Im Jahr 597 v.?Chr. deportierte der babylonische König Nebukadnezzar Jojachin, den König von Juda, zusammen mit der königlichen Führungsschicht nach Babylonien. Unter den Exulanten befand sich auch Ezechiel, der Sohn des Priesters Busi und selbst Priester. Fünf Jahre nach seiner Ankunft in Babylonien hatte Ezechiel eine Vision, in der er zum Propheten berufen und damit beauftragt wurde, seine Mitgefangenen zu trösten, zu ermahnen sowie den endgültigen Untergang Jerusalems, die schließliche Rückkehr aus dem Exil und die Zeit der Errettung anzukündigen. Der genaue Ort der Vision wird als der Fluß Kebar angegeben, offensichtlich in der Nähe der Stadt Nippur,1 wo sich die Exilsiedlung Tel Aviv befand (Ez 3,15).2
Ezechiel ist nicht der erste Prophet, der solchermaßen durch eine Vision berufen wurde. Sein Vorläufer Jesaja hatte seine berühmte Schau Gottes »im Todesjahr des Königs Usija« (Jes 6,1), das heißt im Jahr 739 v.?Chr., und Ezechiels älterer Zeitgenosse Jeremia, ebenfalls ein Priester, empfing seine erste prophetische Offenbarung im dreizehnten Jahr des Königs Joschija (Jer 1,2), das ist 628 v.?Chr. Während aber Jesajas Vision eindeutig im Jerusalemer Tempel stattfand und Jeremia seine vielen Offenbarungen im Land Israel zuteil wurden, ist Ezechiel der erste biblische Prophet, der außerhalb des Heiligen Landes eine Vision empfing und als Prophet hervortrat. Das Ausland wurde als unrein angesehen (Ez 4,13); daß Gott sich einem neuberufenen Propheten außerhalb des Landes Israel offenbart haben sollte, bereitete ein Problem. Die ausdrückliche Erwähnung des Flusses Kebar mag daher ein Versuch sein, diese Schwierigkeit zu umgehen: Fließendes Wasser, so glaubte man, habe einen reinigenden Effekt (Lev 15,13; Num 19,17) und könne deshalb die negative Auswirkung des unreinen fremden Landes aufwiegen. Schon die Mekhilta, einer der frühesten midraschischen Bibelkommentare, folgt dieser Argumentationslinie und meint, daß Gott, nachdem Israel als das Heilige Land erwählt war, sich seinen Propheten außerhalb des Landes nur noch an einem »reinen Ort mit [fließendem] Wasser«3 offenbarte.
Ezechiels Vision ist die ausführlichste prophetische Schau in der Hebräischen Bibel und wurde zum Vorbild, das viele visionäre Erfahrungen in der jüdischen und christlichen Tradition beeinflußte. Unser erstes Kapitel ist einer eingehenden Lektüre von Ezechiel 1 gewidmet. Was genau sah Ezechiel, und wie ist der Inhalt seiner Schau mit dem biblischen Kontext verbunden, in den sie eingebettet ist? Welche Art von Erfahrung enthält sie? Was ist die Botschaft der Vision und was ihre Funktion im Ezechielbuch?
Das Buch eröffnet feierlich mit der Datierung und Lokalisierung von Ezechiels entscheidender Vision:4
(1)?Am fünften Tag des vierten Monats im dreißigsten Jahr, als ich unter den Verschleppten am Fluß Kebar lebte, öffneten sich die Himmel (nifte?u ha-shamajim), und ich sah Gotteserscheinungen (wa-er'eh mar'ot elohim). (2) Am fünften Tag des Monats – es war im fünften Jahr nach der Verschleppung des Königs Jojachin – (3) geschah es (hajoh hajah), daß das Wort JHWHs (devar JHWH) an Ezechiel, den Sohn Busis, den Priester, erging im Land der Chaldäer, am Fluß Kebar. Dort kam die Hand JHWHs (jad-JHWH) über ihn.
Zahllose Forscher haben sich mit den Unebenheiten in diesem Text befaßt (Was ist mit dem dreißigsten Jahr gemeint? Wie verhält sich dazu das fünfte Jahr des Exils König Jojachins? Ist V.?2 eine Glosse, die V.?1 erläutert oder korrigiert? usw.),5 aber diese Detailfragen müssen uns hier nicht beschäftigen. Die Hauptbotschaft lautet, daß Ezechiel unter den Exulanten am Fluß Kebar war, als sich die Himmel öffneten und er Erscheinungen sah (V.?1), die von einer Audition begleitet wurden (V.?3). Werfen wir einen kurzen Blick auf diesen Ablauf.?
