Mein entsorgter Vater
Als Kleinkind hatte meine Mutter mich bei ihren Eltern untergebracht, offenbar direkt nach einer höchst seltsamen Trennung. »Ich kam am Abend von der Arbeit nach Hause, und deine Mutter war mit dir und dem Großteil unserer Möbel weg, einfach verschwunden. Gesehen habe ich dich als Kind dann nie mehr«, erzählte mir mein Vater viele Jahre später.
Ich erfuhr, dass meine Großeltern von Anfang an ihre Tochter, also meine Mutter, in ihrem unbarmherzigen Bestreben unterstützten, jeglichen Umgang mit meinem Vater zu verhindern. Meine Mutter hatte die Ehe dadurch erzwungen, dass sie von ihm schwanger wurde. Also musste er sie anstandshalber heiraten, gegen den Willen ihrer und seiner Eltern. Die Ehe stand schon mal unter keinem guten Stern, zudem passten meiner Ansicht nach die beiden überhaupt nicht und nirgendwo zusammen. Eine Scheidung wäre da in meinen Augen die eigentlich logische Konsequenz gewesen. Nur nicht das Wie und dessen Folgen.
Ich, das gemeinsame Kind, erhielt weder Besuche noch Telefonate, keine Briefe und keine Geschenke von meinem Vater. Wie er mir schmallippig mitteilte, stand er jeweils vor verschlossenem Gartentor, oder wenn er es bis zur Haustüre meiner Großeltern schaffte, wurde ihm die vor der Nase wieder zugeschlagen, und niemand reagierte auf sein Klingeln oder Klopfen. Seine hingestellten Mitbringsel landeten wohl im Müll. »Ich hatte überhaupt kein Recht auf dich, auf meine Tochter, null.«
Von all dem bekam ich nichts mit. Ich vermisste meinen Vater wahrscheinlich auch nicht groß, da ich ja erst wenige Monate alt war. Später trug ich nicht mal seinen Namen, sondern den meiner Großeltern beziehungsweise meiner Mutter, dies bis weit in die Schulzeit hinein. Nicht zu vergessen: Ich rede hier von einer Zeit, als ein Kind noch ganz selbstverständlich den Namen des mit der Mutter verheirateten Vaters trug.
Ich war 16 Jahre alt, als meine inzwischen wieder verheiratete Mutter ihn zur Feier meiner Konfirmation einlud. Wahrscheinlich, weil sie der Eventualität vorbauen wollte, dass ich in einer spätrebellischen Phase mich doch einmal auf die Suche nach meinem Vater begeben könnte. Vorsorglicherweise hatte sie ihn rundum schlechtgemacht, und zwar in jeglicher auch nur erdenklichen Hinsicht. Ich erwartete also einen etwas dümmlichen, ungehobelten Handwerker mit null Manieren, zudem ein Langweiler und beruflicher Totalversager, mit dem ich mich beim offiziellen Festessen höflicherweise, da ja doch recht eng verwandt, etwas unterhalten sollte. Ich hatte bereits meine Zähne und Klauen ausgefahren, sollte mein Erzeuger sich mir gegenüber auch nur etwas danebenbenehmen. Denn fies musste er ja sein, da hatte mir meine Mutter inzwischen so allerlei erzählt. Allerlei, nur nicht die Wahrheit.
Stattdessen lernte ich einen hochsensiblen, warmherzigen und belesenen Mann kennen, der sogar aus einer angesehenen Oberländer Familie stammte. Er schenkte mir Bücher und eine Kopie des Familienwappens, von dessen Existenz ich ebenfalls keine Ahnung hatte. In seiner Begleitung war sein bester Freund, der sich als mein Pate entpuppte. Auch von ihm hatte ich nichts gewusst. Plötzlich hatte ich nicht nur einen Vater, sondern auch noch einen Paten – zwei groß gewachsene, gut aussehende Männer, jeder mit Familie. Und beide wesentlich glücklicher in ihrer Ausstrahlung als meine Mutter und deren zweiter Mann, mein sogenannter Stiefvater.
Bei der Nachspeise erfuhr ich, dass ich sogar Halbgeschwister hatte … Und auch, dass die zweite Frau meines Vaters sich ihrerseits sehr darum bemüht hatte, einen Kontakt herzustellen, vor allem zum Zeitpunkt, als sie mit dem ersten Kind schwanger war. »Ich dachte, ihr zwei könntet dann später auch mal zusammen plaudern und spielen, ihr seid ja Schwestern«, erzählte sie mir Jahre später. Sie musste längere Zeit miterleben, wie sehr mein Vater unter der Trennung von mir litt. Natürlich scheiterte auch sie mit ihren brieflichen und telefonischen Kontaktversuchen, da meine Mutter und deren Eltern mich ja vollständig abschirmten – mich entrechteten, indem sie meinen Vater entsorgten.
Gerne würde ich nun erzählen, dass ab meiner Konfirmation alles anders wurde, doch der Kontakt brach gleich wieder ab. Dafür sorgte meine Mutter, die sehr empfindlich reagierte, als sie mitbekam, wie gut mein Vater und ich uns auf Anhieb verstanden hatten. »Solltest du diesen Mann je besuchen, enterbe ich dich. Dann bist du nicht mehr meine Tochter«, drohte sie wiederholt. Oder weinerlich: »Du weißt überhaupt nicht, was der Mann und seine Mutter mir alles angetan haben. Er war völlig von ihr abhängig, und sie hasste mich. Wenn du je zu ihm gehst, fällst du mir in den Rücken und machst mich unglücklich.«
Etliche Jahre später suchte ich meinen Vater dann doch auf, zusammen mit meinem Ehemann. Ich war schwanger und dachte, es könnte vielleicht einen Weg geben, meinerseits doch noch so etwas wie eine einigermaßen vernünftige Herkunftsfamilie zu entwickeln. Doch fanden mein Vater und ich in all den folgenden Jahren keinen wirklichen Zugang zueinander, trotz viel Sympathie und gegenseitigem Bemühen. Darüber hinaus fiel ihm die praktisch übergangslose Großvaterrolle recht schwer, was die ganze Beziehung nicht gerade vereinfachte.
