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Zum Problem der Interpretierbarkeit von Filmen

Dargestellt an ausgewählten Filmen von David Lynch

AutorMarcel Riedel
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl133 Seiten
ISBN9783638615679
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Sprachwissenschaft / Sprachforschung (fachübergreifend), Note: 1,0, Bergische Universität Wuppertal, 122 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Die Filme von David Lynch lassen sich als eine 'Erzeugung seltsamer Welten, verstörender Stimmungen und bizarrer Bilder' beschreiben, die wenig mit linearen und leicht verständlichen Erzählungen gemein haben. Sie scheinen sich in ihrer assoziativen und 'unlogischen' Erzählweise eher an der Wirkungsweise von Träumen und als an klassischen Filmerzählungen des kommerziellen Mainstreams zu orientieren und sind doch Hollywoodproduktionen, die sich einer breiten Fan-Gemeinde erfreuen. Besonders auffällig sind die polarisierten Reaktionen seitens der Kritiker, die nicht selten unsachlich und emotional ausfallen: Ortwin Thal beispielsweise bewertet den Film Blue Velvet als 'Kunstgewerbe', dessen Ende 'einem Tollhaus' gleiche. Alles gerate zu 'einem Spiel mit ästhetischer Raffinesse und durch diese verspielte Unverbindlichkeit' werde Lynchs Werk 'vollends unerträglich'. Der Rezensent Hans Günther Pflaum bewertet Lynch gar als 'Effekthascher', der nichts anderes zeige als 'sexuelle Abartigkeiten, zudem Drogen, Gewalt und Psychopathen' und 'wohl kaum über Banalitäten hinaus' gelange. Vor allem die schonungslose und explizite Darstellung von Sex und Gewalt scheint ein mögliches Hindernis darzustellen, sich auf die Geschichten David Lynchs überhaupt einzulassen. Andere enthusiastische Stimmen stehen diesen Kritiken diametral entgegen, loben Lynch als aufregendsten und innovativsten Regisseur seiner Zeit und seine Werke als atemberaubende Meilensteine der amerikanischen Filmgeschichte. Die Beurteilungen der Filme stehen einander folglich polar gegenüber, und es liegen unzählige Interpretationsansätze vor - wodurch die Forschung zu Lynchs Filmen der zu Kafkas Romanen und Erzählungen ähnelt -, wobei zu gelten scheint: Jeder scheint möglich, keiner der 'richtige' zu sein. Bereits Blue Velvet wird von dem Filmkritiker Corrigan als ein typischer Vertreter 'unlesbarer Filme' klassifiziert. Einige Kritiker gehen in ihrer Rezension von Mulholland Drive so weit, dass sie dem Zuschauer resignierend empfehlen, 'ihn sich am besten als bloßen Traum' zu erklären, um zu einer 'schlüssig 'vernünftigen? Interpretation'9 zu gelangen.

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Leseprobe

3. Traumhaftes Erzählen


 

3.1 „Traumhaftes Erzählen“ in Blue Velvet


 

„It’s a strange World, isn’t it?“ (Jeffrey Beaumont)

 

3.1.1 Wie wird erzählt


 

Auch in Blue Velvet zeigt uns David Lynch die Welt als eine Vereinigung von Widersprüchen: „Life is both good and bad, as is everyone who lives it“[214]. Der Regisseur beschreibt den Film als eine „story of love and mystery […] about a guy who lives in two worlds at the same time, one of which is pleasant and the other dark and terrifying.“[215]

 

Blue Velvet folgt wie Mulholland Drive dem Erzählprinzip der Möbiusschleife: Ein blau-violetter Samtvorhang öffnet sich, und der Prolog des Films zeigt den Zuschauern in slow motion und mit einer Weichzeichnung verfremdet idyllische Bilder einer amerikanischen Kleinstadt namens Lumberton. Ein winkender Feuerwehrmann auf einem nostalgischen Feuerwehrauto der 50er Jahre fährt langsam vorüber; eine alte Dame lotst lächelnd mit einem Stoppschild Kinder über die Straße; ein leuchtend weißer Lattenzaun, gelbe Tulpen und rote Rosen präsentieren sich farbenprächtig unter einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel, und auf der Tonspur wird ein „traurig-schöner Kuschelsong aus den Fünfzigern“[216] eingeblendet, der Titelsong Blue Velvet von Bobby Vinton (1963). So könnte ein „Werbefilm für Frühstücksmargarine“ anfangen, „eine Seifenoper oder ein harmloser Familienfilm“[217]. In einer zirkulären Bewegung kehren diese Bilder am Ende des Films wieder zurück, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass der Zuschauer sie „auf den zweiten Blick“ anders bewertet als zuvor.[218] In der letzten Einstellung des Epilogs wird die Schlussstrophe des Titelliedes Blue Velvet eingeblendet, die im Prolog ausgelassen wurde, wodurch sich der Kreis der Erzählung auch auf der auditiven Ebene schließt. Obwohl die Erzählform aufgrund der nichtlinearen Erzählweise offen ist, weist der Film auf der Bild- und Tonebene eine innere Geschlossenheit auf.