Die Eingangsformulierung der ganzen Erfahrung: »die Himmel öffneten sich«6 ist im Ezechielbuch und in der Hebräischen Bibel7 ohne Parallele, wird aber in der späteren jüdischen Tradition zu einem Standardausdruck. Besonders instruktiv sind das 2. (Syrische) Baruchbuch und die Testamente der Zwölf Patriarchen. Der Syrische Baruch gibt vor, daß Baruch, der Sohn Nerijas, seine erste prophetische Offenbarung genau in dem Jahr erhielt, als König Jojachin deportiert wurde (1,1), und verknüpft somit Baruch und dessen Prophetie eindeutig mit Ezechiel; das Buch wurde jedoch in Wirklichkeit erst nach der Zerstörung des Zweiten Tempels, im frühen 2. Jahrhundert n.?Chr., geschrieben. Wie im Ezechielbuch »erging das Wort des Herrn an Baruch« (2 Bar 1,1), aber erst viel später im Buch wird die Audition von der Schau der geöffneten Himmel begleitet: »Und danach taten sich die Himmel auf! Und ich sah es, und Kraft wurde mir zuteil, und eine Stimme erscholl aus den Höhen.«8 (22,1) Die geöffneten Himmel werden stärker betont im Testament Levis, wo der Priester Levi die Rolle des Propheten einnimmt und von Gott dazu berufen wird, »seine Geheimnisse den Menschen kundzutun« und die bevorstehende »Errettung Israels zu verkündigen«.9 (Testament Levis 2,10) Dementsprechend »werden die Himmel« vor ihm »geöffnet«, und er wird aufgefordert einzutreten (2,6). Er erblickt einen ersten und einen zweiten Himmel und schließlich den obersten (dritten?) Himmel, wo der »Höchste auf dem Thron der Herrlichkeit« sitzt.10 (5,1) Wenn der Erlöser, ein eschatologischer (Hoher-)Priester, am Ende der Zeiten erscheint, »werden die Himmel (wieder) geöffnet werden, und aus dem Tempel der Herrlichkeit wird über ihn Heiligkeit kommen«. (18,6) Die geöffneten Himmel fungieren also wie bei Ezechiel als Visionsmittel des Propheten/Priesters, aber sie nehmen hier wichtige zusätzliche Bedeutungen an. Erstens ist die Schau des Propheten nicht auf die Erde beschränkt: Anders als Ezechiel, der auf der Erde verbleibt und keinen direkten Kontakt mit dem göttlichen Bereich hat, betritt Levi körperlich den Himmel. Nicht Gott bewegt sich vom Himmel zur Erde hinab, sondern der Prophet verläßt seine Position auf Erden und durchquert die geöffneten Himmel, um Gott an seinem Ort im Himmel zu sehen. Zweitens, und dies ist noch folgenschwerer, tritt der Messias an die Stelle des Propheten: Die geöffneten Himmel werden zum Kanal, durch den der Messias den Geist Gottes als Zeichen seiner göttlichen Berufung und als Werkzeug seines Erlösungsauftrags empfängt. Dasselbe gilt für das Testament Judas, wo der messianische »Stern aus Jakob« angekündigt wird: Die »Himmel werden über ihm geöffnet werden, um den Geist als Segen des heiligen Vaters auszugießen«.11 (Testament Judas 24,2)
Das Neue Testament führt beide jüdische Traditionslinien fort, die geöffneten Himmel als Medium der prophetischen Vision und als göttliche Bestätigung des Messias. Beispiele für ersteres sind Apg 7,55f. (Stephanus sieht »die Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen«) und Apg 10,11ff. (der Apostel Petrus sieht die geöffneten Himmel, aus denen alle Arten von unreinen Tieren herabkommen, und hört eine Himmelsstimme, die ihn dazu auffordert, diese Tiere zu schlachten und zu essen).12 Das letztere steht in den Texten über Jesu Taufe im Jordan und die Steinigung des Stephanus im Vordergrund. Als Jesus nach seiner Taufe durch Johannes den Täufer aus dem Wasser stieg, »öffneten sich die Himmel, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube auf sich herabkommen. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: ›Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe.‹«13 Die geöffneten Himmel und die Herabkunft des Geistes Gottes in Verbindung mit der Himmelsstimme, die ein Geflecht von Versen aus der Hebräischen Bibel zitiert,14 bestätigen Jesus als den Messias. Ganz ähnlich bei Stephanus: Als er behauptet, die Himmel offen und »den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen« zu sehen, bringt er seine jüdischen Volksgenossen gegen sich auf und provoziert sie derart, daß sie ihn steinigen und töten, weil er nicht weniger behauptet, als daß der Messias Jesus von den Toten auferweckt worden und an seinen angestammten Platz im Himmel zurückgekehrt sei.15
Im Ezechielbuch ermöglichen die offenen Himmel dem Propheten, »Gotteserscheinungen« (mar'ot elohim) zu sehen, mit anderen Worten, in direkten Kontakt mit dem Göttlichen zu treten und dabei doch auf Erden zu verbleiben. Die meisten Forscher stimmen darin überein, daß diese Visionen strenggenommen keine Schau der Gottheit sind, sondern eher eine ›göttliche Schau‹, eine übernatürliche, auf Gott zurückgehende Vision (oder Visionen).16 Dies wird aus den Parallelen in Ez 8,3 und 40,2 ersichtlich, wo Ezechiel durch mar'ot elohim nach Jerusalem beziehungsweise ins Land Israel gebracht wird; aber dennoch ist der Höhepunkt dieser Visionen, wie wir noch sehen werden, die Schau Gottes selbst. Die Auswirkung der Gotteserscheinung auf den Propheten wird durch die Wendung »die Hand des Herrn kam über ihn« zum Ausdruck gebracht, die Ezechiels Erfahrung vom Beginn seiner Prophetie an ebenfalls eigentümlich ist.17 Mit ihr wird die körperliche Entrückung des Propheten bezeichnet: Er wird von Gott gepackt, aus den...