitätsnahe Bestandsaufnahme und Analyse möglich, die eine gute Grundlage für die Entwicklung von Empfehlungen – auch zu den Qualitätskriterien guter Bürgerbeteiligung – bietet. Allen Mitwirkenden danken wir herzlich für ihr Vertrauen und ihre Expertise!
Wie gelingt echte Teilhabe und welche Faktoren sind für den Erfolg von Bürgerbeteiligung entscheidend? Wo liegen die Chancen und Risiken von Bürgerbeteiligung? Wie entsteht eine neue Kultur innerhalb der Verwaltung, die den Mitarbeitern ein flexibleres und bürgerorientierteres Arbeiten ermöglicht? Das sind die Kernfragen, die uns durch das Programm des Innovationsdialogs geleitet haben. Die wichtigsten Erkenntnisse haben wir hier für Sie auf einen Blick zusammengefasst.
Wirksame Bürgerbeteiligung vitalisiert die repräsentative Demokratie
Selbstbewusste, gut informierte und partizipationswillige Bürger fordern heute mehr Beteiligung und Mitsprache und wollen auf Augenhöhe mit Politik und Verwaltung kommunizieren. Auch wenn die repräsentative Demokratie viel Raum für mehr Transparenz, Dialog und Bürgerbeteiligung bietet, ohne dass irgendwelche gesetzlichen Änderungen notwendig wären: Der Weg zu größerer Bürgerbeteiligung ist doch nicht einfach. Dass diese jedoch erwünscht und nötig ist, zeigt sich in den letzten Jahren unter anderem an massivem Bürgerprotest und auch daran, dass politische Entscheidungen immer häufiger durch plebiszitäre Maßnahmen gekippt werden.
Bürgerbeteiligung kann daher helfen, Lösungen zu finden, die qualitativ über Entweder-oder-Entscheidungen hinausgehen. Die Einbindung der Bürgermeinung bedeutet dabei keine Schwächung der repräsentativen Demokratie. Sie kann im Gegenteil dazu beitragen, diese in Zeiten komplexer Problemlagen, abnehmender Wahlbeteiligung und schrumpfender Parteien neu zu vitalisieren.
Dazu braucht es nicht nur aufmerksame Politiker, sondern auch Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung. In Deutschland haben wir ein über Jahrzehnte entwickeltes und etabliertes Behördensystem hierarchischer Ordnung. Planend und steuernd folgt es standardisierten Verfahrenswegen, die auf rechtlichen Vorgaben basieren. Aus diesem System wird nicht von heute auf morgen eine Verwaltung, die Meinungen und Wissen von außen flexibel einbindet. Bürgerbeteiligung zielt nicht darauf ab, jedes etablierte Verfahren und jede Struktur ins Wanken zu bringen. Gänzlich ohne Veränderung ist sie andererseits jedoch auch nicht zu leisten: Um Bürgerbeteiligung zu ermöglichen, bedarf es gezielter und langfristiger Maßnahmen zum Aufbau von Schlüsselkompetenzen, modernisierter Strukturen und einer akzeptierten Beteiligungskultur.
Chancen erhöhen, Risiken minimieren
Beteiligung ist immer mit Chancen und Risiken verbunden. Grundsätzlich gilt: Je besser Beteiligung geplant und umgesetzt wird, desto größer sind die daraus erwachsenden Chancen und desto geringer die damit verbundenen Risiken.
Zu den möglichen Risiken gehören Verfahrensverzögerungen, die Dominanz von Partikularinteressen, Qualitätsverlust, vermehrter Arbeitsaufwand, höhere Kosten und eingeschränkte Macht und Kompetenzen. Aufgabe aller Beteiligten ist es, durch eine gut gestaltete Mitwirkung daraus Chancen zu machen. Gute Beteiligung unter soliden Rahmenbedingungen erhöht die Akzeptanz von Entscheidungen und führt zu bedarfsgerechteren – weil gemeinsam entwickelten – Lösungen. Beteiligung kann die Verwaltung langfristig entlasten, wenn zum Beispiel Kooperationen zwischen Verwaltung und Bürgern entstehen.
