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E-Book

Judas, der Komplize

Die Wahrheit über den zwölften Jünger

AutorLeo G. Linder
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl222 Seiten
ISBN9783641125448
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Der Fall Judas Iskariot - Was ist damals wirklich passiert?
Leo G. Linder nimmt den Fall Judas Iskariot wieder auf und fragt: Welche Rolle hat Judas wirklich gespielt? Im vorliegenden Buch lässt er einen fiktiven Ermittler die vier Evangelisten ins Verhör nehmen und deckt zahlreiche Merkwürdigkeiten auf. Warum spricht eigentlich niemand von Verrat? Die Evangelisten scheinen etwas zu verheimlichen: Sie verwickeln sich in Widersprüche, haarsträubende Ungereimtheiten kommen zum Vorschein. Deutlich wird: Die herkömmliche These vom schnöden geldgierigen Verräter, sie lässt sich nicht aufrechterhalten!
  • Neue spannende Ermittlungen mit einem ebenso überraschenden wie überzeugenden Ergebnis
  • Die Hintergründe der Tat aufgespürt in den Texten des Neuen Testaments


Leo G. Linder, Jahrgang 1948. Nach Marine und Seefahrt studierte er ab 1972 Film und Philosophie an der Kunstakademie Düsseldorf sowie Geschichte und Spanisch an der dortigen Universität. Von 1977 an arbeitete er als Kameramann, wechselte 1985 zur Regie und drehte zahlreiche Dokumentarfilme. Seit 1990 hat er 64 Bücher u.a. zu theologischen, historischen und politischen Themen publiziert. Der Autor und Regisseur lebt in Düsseldorf.

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Leseprobe

Markus, erster Tag


»Verehrter Markus, nehmen Sie Platz.

Sie werden gehört haben, dass wir den Fall Judas Iskariot wieder aufrollen. Wir sehen uns dazu gezwungen, aus Gründen, auf die ich noch kommen werde. Die sich vielleicht auch schon aus unserer Unterhaltung ergeben werden. Ich weiß, Sie sind in diesen Fall in keiner Weise verwickelt. Betrachten Sie unser Gespräch also nicht als Vernehmung. Wir hätten in diesem Zusammenhang nur einige Fragen an Sie.«

»Habe ich nicht alles dazu gesagt?«

»Genau das fragen wir uns. Im Moment frage ich mich zum Beispiel: Was meinen Sie mit ›alles‹? Alles, was Sie wissen? Oder alles, was Sie sagen wollten?«

»Alles, was es dazu zu sagen gibt.«

»Und das ist, wenn ich Ihren Bericht lese, nicht eben viel ...

Natürlich ist mir bewusst, dass man von einem Mann, der eine – wie soll ich sagen? – so forsche Feder führt wie Sie, keine Ausführlichkeit erwarten darf. Sie halten sich an die Fakten, Sie bringen die Dinge zügig auf den Punkt, Sie ersparen uns die rhetorischen Ausschmückungen, mit denen andere ihre Texte dem Leser versüßen. Kein Wort zu viel – ich finde das sehr angenehm. Eben deshalb erscheinen Sie mir besonders vertrauenswürdig. Und eben deswegen wundert mich – lassen Sie mich das offen sagen –, dass die Passagen über Judas in ihrem Text so ... so mysteriös ausfallen. Nicht nur, dass sie spärlich sind – sogar außerordentlich spärlich angesichts der Verwerflichkeit der Tat, angesichts der Verabscheuungswürdigkeit des Täters, angesichts der Ungeheuerlichkeit der Folgen –, bei näherer Betrachtung erscheinen sie mir auch – Sie verzeihen – ungenau. Nebulös. So als wäre Ihnen an Klarheit in diesem Fall nicht gelegen gewesen. Wo? Wann? Wer? Wie? Was? Warum? Da kommt von Ihnen erstaunlich wenig. Kurzum – wenigstens ist das mein Eindruck, und ich habe Ihren Text eingehend studiert und auf mich wirken lassen: Diese Passagen werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten.«

»Ich halte mich, wie Sie bereits sagten, an die Fakten. Und mehr gab es über Judas nicht zu sagen. Wer hier ausführlicher wird, der spekuliert. Ich spekuliere nicht. Ich wollte nie klüger sein als meine Quellen.«

»Wer oder was sind Ihre Quellen?«

»Petrus. Das ist doch bekannt. Petrus sowie einige ältere Aufzeichnungen, die größtenteils ebenfalls auf Petrus zurückgehen. Ich selbst war ja nicht dabei.«

»Sie waren nicht dabei? Darf ich aus Ihrem eigenen Text zitieren? Da steht: ›Und ein junger Mann, der nichts als einen Leinenumhang auf dem nackten Leib trug, folgte ihm. Da ergreifen sie ihn; er aber konnte entkommen, indem er seinen Umhang in ihren Händen zurückließ und nackt davonrannte.‹ Zitatende.

