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Vertrauen und Gewalt

Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne

AutorJan Philipp Reemtsma
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl576 Seiten
ISBN9783868545814
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
'Die Probleme der Gewalt sind immer noch sehr dunkel', schrieb Hannah Arendt. Warum sich auch die Soziologie mit den Phänomenen der Gewalt schwer tut, ist eine der zentralen Fragen, mit denen sich Jan Philipp Reemtsma beschäftigt. Er analysiert, was Vertrauen und vor allem Vertrauen in die Moderne heißt - und in welcher Weise dieses Vertrauen an die besonderen Legitimationsanforderungen gebunden ist, denen der Gebrauch von Gewalt in der Moderne unterworfen ist. Wie kann extreme Destruktivität neben dem modernen Programm der Gewalteinschränkung oder trotz dieses Programms bestehen und warum besteht das Vertrauen in die Moderne ungeachtet der Gewaltexzesse des 20. Jahrunderts fort? Jan Philipp Reemtsma untersucht die Phänomene der Gewalt in ihrem unterschiedlichen Körperbezug und in ihrem Verhältnis zur Ausübung von Macht, er fragt, aus welchem Grund bestimmte Gewaltformen in der Moderne tabuisiert worden sind, obwohl sie nach wie vor fortbestehen, und in welcher Weise dieses Fortbestehen besondere Wahrnehmungs- und Analyseschwierigkeiten produziert. Dieser Blick auf die Moderne konkurriert nicht mit anderen, sondern ergänzt sie und bedient sich dabei einer besonderen Beschreibungstechnik. Weiträumige Überblicke über historische, politische, literarische oder philosophische Entwicklungen von der Antike bis in unsere Gegenwart wechseln mit einer Konzentration auf konkrete Ereignisse ab; soziologische Reflexionen und historisches Beispielmaterial werden durch philologische Analysen ergänzt und anhand einer Auseinandersetzung zum Beispiel mit William Shakespeare als einen Theoretiker von Macht und Gewalt oder anhand einer Betrachtung von Friedrich Schillers Konzeption des Desperado im 'Wilhelm Tell' verdeutlicht. Jan Philipp Reemtsma leistet einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis der Beziehung, die zwischen Vertrauen, Gewalt und Macht herrscht.

Jan Philipp Reemtsma, Prof. Dr. phil., lebt und arbeitet vorwiegend in Hamburg. Er ist Gründer und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung sowie der Arno Schmidt Stiftung und Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Er hat zahlreiche Aufsätze und Bücher zu literarischen, historischen, politischen und philosophischen Themen veröffentlicht.

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Leseprobe

Einleitung: Das Rätsel


»Wie isses nun bloß möglich«, sagte meine Mutter.

Walter Kempowski, Tadellöser & Wolff

»Mein Werk wird später wahrscheinlich auf den sattsam bekannten Satz ›Wie isses nun bloß möglich!‹ zusammenschrumpfen, und das ist für ein Menschenleben schon viel, analog zu ›Ich weiß, daß ich nichts weiß‹«, schrieb Walter Kempowski am 5. März 1990 in sein Tagebuch.1 Schön ist die Kombination dieser Frage mit dem Aphorismus des Sokrates. Doch ist auf diese berühmte Frage denn überhaupt anders zu antworten, als der Roman es tut, nämlich deiktisch?

»›Wie isses nun bloß möglich‹, sagte meine Mutter. ›Ich glaub’, wir gehen ’rein‹.«2

Jede historiographische Abhandlung hat wie jeder Roman ihre eigene Deixis, keine erfasst die Komplexität des Geschehens, das gilt für jede Zeit und ist trivial – auch wenn auf solche Trivialitäten immer mal wieder hingewiesen werden muss. In Walter Kempowskis »Tadellöser & Wolff« tritt die Frage, die nicht nur die Geschichtsschreibung, sondern unsere zivilisatorischen Gewissheiten so strapaziert hat – wie es denn »dazu« hat kommen können –, als mütterlicher Routineschnack auf. Der Roman zeigt, wie das, was uns als Extrem und extremer Bruch mit aller Normalität erscheinen will und muss, als schiere Normalität gelebt werden konnte – ins Prinzipielle gewendet: kann. Und ebendarum war es – wird es – »möglich«. Ist mehr zu sagen?

