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Rebellische Städte

AutorDavid Harvey
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783518786208
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Dass Städte politische Räume sind, verrät bereits die Herkunft des Wortes Politik vom griechischen »polis«. In Städten wird regiert und demonstriert, zuletzt in Kairo oder New York. In Städte wird aber auch investiert, Geld verwandelt sich in Häuser, in Wolkenkratzer und Vorortsiedlungen. Und schließlich ist Stadtplanung spätestens seit dem Umbau von Paris durch Georges-Eugènes Haussmann immer zugleich ein Instrument der politischen Kontrolle. All diesen Themen geht David Harvey in »Rebellische Städte» nach. Er befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen Hochhausboom und Wirtschaftskrise, mit dem rasanten Wachstum chinesischer Städte und erkundet das emanzipatorische Potenzial urbaner Protestbewegungen wie »Occupy Wall Street« und »Recht auf Stadt«.

<p>David Harvey, geboren in 1935, ist einer der einflussreichsten Sozialwissenschaftler der Gegenwart. Der überzeugte Marxist lehrte unter anderem in Oxford, an der Johns Hopkins University in Baltimore und an der London School of Economics. Er gilt als meistzitierter Geograf der Welt.</p>

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Leseprobe

Vorwort
Henri Lefebvres Vision

Irgendwann Mitte der siebziger Jahre entdeckte ich in Paris ein Plakat der Écologistes, einer radikalen Stadtteilbewegung für ein ökologisch bewussteres urbanes Leben, auf dem sie ihre alternative Vision für die Stadt darstellten. Es zeigte ein herrlich spielerisches Panorama des durch ein reges Nachbarschaftsleben wieder aufgeblühten alten Paris mit Blumen auf den Balkonen, Plätzen, auf denen sich Erwachsene und Kinder tummelten, kleinen Geschäften und Werkstätten, deren Türen allen offenstanden, Dutzenden Cafés, sprudelnden Springbrunnen, Menschen, die sich am Flussufer vergnügten, und mehreren Gemeinschaftsgärten (womöglich habe ich diesen Teil in meiner Erinnerung dazugedichtet); ein Paris, in dem man offenkundig noch genügend Zeit hatte, um sich zu unterhalten oder seine Pfeife zu rauchen (eine Angewohnheit, die zu jener Zeit noch nicht verteufelt wurde, wie ich zu meinem Leidwesen feststellen musste, als ich einmal an einem Nachbarschaftstreffen der Écologistes in einem mit dichtem Rauch gefüllten Raum teilnahm). Ich fand das Plakat großartig, doch nach einigen Jahren war es so zerfleddert und zerrissen, dass ich es zu meinem großen Bedauern wegwerfen musste. Ich wünschte, ich hätte es noch! Man sollte es neu drucken lassen.

Dieses Bild stand in einem drastischen Gegensatz zum neuen Paris, das gerade im Entstehen war und dabei das alte zu verschlingen drohte. Die hohen »Gebäuderiesen« um die Place d’Italie herum drohten in die Altstadt vorzudringen und dem scheußlichen Tour Montparnasse die Hand zu reichen. Hinzu kamen die geplante Schnellstraße am linken Seine-Ufer, die seelenlosen Hochhäuser des sozialen Wohnungsbaus (habitation à loyer modéré oder kurz HLM) draußen im 13. Arrondissement und in den Vorstädten, die monopolisierte Kommodifizierung auf den Straßen, der Zusammenbruch des dynamischen Stadtteillebens, das früher das Marais mit seinen vielen kleinen Handwerksbetrieben geprägt hatte, die zerfallenden Häuser von Belleville und die phantastische Architektur der Place des Vosges, die auf die Straßen bröckelte. Ich stieß auf eine weitere Zeichnung (dieses Mal von Jean-François Batellier, einem politischen Karikaturisten). Sie zeigte einen Mähdrescher, der die alten Viertel von Paris zerstört und verschlingt und hinter sich ordentlich aufgereihte HLM-Hochhäuser zurücklässt. Ich verwendete sie als Schlüsselbild in meinem Buch The Condition of Postmodernity (1989).