 

3.1.2 Was wird erzählt


 

Oberflächlich betrachtet erzählt Blue Velvet zunächst eine Detektivgeschichte, die jedoch nicht zu Ende geführt wird[219] und später in eine Liebesgeschichte mündet. Nach den anfänglichen Bildern einer vordergründig intakten Welt, einem idealisierten, aber auch naiven und kitschigen Amerikabild[220], bricht das Unheimliche in die vertraute, sichere Umgebung ein, indem der ältere Mann im Garten, Herr Beaumont, plötzlich einen Schlaganfall erleidet und kollabiert. Die Kamera fährt langsam unter die Grasnarbe und zeigt in einer Makroaufnahme ein Gewimmel von dunklen Käfern, das auf der Tonebene von einem schmatzenden Geräusch untermalt wird.

 

Der Sohn, Jeffrey Beaumont, kehrt nach dem Unfall in seine Heimatstadt zurück, um das Geschäft seines Vaters weiterzuführen. Nachdem er seinen sprachlosen und bewegungsunfähigen Vater im Krankenhaus besucht hat, findet er auf dem Heimweg ein abgeschnittenes menschliches Ohr auf einer Wiese, das er zunächst auf dem örtlichen Polizeirevier abgibt. Von seiner Neugier gefangen, besucht Jeffrey den zuständigen Detective Williams in seiner Nachbarschaft und wird von dessen Tochter Sandy zur Nachclubsängerin Dorothy Vallens geführt, die sie mit dem Ohr in Verbindung wähnt. Jeffrey kann Sandy als Komplizin gewinnen und verschafft sich Zugang zur Wohnung der Sängerin, während diese als Blue Lady im Slow Club auftritt und Blue Velvet singt. Sie kehrt unerwartet früh in das Deep River Apartment zurück, entdeckt Jeffrey im Kleiderschrank, bedroht ihn mit einem großen Messer und zwingt ihn zu einem bizarren Sexspiel. Als der kriminelle und einsilbige Frank, der Dorothys Ehemann Don und ihren Sohn Donny entführt hat, auf einen Überraschungsbesuch bei Dorothy vorbeikommt, versteckt sich Jeffrey wieder im Kleiderschrank. Durch die Luftschlitze der Schranktür wird er Zeuge, wie Frank Dorothy brutal erniedrigt, misshandelt und vergewaltigt. Nachdem Frank die Wohnung verlassen hat, will auch Jeffrey gehen, bleibt jedoch auf Dorothys Bitte hin bei ihr. Bei einer erneuten Begegnung der beiden schlafen sie miteinander, und Jeffrey gibt nach anfänglichem Zögern Dorothys Wunsch nach, sie zu schlagen. Obwohl sich zwischen Jeffrey und Sandy eine romantische Liebe entwickelt, fühlt er sich weiterhin zu Dorothy und dem geheimnisvollen Fall hingezogen. Bei seinen Nachforschungen stößt er auf Franks Drogengeschäfte. Als dieser Jeffrey zufällig bei Dorothy entdeckt, zwingt er beide zu einer „Spritztour“ in ein abgelegenes Bordell, dessen Besitzer Ben die vermissten Entführungsopfer in Gefangenschaft hält. Auf der Rückfahrt schlägt Jeffrey Frank ins Gesicht, um Dorothy vor dessen Zudringlichkeiten zu schützen; Frank verprügelt ihn darauf und lässt ihn auf der nächtlichen Straße zurück. Lädiert meldet Jeffrey seine Ergebnisse Sandys Vater, der ihm weitere Nachforschungen untersagt. In der Nacht erscheint Dorothy verwirrt und geschändet vor Jeffreys Haus und Sandy wird der Liaison zwischen den beiden gewahr. Jeffrey kehrt ein letztes Mal zu Dorothys Wohnung zurück und trifft dort auf die Leichen ihres Ehemannes und eines verdeckten Ermittlers. Als ihm Frank im Treppenhaus begegnet, flüchtet er in den Kleiderschrank und erschießt Frank, als dieser die Tür öffnet. Jeffrey erwacht auf einer Liege im Garten seiner Eltern und die Idylle ist wiederhergestellt: Mister Beaumont bewacht wohl genesen mit Sandys Vater den Barbecue-Grill, während die Frauen im Haus das Essen richten und dabei einem künstlichen Rotkehlchen[221] beim „Fressen“ eines Käfers zusehen. Dorothy sitzt mit ihrem Sohn wiedervereint im Park.

