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E-Book

Die Autonomie des Klangs

Eine Philosophie der Musik

AutorGunnar Hindrichs
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783518734025
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR


<p>Gunnar Hindrichs ist Professor f&uuml;r Philosophie an der Universit&auml;t Basel. Gastprofessuren f&uuml;hrten ihn nach Italien, Finnland und in die USA. 2007 erhielt er den Akademiepreis der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.</p>

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Leseprobe

36Erstes Kapitel
Das musikalische Material


§ 1


Die Grundbegriffe, die sich zu der Idee des musikalischen Kunstwerkes zusammenschließen lassen sollen, artikulieren dessen Seinsweise. Sie geben die ontologischen Grundbestimmungen des Musikwerkes an. Da nun die Idee des Werkes nicht in einer Definition aufgestellt werden kann, können jene Grundbestimmungen nicht aus einer solchen Definition gefolgert werden. Wie aber vermag man sie dann zu gewinnen?

Eine phänomenologische Herangehensweise würde am Musikerlebnis ansetzen. Das Musikerlebnis könnte in seiner tiefsten Schicht durch den Unterschied von Klang und Stille strukturiert sein, und der Klang der Musik ließe sich herleiten aus dem Laut, der die Stille durchbricht.[1] Ein solches Vorgehen ist der ontologischen Untersuchung verwehrt. Sie muß ihren Anfang mit einer Bestimmung nehmen, die nicht das Erlebnis von Musik betrifft, sondern deren Seinsweise. Und weil die Seinsweise der Musik als die Seinsweise des musikalischen Kunstwerkes erkundet werden soll, muß diese Bestimmung eine anfängliche Bestimmung der Seinsweise des Werkes darstellen.

Die Grundbegriffe der Musikphilosophie sind folglich in einem Gedankengang zu entwickeln, der seinen Ausgang von einem allgemeinen Kennzeichen des Werkseins nimmt. Ein solches Kennzeichen eignet einem jeden Werk. Es muß sich in der Folge zu dem ersten Grundbegriff des spezifisch musikalischen Werkes artikulieren lassen.

§ 2


Das allgemeine Kennzeichen des Werkes, von dem auszugehen ich vorschlage, ist dessen Gemachtheit. Jedes Kunstwerk ist etwas Ge37machtes.[2] Ein Text wurde geschrieben, ein Bild wurde gemalt, ein Musikstück wurde komponiert. Sie alle wurden von einem oder von mehreren Menschen gemacht, und die Tätigkeit dieser Menschen betrifft ihre Verfassung.

So zu reden scheint in die Diskussion der gegenwärtigen Musikontologie zurückzufallen, die darüber stritt, ob Werke konkrete oder abstrakte Größen darstellen. Abstrakte Größen sind nicht gemacht, sondern zusammen mit einem bestimmten Möglichkeitsrahmen gegeben, so daß der Vorschlag, an der Gemachtheit von Kunstwerken anzusetzen, zugunsten konkreter Größen zu argumentieren scheint. Doch tatsächlich ist er von jener Diskussion unabhängig. Angenommen, Kunstwerke seien konkrete Größen. Dann würde ihre Gemachtheit ihre konkrete Erschaffung bedeuten. Angenommen wiederum, sie seien abstrakte Größen. Dann würde ihre Gemachtheit entweder abstrakte Strukturen instantiieren, oder sie bestünde – stärker noch – nicht in der Erschaffung von Werken, sondern in deren Entdeckung. Im ersten Fall instantiierten Werke jene Strukturen dadurch, daß sie von einem oder mehreren Künstlern als solche Instantiierungen gemacht werden. Im zweiten Fall bestünde die Gemachtheit der Werke eben in deren Entdeckung. Denn die Tätigkeit der an ihnen arbeitenden Menschen bleibt dieselbe, ganz gleich, ob wir sie als Erschaffung des Werkes oder als dessen Entdeckung verstehen. Wenn nun die Tätigkeit der Schriftsteller, Maler oder Komponisten bestimmten Bedingungen unterliegt, aus denen sich ihre Texte, Bilder oder Stücke erklären lassen, dann betreffen diese Bedingungen ihre Werke, weil sie sich nur unter ihnen instantiieren oder entdecken lassen – mögen die Werke auch selber in einem ewigen Reich jenseits alles menschlichen Tuns existieren. In diesem Sinne weist selbst das nur entdeckte, nicht erschaffene Werk Gemachtheit auf. Seine Verfassung läßt sich auf einer ersten Ebene von der Tätigkeit her begreifen, die an ihm – sei es erschaffend, sei es entdeckend – arbeitet.