Auf dem Weg zu einer neuen Kultur – kontinuierlich statt punktuell
Die Experten des Innovationsdialogs sind sich einig, dass die Entwicklung einer neuen Beteiligungskultur ein langfristiger Prozess ist und wir erst am Anfang stehen. Einige Stellen in der Verwaltung sind heute bereits geübt darin, Bürger vor Ort an bestimmten Vorhaben zu beteiligen. Doch bisher hat diese Öffnung meist projektbezogenen Charakter. Notwendig ist eine umfassende Beteiligungskultur. Bedingung dafür ist eine veränderte Organisationskultur innerhalb der Verwaltung, ein Wandel in Werten, Normen und persönlichen Haltungen, sodass sich die Beteiligungskultur nachhaltig verankern lässt. Ziel dabei ist ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Bürger und Staat, die einander auf Augenhöhe, offen und konstruktiv begegnen sollen. Den Mitarbeitern der Verwaltung ermöglicht die Beteiligungskultur flexibles und bedarfsorientierteres Handeln.
Politik und Verwaltung sollten diesen Wandel aktiv angehen: Notwendigkeit und Nutzen dieses Prozesses müssen transparent gemacht, der Wandel zur Chefsache und in Praxisprojekten erprobt und erlebt werden. Planungs- und Entscheidungsprozesse sind so anzupassen, dass Bürgerbeteiligung zum selbstverständlich gelebten Bestandteil des Denkens und Handelns wird.
Mitarbeiter qualifizieren – Kompetenzen aufbauen
Damit Beteiligung gelingt, benötigen Führungs- und Verwaltungskräfte auch neue Kompetenzen. Welche neuen Kompetenzen und welches Handwerkszeug brauchen sie, um Bürgerbeteiligung erfolgreich umzusetzen? Das Wissen um Chancen, Risiken, Ziele und Methoden von Bürgerbeteiligung gehört zweifellos ebenso dazu wie die analytischen Fähigkeiten, Beteiligungsprozesse planen und gestalten zu können. Wichtig – sowohl nach innen als auch nach außen – sind außerdem kommunikative und sozioemotionale Qualifikationen, etwa der konstruktive Umgang mit dem Unerwarteten, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und die Bereitschaft, sich auf die Sichtweise der Gegenseite einzulassen.
Der Erwerb solcher Kompetenzen sollte zum festen Bestandteil der Aus- und Weiterbildung werden. Er kann durch verwaltungsinterne Netzwerke, projektbegleitendes Coaching oder durch das Eigenstudium von Literatur und Handbüchern weiter gefördert werden. Zum zentralen Kern des Kompetenzerwerbs zählen aber das Einüben und die praktische Umsetzung in eigenen Bürgerbeteiligungsprojekten. Besonders effektiv ist die Verknüpfung von Praxisprojekten mit theoretischem Wissensaufbau.
Beteiligung mit Qualität
Beteiligung ist nur wirksam, wenn sie gut gemacht ist. Zwar gibt es zahlreiche Möglichkeiten und unterschiedliche Formen von Beteiligungsverfahren; doch lassen sich wesentliche Qualitätskriterien definieren, die maßgeblich zum Erfolg von Beteiligung beitragen. Die vorliegende Publikation nennt die dafür wichtigen Leitfragen und veranschaulicht sie in der BÜRGER-Formel.
Die BÜRGER-Formel fasst die sechs bedeutendsten Qualitätskriterien zusammen, mit deren Hilfe Behördenvertreter die Erfolgsaussichten von Beteiligungsprojekten überprüfen können. Neben der inneren Bereitschaft und Offenheit für Partizipation sowie einem überzeugenden Bekenntnis bedarf es demnach ausreichender Ressourcen sowie eines guten Prozessmanagements, geeigneter Methoden, Transparenz und Verbindlichkeit bei den gemeinsam erarbeiteten Ergebnissen.
Dass dieser Wandel gerade unter den heutigen Rahmenbedingungen nicht einfach wird, ist allen Beteiligten klar. Zumal Verwaltung sich mit einer Reihe von weiteren Herausforderungen konfrontiert sieht: zum Beispiel mit drastischen Sparvorgaben aufgrund der angespannten Haushaltslagen oder mit dem demografischen Wandel, der sich auch in der Mitarbeiterstruktur der Verwaltung bemerkbar macht. Hier ist die Politik gefordert: Neue Prioritätensetzungen, auch bei Finanz- und Personalausstattung, sind unverzichtbar.
Wenn es auch bis zu nachhaltiger und kontinuierlich gelebter Bürgerbeteiligung noch ein langer und nicht einfacher Weg ist, so hoffen wir doch, mit dem Leitfaden »Bürger beteiligen!« einen Beitrag...