 

3.1.3 Traumelemente und das Verschwimmen der Erzählebenen


 

Bereits die verlangsamte Geschwindigkeit der Eingangssequenz suggeriert einen „irrealen und traumähnlichen Charakter“[222]. Das Geschehen wird zudem durch einen zur Seite schwebenden Samtvorhang eröffnet, der neben den langsamen Überblendungen den nichtwirklichen, also fiktionalen und traumhaften Eindruck[223] des Films unterstreicht: Wie in einem Theater lüftet sich der Vorhang und gibt den Blick auf ein Schauspiel frei[224], auf eine Geschichte in einer Kleinstadt, die es nur in Lynchville gibt und gegebenenfalls noch „in der kollektiven Imagination“[225]. Im Epilog schließt sich der Vorhang wieder und beendet die Vorstellung.

 

Die Traumhaftigkeit wird auf der inhaltlichen Ebene zum einen durch Traumelemente, zum anderen durch eine Traumerzählung betont: Sandy erzählt Jeffrey in einer kitschig-romantischen Szene (Segment 24[226]) von ihrem märchenhaften „Rotkehlchentraum“, in dem die Rotkehlchen die Liebe symbolisieren und das Licht in die dunkle Welt bringen. Ferner zeigt der Film Albträume Jeffreys, die in die laufende Handlung eingeflochten werden und sich dadurch nicht mehr eindeutig von seinen Erinnerungen an tatsächliche Erlebnisse unterscheiden lassen (#22, #36). Dieser Eindruck vom Verschwimmen der Erzählebenen wird außerdem durch ein Hineinzoomen der Kamera in das besagte einzelne Ohr am Anfang des Films genährt (#8). Am Ende schraubt sich die Kamera aus Jeffreys Ohr wieder heraus, und er erwacht auf einer Liege im Garten seiner Eltern (#48). Das Ohr dient hier offenbar als Eingang in eine andere Welt: „Es musste ein Ohr sein, weil ein Ohr ein Eingang ist. Er steht offen, man kann eindringen und gelangt in fremde Gefilde“[227]. Für Georg Seeßlen steht fest: „Wir befinden uns in einem Kopf.“[228] Vielleicht ist der Film also nur ein Traum, in dem die Figuren ihrerseits Träume erzählen und erleben? Da es sich jedoch offenbar nicht um ein und dasselbe Ohr handelt, sondern erst um das von Don Vallens und später von Jeffrey, ist es fraglich, wessen Traum erzählt wird. Unterstützt wird diese Uneindeutigkeit dadurch, dass Jeffrey in einem traumhaft erzählten Epilog erwacht, der sich bildästhetisch nicht von dem Prolog unterscheidet. Auch das Eintauchen in das Ohr wird in eine laufende Handlung eingebettet und kann damit nicht als klar markierter Beginn eines Traumes angesehen werden.[229] David Lynch isoliert scheinbar unmotivierte Objekte wie ein Ohr und ein Samtvorhang, die dem Zuschauer als Detektiv ein Sinnversprechen bieten, es aber nicht einlösen.[230] Auf der Tonebene werden Lieder aus den 50er und 60er Jahren eingeblendet, die durch ihre auffällige Langsamkeit nicht nur nahezu einen Stillstand der Zeit evozieren, sondern auch durch Roy Orbisons Titel  In Dreams das Thema Traum wieder aufgreifen. Das Lied wird in einer grotesken und unheimlichen Szene von dem androgynen Bordellbesitzer Ben, der auffällig geschminkt wie ein Theaterschauspieler auf einer Art Bühne[231] für Frank auftritt (#33), lippensynchron in eine helle Baustellenlampe (die als Mikrofonersatz dient) gesungen. In einer weiteren Szene (#35) wird der Liedtext von Frank bedrohlich und emphatisch nachgesprochen, während er mit den Fingern auf Jeffreys Kopf deutet und ihm erklärt, dass er ihn in seinen Träumen nicht...

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