Paris befand sich seit Mitte der sechziger Jahre sichtbar in einer Existenzkrise. Das Alte konnte nicht fortbestehen, doch das Neue war einfach zu scheußlich, abweisend und trist, um ausführlicher darüber nachzudenken. Jean-Luc Godards Film Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß von 1967 fängt das Bewusstsein dieser Zeit wunderbar ein. Er zeigt verheiratete Mütter, die sowohl aus Langeweile als auch aus finanzieller Not einer täglichen Routine der Prostitution nachgehen, vor dem Hintergrund der Invasion von Paris durch amerikanisches Unternehmenskapital, des Vietnamkriegs (einst eine französische Angelegenheit, die jedoch damals schon von den Amerikanern übernommen worden war), eines Baubooms bei Autobahnen und Hochhäusern und des einsetzenden blindwütigen Konsums in den Straßen und Geschäften der Stadt. Ich jedenfalls konnte mit Godards philosophischem Ansatz nichts anfangen – mit dieser Art zweifelndem, wehmütigem, an Wittgenstein erinnerndem Vorläufer der Postmoderne, in der weder im Zentrum des Selbst noch dem der Gesellschaft irgendetwas von Bestand ist.

Ebenfalls 1967 schrieb Henri Lefebvre seinen grundlegenden Essay Le droit à la ville. Dieses Recht, beteuerte er, war sowohl ein Aufschrei als auch eine Forderung. Der Aufschrei war eine Antwort auf den existenziellen Schmerz, den das Verdorren des alltäglichen Stadtlebens verursachte. Die Forderung war eigentlich mehr ein Befehl, dieser Krise fest ins Auge zu blicken und ein alternatives urbanes Leben zu entwerfen, das weniger entfremdet, sinnstiftender, spielerischer, dabei aber – wie immer bei Lefebvre – auch konfliktreich und dialektisch ist, offen für das Entstehende, für Begegnungen (beängstigender und angenehmer Art) und für das ständige Streben nach dem bislang unbekannten Neuen.1

Wir Akademiker verstehen uns darauf, die Genealogie von Ideen zu rekonstruieren. Wir können also Lefebvres Arbeiten aus jener Zeit nehmen und hier ein wenig Heidegger ausfindig machen, dort Nietzsche, an anderer Stelle Fourier, eine implizite Kritik an Althusser und Foucault sowie, natürlich, den unvermeidlichen, von Marx gesetzten Rahmen. Die Tatsache, dass dieser Essay zum hundertjährigen Jubiläum der Veröffentlichung des ersten Bandes von Das Kapital erschien, scheint erwähnenswert, da sie, wie wir noch feststellen werden, von einiger politischer Bedeutung ist. Was wir Akademiker allerdings häufig übersehen, ist die Rolle, die die auf den Straßen um uns herum aufkommende Empfindsamkeit spielt, das unvermeidliche Gefühl des Verlusts, das durch die Zerstörungen hervorgerufen wird, und das, was geschieht, wenn ganze Viertel (wie Les Halles) umgewandelt werden oder grands ensembles scheinbar aus dem Nichts entstehen. Diese Gefühle verbinden sich oft mit der Erregung oder dem Zorn, die sich bei Straßendemonstrationen gegen die verschiedensten Dinge Bahn brechen, mit den Hoffnungen, die man in Bezug auf die Wiederbelebung von Stadtteilen durch Immigranten setzt (man denke an die vorzüglichen vietnamesischen Restaurants inmitten der Sozialwohnungen im 13. Arrondissement), und mit der Verzweiflung, die aus der tristen Hoffnungslosigkeit der Ausgrenzung erwächst, aus den Repressionen der Polizei und aus der Situation arbeitsloser Jugendlicher, verloren in der reinen Langeweile und Vernachlässigung der seelenlosen Vorstädte, die schließlich zum Schauplatz aufgebrachter Unruhen werden.