Zu fragen ist: Wieso hält sich die Frage so hartnäckig? Wieso taucht sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach Abertausenden von Seiten publizierter historischer Forschung in ihrer so schlichten 50er-Jahre-Gestalt wieder auf: Wie konnten »ganz normale Familienväter so was tun«?3 Lassen wir die immer wieder Erstaunen machenden Feststellungen, Leute wie Eichmann oder Höß seien normale Familienväter gewesen – was in aller Welt versteht jemand, der so etwas sagt, unter »ganz normal«? –, beiseite, sie mögen vielleicht nur darum erstaunlich sein, weil sich inzwischen die Vorstellung von einem akzeptablen Benehmen von Familienvätern geändert hat. Dass Familie vor gar nichts schützt, müsste eigentlich einem normalen Räsonnement zugänglich sein. Als Schopenhauer nach einer Formulierung suchte, die Bosheit des Homo sapiens durch eine Hyperbel zu veranschaulichen, und auf den Satz kam, ein Mensch sei fähig, einen anderen zu töten, um sich mit dessen Fett die Stiefel zu schmieren, fügte er hinzu, er bezweifle, dass es sich dabei wirklich um eine Hyperbel handele.4 Für diese Einsicht waren die historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht nötig. Zwar war Auschwitz präzedenzlos – erst die Deutschen des 20. Jahrhunderts brachten es fertig, dem Morden eine Stadt zu gründen –, aber diese Präzedenzlosigkeit bedeutet nicht, dass wir nicht seit je gewusst hätten, dass Menschen durch die Jahrhunderte immer wieder in der Lage gewesen sind, Scheußlichkeiten zu begehen, die uns fassungslos machen. Ist das Säuglinge-mit-dem-Kopf-gegen-eine-Wand-Schlagen, von dem wir immer wieder lesen müssen, eine habituelle Handlung des Homo sapiens oder eine habituelle Phantasie, die er über seinesgleichen anstellt? Man ist versucht zu sagen: gleichviel. Tzvetan Todorov zitiert Quellen der Conquista, in denen die Rede davon ist, dass Menschen Menschen töten, nur um auszuprobieren, ob ihre Schwerter, die sie zuvor mit Flusskieseln geschärft haben, wieder so sind, wie sie sie haben wollen.5 »Man hat weder die Zeit noch das Bedürfnis, in Erfahrung zu bringen, wen man gerade tötet.«6 Ist es unvorstellbar, dass solche Leute Kinder auf ihren Knien geschaukelt haben? Wir mögen es uns nicht vorstellen, aber wir wissen, dass es durch die Geschichte so gewesen ist. Niemand ist ernsthaft der Meinung, der Mörder, der zu seiner Familie heimkehrt, würde sich nicht die Hände waschen, würde gar zu Hause das Morden fortsetzen. Aber müsste ihn nicht beispielsweise die Erinnerung an die eigenen Kinder vom Morden anderswo abhalten? Tatsächlich ist manchmal jemandem so eine Assoziation in die Quere gekommen,7 aber es ist nicht die Regel gewesen und es war, fabula docet, auszuhalten. Zuweilen ist es gerade der Gedanke an die Geliebten daheim, der die zureichende Motivation für den Mord liefert, jedenfalls setzt der Chef des Reserve-Polizeibataillons 101, Major Wilhelm Trapp, auf diese Möglichkeit.8 Das 20. Jahrhundert liefert uns dafür Beispiele in schrecklicher Zahl, aber für diese zwar deprimierende, indes leider auch plausible Einsicht brauchen wir die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht.