Die Gemachtheit des Kunstwerkes ist daher unabhängig von der Frage danach, ob Werke abstrakte oder konkrete Größen seien. Wenn sie konkrete Größen darstellen, dann sind sie auf direkte Weise von ihren Urhebern gemacht. Wenn sie abstrakte Größen 38darstellen, dann sind sie auf übertragene Weise von ihren Urhebern gemacht. In beiden Fällen heißt ihre Gemachtheit nichts anderes, als daß ihre Verfassung aus der menschlichen Tätigkeit verständlich zu werden vermag, die sie ins Leben zu rufen sucht.

§ 3


Die Gemachtheit von Kunstwerken heißt nicht, daß in ihnen nichts Gegebenes vorkommen könnte. Der Text verarbeitet Informationen, das Bild besteht aus Farben, das Musikstück läßt Töne erklingen, die möglicherweise nicht erst von den Urhebern der Werke gemacht worden sind. Sie können aus der Tradition, aus der vorästhetischen Erfahrung oder einfach aus dem physischen Material, das zu der Verfertigung des Werkes verwendet wird, stammen. Aber zu Momenten eines Kunstwerkes werden sie erst dadurch, daß sie in einem Zusammenhang stehen, der selber nicht mehr gegeben ist. Farben werden zum Bild gefügt, Töne zum Stück verbunden, Informationen zum Text verarbeitet. Solche Zusammenhänge entstehen erst durch das Tun eines Urhebers. Denn dieses Tun verwandelt das Gegebene. Was gegeben war, erhält eine neue Bestimmtheit, indem jemand etwas mit ihm gemacht hat. Solange es diese Bestimmtheit besitzt, steht es in dem Zusammenhang, der aus dem Tun des Künstlers entspringt. Bliebe es hingegen ein bloß Gegebenes, so besäße es diese Bestimmtheit nicht, sondern wäre bloß vorhanden. Die Gemachtheit des Werkes nimmt dem Gegebenen sein Gegebensein und hebt es in die Dimension der Kunst.

§ 4


In diesem Sinne stellt die Gemachtheit des Kunstwerkes ein Kennzeichen dar, das allen Werken zukommt. Um sie besser zu erfassen, ist ein Blick auf ihre klassische philosophische Behandlung hilfreich. Im Ausgang von dieser und im Unterschied zu ihr läßt sie sich genauer bestimmen.

Aristoteles besitzt für das Machen eines Kunstwerkes den Ausdruck »Herstellen« (???????). Der Ausdruck gewinnt sein Bedeutungsprofil im Kontrast zu dem Begriff der Handlung (??????). 39Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen ergibt sich aus dem jeweiligen Ziel unseres Tuns. Während das Ziel des Herstellens in einem hergestellten Werk (?????) liegt, das auf selbständige Weise jenseits unseres Tuns besteht, liegt das Ziel des Handelns in dem Tun selbst. Das Ziel unseres Handelns ist das am-Werke-sein, es ist der Vollzug (????????) unseres Tuns und nicht ein hergestelltes Ding, das nach dem Abschluß unseres Tuns übrig bliebe. So erfolgt die Tätigkeit, die der Werkzeugmacher bei der Herstellung des Werkzeuges ausübt, um des herzustellenden Gerätes willen, das sein Werk abgibt; wenn hingegen der Flötenspieler Flöte spielt, dann findet er sein Ziel in der Tätigkeit des Spielens selbst und nicht in einem Werk, das nach seinem Spiel sein Tun überdauert.[3]

