Historisch nachgewiesen ist der Gott Mithra[39] im 14. Jahrhundert v.Chr. in einem Vertrag zwischen dem Mitanni-Reich und den Hethitern.[40] Er ist bekannt aus dem iranisch-persischen Kulturraum, wo er neben seiner Funktion als Träger des Lichtes auch den Vertrag symbolisiert. In den indischen Veden ist er ebenfalls in seiner Mittler-Funktion bekannt, nämlich vermittelt er zwischen Himmel und Erde, Hell und Dunkel, Gut und Böse.[41] Das zentrale Motiv in den Mysterien - die Stiertötung oder die sogenannte Tauroktonie - ist bekannt in der altiranischen Mythologie als Schöpfungsakt, der in den später entstandenen römischen Mysterien als Werk von Mithras dargestellt wurde.
Im indischen Pantheon war Mithras zunächst einer der niedrigen Naturgötter. Im Avesta, das heilige Buch des Zoroastrismus, erfolgte eine extreme Entwicklung: die Lichtnatur des Gottes wurde auf das höchste betont und er näherte sich eindeutig nach Bedeutung dem Hauptgott Ahura-Mazda. Die nächste wichtige Umgestaltung Mithras fand im babylonischen Kulturraum im 6. Jh.v.Chr. statt. Hier kam er mit der babylonisch-chaldäischen Astralreligion im Kontakt und wurde mit dem Sonnengott Samas gleichgesetzt. Ausgebildet wurde ebenfalls der Bezug – wenn auch etwas schwer nachvollziehbar – zu Zrvan (griech. Aion), der Gott der unendlichen Zeit. In den Mithräen erkennt man ihn als ein Wesen mit Menschenkörper und Löwenkopf, umwunden von einer Schlange (Abb. 1).[42] Bis der Mithraskult Rom erreichte, war die Kultlegende komplett ausgebildet.
Der römische Mithras entwickelte sich dementsprechend aus indischen und iranischen Gottheiten, die mit Licht, Gerechtigkeit, Freundschaft und Vertrag assoziiert wurden. Er stand vom Anfang an zumindest in Verbindung mit dem Sonnengott Sol, und in einer großen Zahl von Darstellungen stand er auch über ihm.[43] Der auffälligste Unterschied ist allerdings, dass in der altpersischen Tradition keine Stiertötung durch Mithras bezeugt ist.[44]
Zu den Mysterienkulten gehörte üblicherweise ein hieros logos[45], der im Mithraskult nur als eine Bildersequenz um das zentrale Stiertötungsmotiv bei vielen der Reliefsdarstellungen vorliegt. Ein sehr auffälliges Merkmal in der Mythosgeschichte um Mithras ist seine Geburt. Er wurde von keiner Frau oder Jungfrau geboren, sondern von einem Fels. Die archäologischen Zeugnisse sind darüber eindeutig- Mithras kam aus dem Fels heraus und hielt entweder eine Fackel oder einen Dolch, mit dem er später den Stier tötete.[46] Dieses mythische Ereignis ist nur in soweit relevant für die vorliegende Arbeit, um die Frauenausschließung im Mithraskult auch auf mythologischer Ebene zu betonen. Einige anderen Episoden vom Mythos können mit Hilfe der Ikonographie ebenfalls rekonstruiert werden. Mithras tötete den Urstier in seiner Höhle und dadurch erschuf er das Leben auf der Welt. Mit seinem Bogen schoss der Gott an einen Felsen, wobei Wasser hervorströmte. Es gab eine Art von Auseinandersetzung zwischen Mithras und dem Sonnengott. Sie versöhnten sich aber letztendlich und es fand ein gemeinsames Mahl statt, anschließend flogen sie mit dem Sonnenwagen zurück zum Himmel.[47]
Als Medium von komplizierten Symbolstrukturen verschafft der Mythos einfache Mittel zu Selbstidentifikation. Die Anhänger entwickeln somit das Verlangen, diesen Mythos in symbolischer Form zu reproduzieren, weil er ihnen eine Realitätserklärung bietet.[48] Die Darstellungen, die den Mithras-Mythos vermitteln, hatten auch eine Erziehungsrolle[49], was ihre ähnliche Struktur überall im römischen Reich erklärt.[50] Der Verweis auf fremden Ursprung diente dazu, eine symbolische Autorität außerhalb von Rom zu definieren, was zusätzlich die Andersartigkeit des Kultes im Vergleich zur traditionellen Religion unterstrich und dadurch ihn auch attraktiver machte.[51]
Soziologisch gesehen waren die Mithrasmysterien eine ausschließlich für Männer bestimmte Gruppenreligion, die besonders attraktiv für Militärangehörige und für die kaiserliche Verwaltung war.[52] Um die vorhandenen Informationen richtig auswerten zu können, muss am Anfang noch vermerkt werden, dass epigraphische Zeugnisse immer eine bestimmte Gruppe im Vordergrund auf Kosten von anderen stellen. Einfluss darauf hatten verschiedene Traditionen von Anbetung, das individuelle Vermögen sowie die Vertrautheit mit der epigraphischen „Gewohnheit“.[53] Das Aufstellen von religiösen Inschriften war fremd für viele provinziale Gesellschaften im Westen und es wurde- wenn überhaupt- einige Zeit nachdem diese Gruppen unter römische Kontrolle gerieten bekannt.[54] Reichtum war keine Voraussetzung für die Einweihung im Mithraskult, doch kamen in den Inschriften nur diejenigen Personen vor, die über genügend Mittel verfügten, um sich sichtbar machen zu können. Wohlstand und Repräsentation standen in enger Verbindung miteinander.[55] Aus epigraphischen Belegen sind nach Clauss 962 Personen bekannt, die etwas mit dem Mithraskult zu tun hatten. Da auch ein geringer Prozentansatz dieser Leute mehr als eine Inschrift hinterließ, kommt der Autor auf insgesamt 1058 Weiheinschriften für die Mysterien.[56] Von diesen Personen teilen nur etwa 35% ihren gesellschaftlichen Status mit.[57] Es muss also berücksichtigt werden, dass der Forschung ein relativ eingeschränktes Bild zur Verfügung steht, um die Anhängerschaft der Mithrasmysterien rekonstruieren zu können.