Es war schlicht und einfach zu spät, um emotional noch etwas Ähnliches wie eine Vater-Tochter-Beziehung aufzubauen. Für mich hatte mein Großvater diese Lücke ausgefüllt. Ganz offensichtlich derart umfänglich und gut, dass ich als Kind nicht mal groß Fragen gestellt hatte. Klar litt im Nachhinein das Bild meines Großvaters in meinen Augen, denn schließlich entpuppte auch er sich als verlogen, genauso wie meine Mutter und meine Großmutter. Aber da war ich schon längst erwachsen, abgenabelt und führte mein eigenes Leben. Meine Kinderseele war durch den entsorgten Vater nicht lädiert worden, und ich musste in dieser Hinsicht keine Scherbenhaufen aufklauben und den Verlust verarbeiten. Im Gegensatz zur Seele meines Vaters.
Immerhin konnten er und ich uns ausführlich austauschen, auf diese Weise die Löcher der Vergangenheit ein wenig füllen und einen Großteil der Lügen aufdecken, die meine Mutter über ihn und sich selbst erzählt hatte. Überwältigend für mich war die immer wieder aufbrechende Bitterkeit meines Vaters, der ganz offensichtlich nie wirklich mit all den Kränkungen und Verletzungen fertiggeworden war, die meine Mutter ihm zugefügt hatte.
Ich konnte seine Leidensgeschichte teilweise aus den mir vorgelegten Kopien der Briefe entnehmen, die er und seine zweite Frau damals und in schönster Handschrift an mich schrieben, die aber nie den Weg zu mir fanden. Auch Kopien der Bittbriefe an meine Mutter lagen mir vor – samt ihren abschlägigen, in einem höhnischen Stil formulierten Antworten. Ich konnte altmodisch geränderte Fotos betrachten, die meinen Vater zeigten, wie er das Kleinkind, das ich war, liebevoll im Arm hielt, wie er mich bei Sonnenschein im Garten in einem Zuber badete, während ich ihn zahnlos anstrahlte.
»Ich habe dir auch häufig die Windeln gewechselt, wenn deine Mutter wieder mal einen ihrer Rappel hatte und ihr alles zuwider war, auch du«, gestand er mir. »Ich habe immer sehr aufgepasst, dass niemand das bemerkte. Ein Mann und Windeln wechseln … Damals hätte man mich im Dorf ausgelacht.«
Auch zahlen musste er für mich, für seine damaligen Verhältnisse sogar sehr viel! Dafür hatte der Anwalt meiner Mutter gesorgt, mein Vater selbst konnte sich keinen Rechtsbeistand leisten. Weiter erfuhr ich, dass er damals neben seinem beruflich anstrengenden Alltag noch Heimarbeit annehmen musste, weil während des Wachsens seiner zweiten Familie diese regelmäßigen monatlichen Zahlungen schwer ins Gewicht fielen.
Dabei ist mir bewusst, dass meine Mutter sein Geld nicht gebraucht hätte, aber dieses einforderte bis zu meinem 20. Geburtstag. Angeblich hatte es auch meiner Ausbildung dienen sollen. De facto musste ich mein Studium selbst finanzieren, da meine Mutter hinter meinem Rücken mein Sparguthaben mitsamt meinen ganz persönlichen Ersparnissen einkassiert hatte – was meinen Vater keineswegs erstaunte (»Ja, so ist sie! So habe ich sie gekannt.«).
Einmal fragte ich ihn, warum er denn nicht mehr um mich gekämpft habe? Es hätte doch auch damals rechtliche Mittel und Wege gegeben. Hier verstummte er, brach das Gespräch ab und ging in den Garten. Seine Frau bat mich dann, nicht weiter in ihn zu dringen. Ein Kampf gegen meine Mutter und deren gut situierte Eltern wäre damals in der Gegend ziemlich aussichtslos gewesen, zumal mein Großvater noch ein bekannter Lokalpolitiker gewesen war. Auch sei mein Vater kein Kämpfer, nie gewesen. Er schlucke Leid wie Wut jeweils still in sich hinein, sein Trost seien die Bücher.
Prompt musste ich merken, wie sich bei mir, einer längst erwachsenen Frau, eine leise Irritation gegenüber meinem Vater einschlich. Er hat seiner Ex, meiner Mutter, nicht Paroli bieten können. Er ließ ihr unerhörtes Verhalten kampflos, wenn auch erzürnt und traurig, einfach über sich ergehen. Er war ein sanfter Mann.
Nun, mein Vater ist tot. Ab und zu besuche ich sein Grab und entschuldige mich für die Frau, die meine Mutter ist. Er wollte ja weder sie noch ein Kind mit ihr. Aber damals gab es für einen gut erzogenen Mann halt nur eines: heiraten. Die Rollenbilder und -verständnisse waren eindeutig: Ein Kind ist unterwegs, der Mann hatte seine (Mit-)Schuld zu begleichen, er musste die Frau ehelichen, dies auch dann, sollte sie ein Flittchen gewesen sein.
Ich werde wohl nie die Motive und Grundkonflikte meiner Mutter erfahren. Welches ihre Gründe für diese unpassende Partnerwahl...