In diesem Zusammenhang ist die Gemachtheit des Werkes nach der klassischen Auffassung zu begreifen. Sie beruht auf dem Unterschied zweier Tätigkeiten: dem Herstellen und dem Handeln. Deren Unterschied wird durch den Unterschied ihrer Ziele begründet. Das Handeln besitzt sein Ziel in sich, das Herstellen in einem anderen. Dieses Andere ist das gemachte Werk.

§ 5


Die aristotelische Unterscheidung zwischen Handeln und Herstellen läuft auf zweierlei hinaus. Zum einen begründet sie einige klare Aussagen über das Herstellen: Weil das Herstellen auf zu verfertigende Werke ausgerichtet ist, ist es technisch anleitbar, lehrbar und prüfbar. Der Blick auf das Werk ermöglicht eine Reglementierung der Tätigkeit, die die Herstellung jenes Werkes als ihr Ziel besitzt. Die Reglementierung wiederum kann anderen gelehrt werden. Und zudem gibt sie einen Leitfaden an die Hand, mit dessen Hilfe das Tun überprüft zu werden vermag.

Sodann trifft die aristotelische Unterscheidung eine weitreichende Bestimmung hinsichtlich der Bedeutung der Tätigkeit für den Künstler. In besonders klarer Weise wird diese Bestimmung von dem an Aristoteles anknüpfenden Satz des Thomas von Aquin ausgesprochen, wonach das Machen (facere) die Vervollkommnung nicht des Machenden, sondern des gemachten Werkes sei – »non est 40perfectio facientis, sed facti«.[4] Dieser Satz nimmt eine Übersetzung des aristotelischen Gedankens über das Herstellen vor, die diesen verändert. Dennoch können wir sagen, daß die Unterscheidung zwischen Herstellen und Handeln darauf hinausläuft, daß das Handeln sich im Tun des Tätigen erfüllt, während im Herstellen andersherum die Tätigkeit sich im Werk erfüllt. Diesen Mangel an Erfüllung, den das Herstellen für den Tätigen hat, erfaßt der Satz des Thomas sehr präzise. Der Kern des Satzes lautet, daß das Machen nicht so sehr zu der Gestaltung des Machenden beitrage, sondern sich in der Gestaltung seines Produktes erschöpfe.

Nun gestaltet in einem weiten Sinne, nämlich hinsichtlich seiner technischen Fähigkeiten, natürlich auch der Hersteller eines Werkes in seiner Tätigkeit sich selber. Doch in erster Linie gestaltet seine Tätigkeit das Werk, das darum auch ihr Ziel abgibt. Ein technisch vollkommener Hersteller eines Werkes gestaltet sich daher nicht selber weiter, wenn er seine Tätigkeit ausübt. Anders verhält es sich bei der Handlung. Weil die Tätigkeit des Handelnden ihren Vollzug zum Ziel hat, gestaltet jede Handlung den Handelnden auf eine neue Weise, ohne daß irgendwann einmal eine technische Perfektion erreicht wäre. Dieser Unterschied ist gemeint, wenn gesagt wird, daß der Handelnde in seinem Handeln sich selber gestalte, während der Herstellende in der Herstellung sein Werk gestalte. Die Gemachtheit des Werkes geht somit mit einer Zweitrangigkeit der herstellenden Tätigkeit für den Tätigen...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
[Cover]1
[Informationen zum Buch / zum Autor]2
[Impressum]4
Inhalt5
Vorwort7
Einleitung8
Erstes Kapitel Das musikalische Material36
Zweites Kapitel Der musikalische Klang73
Drittes Kapitel Die musikalische Zeit108
Viertes Kapitel Der musikalische Raum147
Fünftes Kapitel Der musikalische Sinn185
Sechstes Kapitel Der musikalische Gedanke225
Register267

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