Den Versuch, die gesamte jüdische Bevölkerung Europas zu ermorden, die Einzelnen, die Gruppen, deren man habhaft wurde, zu erschlagen, zu erschießen, zu vergiften, eine präzedenzlose Monstrosität zu nennen, bedeutet nicht, dass die Taten der einzelnen Mordbeteiligten präzedenzlos waren. Die Akteure des Genozids unterschieden sich nicht von der cäsarischen Soldateska, die die Volksstämme der Usipeter und Tencterer gegen jedes auch damals gültige Völkerrecht (ein etwas anachronistischer Begriff, obwohl ja »ius gentium« genau das bedeutet) buchstäblich ausrotteten. Sie erschlugen und ertränkten nicht allein die Waffenfähigen, sondern ebenso die Frauen und Kinder.9 Das Nämliche gilt für den »Aufbau des Sozialismus« in der Sowjetunion: Was zuvor nur Ausnahmezustände, wie etwa die sullanischen Proskriptionen10 oder die paranoiden Auswüchse einer von Aberglauben durchwirkten Gesellschaft, ausgezeichnet hatte, die Denunziation, wurde nicht erst unter Stalin, dort aber in ganz absurdem Ausmaß beherrschender Politikstil. Auch dies ist präzedenzlos gewesen, nicht aber das Denunzieren als solches, nicht der Denunziant, der auf diese Weise durchs Leben kommen will. Präzedenzlos ist ein Lagersystem wie das von Deutschland aus vor allem über Osteuropa ausgedehnte, und präzedenzlos ist das System des sowjetischen Gulag – nicht präzedenzlos ist der Typus des Lageraufsehers, des routinierten Sadisten, des Quälers, der irgendwann agiert, als habe er einfach vergessen, dass es Menschen sind, auf die er da einprügelt. »Cats scratch, dogs bite, men kill« – auf diese Formel hat Ruth Klüger mir gegenüber die Sache gebracht. Da gebe es nichts zu wundern, nichts zu erklären. Warum also hält sich die Frage der Mutter Kempowski so hartnäckig?

Die Formulierung der Wie-ist-es-möglich-Frage in der Familienväterform ist aufschlussreich, gerade weil sie so offensichtlich unsinnig ist. Es handelt sich, in Abwandlung des Freudschen Konzepts der »Deckerinnerung«, um eine Deck-Frage. Die verdeckte Frage lautet: Wie ist es möglich, dass die Mörder unsere ganz normalen Väter wurden? Diese Frage ist deshalb so vertrackt, weil sie uns zu einer psychisch kaum bewältigbaren Ambivalenz nötigt und moralisch vor (lassen wir offen, ob nicht beantwortbare, jedenfalls) nicht zureichend beantwortete Fragen stellt11 – und zwar trotz aller tatsächlichen oder in der Erinnerung stilisierten 68er-Revolten und Jahrhundertwende-Väter-und-Großväterliteratur. Aber auch hier ist noch einmal zu fragen: Was irritiert uns so? Denn zweifellos hat sich nicht jeder Sohn und jede Tochter eines mörderischen Vaters durch das Wissen um dessen Leben so irritiert gezeigt, dass sie darüber in rastlose Theorieproduktion gerieten. Was ich »psychisch kaum bewältigbare Ambivalenz« genannt habe, hat eine unabdingbare Voraussetzung: Es muss ein moralischer Hiat zwischen der Moral, die die Taten legitimierte, und der, von der aus wir heute die Taten bewerten, bestehen. Dort, wo sich ein glücklicherweise kleiner Teil der Enkelgeneration mit Holocaustleugnung und der Parole »Ruhm und Ehre der deutschen Wehrmacht« in der Geschichte einrichtet, entsteht eine solche Ambivalenz nicht, und dort, wo, wie es in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion weiträumig geschieht, die Massenmorde entweder als Taten »der anderen« (zum Beispiel von der Ukraine aus die der Russen) oder als notwendige Begleiterscheinung von Modernisierung und gewonnenem vaterländischen Krieg angesehen werden, findet sich dergleichen nur ausnahmsweise.12 Auch für andere Schrecken des 20. Jahrhunderts ist es von Belang, ob die Legitimationen, die die Tat begleiteten, nach der Tat außer Kurs gerieten – siehe Hiroshima und Nagasaki.13 Das ist im Falle Deutschlands besonders gründlich geschehen, die Nürnberger Prozesse waren eine notwendige Bedingung dafür,14 aber, wie nachfolgende Jahrzehnte bis hin zu den jahrelangen Kontroversen um die Ausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht zeigten,15 keine hinreichende. Gleichwohl ist der moralische Bruch mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 in den ersten Jahren nach 1945 erfolgt. Als kontrovers erwiesen sich immer wieder Aspekte...

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