Ich bin mir sicher, dass Lefebvre sich all dessen zutiefst bewusst war – und zwar nicht nur aufgrund seiner offenkundigen früheren Begeisterung für die Situationisten und deren theoretische Verbundenheit mit der Idee einer Psychogeografie der Stadt, mit dem Erlebnis des Umherschweifens (dérive) im urbanen Raum von Paris und dem Ausgesetztsein gegenüber dem Spektakel. Er brauchte wahrscheinlich nur seine Wohnung in der Rue Rambuteau zu verlassen, um all seine Sinne anzuregen. Aus diesem Grund halte ich es für äußerst bedeutsam, dass er Le droit à la ville vor Aufstand in Frankreich aus dem Mai 1968 geschrieben hat. Der Essay bildet eine Situation ab, in der solch ein Aufstand nicht nur möglich, sondern nahezu unausweichlich erscheint (und Lefebvre trug in Nanterre seinen eigenen kleinen Teil dazu bei). Dennoch finden die urbanen Wurzeln der Achtundsechziger-Bewegung in späteren Darstellungen der Ereignisse kaum Beachtung. Ich vermute, dass die damals existierenden städtischen sozialen Bewegungen – beispielsweise die Umweltbewegung – mit dieser Revolte verschmolzen und auf komplizierte, wenn auch verborgene Weise dazu beitrugen, ihre politischen und kulturellen Forderungen auszuformulieren. Außerdem vermute ich, auch wenn ich es nicht beweisen kann, dass die kulturellen Transformationen, die in der Folge im urbanen Leben stattfanden, als das nackte Kapital sich die Maske des Warenfetischismus, des Nischenmarketings und des stadtkulturellen Konsumismus überzog, bei Weitem nicht unschuldig an der Befriedung waren, die bald nach 1968 einsetzte (zum Beispiel wandelte sich die von Jean-Paul Sartre und anderen gegründete Zeitung Libération ab Mitte der siebziger Jahre zu einem Blatt, das kulturell zwar radikal und individualistisch, politisch aber lauwarm, wenn nicht gar feindlich eingestellt war gegenüber einer ernsthaft linken und kollektivistischen Politik).

Ich merke diese Dinge an, da die Idee des Rechts auf Stadt in den letzten zehn Jahren ein gewisses Revival erlebt hat und dieser Umstand nicht durch das intellektuelle Vermächtnis Lefebvres (so wichtig dieses auch sein mag) erklärt werden kann. Was auf den Straßen und innerhalb der sozialen Bewegungen der Städte passiert ist, hat viel größere Bedeutung. Und ich bin mir sicher, dass Lefebvre als großer Dialektiker und immanenter Kritiker des urbanen Alltagslebens dem zustimmen würde. Beispielsweise muss die Tatsache, dass das merkwürdige Aufeinanderprallen von Neoliberalismus und Demokratisierung im Brasilien der neunziger Jahre Bestimmungen in der brasilianischen Verfassung von 2001 hervorgebracht hat, die das Recht auf Stadt garantieren, der Kraft und Bedeutung zugeschrieben werden, die urbane soziale Bewegungen (vor allem in Bezug auf die Wohnverhältnisse) für den Demokratisierungsprozess haben. Dieser verfassungsrechtliche Moment trug zur Festigung und Beförderung einer aktiven Mentalität der »rebellischen Bürgerschaft« (wie der Anthropologe James Holston es nennt) bei, was nicht auf Lefebvres Vermächtnis zurückzuführen ist, sondern auf die andauernden Kämpfe darum, wer die Beschaffenheit des urbanen Alltagslebens formen darf.2 Und wenn Konzepte wie jenes der »Bürgerhaushalte«, die es normalen Stadtbewohnern ermöglichen, sich im Rahmen demokratischer...

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