Im römischen Imperium war die Religions- bzw. Kultzugehörigkeit zu einem großen Teil private Angelegenheit. Diese Freiheit wurde durch die ganz selten vorkommenden Beschränkungen des Senats im Bezug auf bestimmte Praktiken sanktioniert.[58] Die sporadische Opposition des Senats gegen orientalische Kulte in der späten Republik und im frühen Imperium hatte eher etwas mit den nicht-römischen Charaktereigenschaften dieser Kulte zu tun, statt mit deren Doktrinen. Die Geheimhaltung, der der Mithraskult unterlag, wurde nicht wegen Missbilligung der Massen verursacht. Er schloss andere Götter nicht aus, er versuchte nicht im totalitären Sinne das Leben seiner Anhänger in möglichst viele Aspekte zu beeinflussen.[59]
Mithrasanhänger waren vorwiegend Soldaten, kaiserliche Freigelassene und Sklaven. Bei jeder von diesen Gruppen waren die Anerkennung der Autorität und die Akzeptanz einer bestimmten Rolle innerhalb der Gruppe[60] eine Angelegenheit vom ersten Rang. Die symbolischen und sozialen Strukturen des Mithraskultes widerspiegelten die symbolischen und sozialen Grundstrukturen von all diesen Gruppen. Dadurch leisteten die Mithrasmysterien ihren wesentlichen Beitrag im Bezug auf soziale Kontrolle.[61] Das Mithräum S. Stefano Rotondo in Rom wurde innerhalb des sogenannten „Lager der Kuriere“ aufgebaut, das eine Aufsichts- und Spionageeinheit war.[62] Unter Septimius Severus war der Mithraskult auch unter den Prätorianern verbreitet. Wenn solche Männer in einem Kult versetzt wurden, der enorme moralische Ansprüche an seinen Anhänger erhob, konnte das nur vom Vorteil für die soziale Ordnung sein.[63] Der Dura Mithräum- der einzige bis jetzt Mithräum, der in Syrien 1934 ausgegraben wurde, bezeugt eine religiösbedingte Freundschaft zwischen verschiedenen Rängen der militärischen Hierarchie.[64] Dies spricht dafür, dass der soziale Rang – zumindest der Theorie nach- keine Bedeutung innerhalb der Kultgemeinschaft hatte. Der Sozialstatus wurde allerdings durch die Initiationsgrade ersetzt. Wichtig war der Aufstieg und der Rang innerhalb der Kultorganisation. Es ist aber denkbar, dass diejenigen, die über mehr finanzielle Mitteln verfügten und beispielsweise ein ganzes Mithräum oder dessen Ausstattung stifteten, schneller innerhalb der Kultgemeinschaft aufsteigen konnten. 1992 wurde eine Bronzetafel aus Virunum (Kärnten, Österreich) gefunden, die insgesamt 98 Personen- als örtliche Kultanhänger zu identifizieren- um die Zeit 200 n. Chr. Auflistet (Abb. 2).[65] Die Namen von den ersten 34 Anhängern (bis zum Jahr 183 n.Chr.), die das Mithräum auf eigenen Kosten restauriert hatten, füllen 1⅓ von den insgesamt vier Spalten. Es wurde also mehr als den doppelt so viel Platz, der ausgefüllt war, für zukünftige Eingeweihte übrig gelassen. Die Tafel wurde tatsächlich als Mitgliedschaftsliste des Mithräums beabsichtigt.[66] Die meisten der Mitglieder waren römische Bürger, wobei es nicht auseinander gehalten werden kann, welche Freigeborene und welche Freigelassene waren. Gleiche nomina können auch auf Patronatsbeziehung hindeuten.[67] Die Virunum Tafel ist die...