Mit anderen Worten, wenn ich mir die Situation jetzt einmal plastisch vorstelle: Es ist nach Mitternacht und vermutlich stockfinster. Das Verhaftungskommando – vierzig, fünfzig Mann, schätze ich – trifft in Getsemani ein, und das Licht der Fackeln fällt auf zwölf Gestalten, die offenbar mit etwas Ähnlichem gerechnet haben, die jedenfalls vorbereitet zu sein scheinen. Das Kommando wird angeführt von Judas, der Jesus nun in der zwölfköpfigen Gruppe entdeckt, auf ihn zugeht und mit einem Begrüßungskuss identifiziert, woraufhin sich etliche Soldaten mit gezückter Waffe auf den Gesuchten stürzen. Während sie ihn fesseln, lassen sich seine Jünger auf ein Handgemenge ein, bei dem einer der Soldaten am Kopf verletzt wird. In Anbetracht der Überzahl des Verhaftungskommandos erlischt der Widerstand aber rasch, die Begleiter Jesu suchen im Schutz der Dunkelheit das Weite und werden vorläufig nicht mehr gesehen. Unterdessen wird Jesus abgeführt, die Truppe entfernt sich in Richtung Palast des Hohepriesters, und nun ... Und nun taucht ein junger Mann – fünfzehn, sechzehn Jahre alt? – aus dem Nichts auf und begeht die Unvorsichtigkeit, sich an die Fersen der letzten Soldaten zu heften – mit dem Ergebnis, dass sie ihn bemerken und kurzerhand ebenfalls festgenommen hätten, wäre er nicht geistesgegenwärtig genug gewesen, seinen Umhang abzuwerfen und sich nackt – oder halbnackt – auf dem schnellsten Weg zu entfernen ...

Woher haben Sie diese Episode? Wer ist dieser junge Mann? Woher wissen Sie von ihm?«

»Der junge Mann bin ich. War ich.«

»Sie befanden sich in dieser Nacht am Ort des Geschehens? Waren aber nicht dabei? Wie meinen Sie das? Was hatten Sie – mit Verlaub – zu dieser späten Stunde in Getsemani zu ... schaffen?«

»Ich war zufällig dort.«

»Und warum sind Sie dem Verhaftungskommando gefolgt, wenn Sie, wie ich einmal vermute, Besseres zu tun hatten?«

»Ich war jung. Ich war neugierig. Ich war leichtsinnig. Außerdem hatte ich eine Mutter, die für Jesus schwärmte ... Ich hätte daheim etwas zu erzählen gehabt – und ganz nebenbei auch eine Erklärung dafür, dass ich mich spätnachts noch draußen herumgetrieben habe. Jesus verhaftet? Du lieber Gott! – alles andere wäre in der Aufregung untergegangen, Sie verstehen.«

»Ich verstehe. Was ich mir nicht vorstellen kann: dass Sie dermaßen abgelenkt gewesen waren, dass Ihnen die Ankunft der Jesusleute geraume Zeit vor der Verhaftungsaktion entgangen sein soll.«

»Getsemani ist weitläufig. Terrassen, Ölbäume, dazu die Dunkelheit ... Jesus war mit seinen Leuten unten geblieben, in der Nähe des Eingangs. Ich bin jedenfalls erst aufmerksam geworden, als es laut wurde. Da habe ich mich angeschlichen. Da habe ich überhaupt auch erst verstanden, worum es ging. Durch die Fackeln war es hell genug, und ich kannte ja alle, ich kannte Jesus, ich kannte auch seine ständigen Begleiter, meine Mutter hatte mich die Tage zuvor mehrmals mitgenommen, sie musste ihn sehen, sie konnte nicht genug von ihm bekommen. Ich selbst verehrte den Mann im Übrigen auch. Aber um auf Ihren Verdacht zurückzukommen, ich könnte mehr gesehen und folglich mehr gewusst haben, als ich schreibe: Nein, Judas ist mir in dem Getümmel nicht aufgefallen. Der muss sich zurückgezogen haben, bevor ich dazukam.«

»Schade. Also auch die Passage über die Verhaftung aus zweiter Hand ... Judas blieb verschwunden?«

»Soviel ich weiß, ja. Warten Sie ... Als sich die Soldaten mit Jesus auf den Rückweg machten ... Nein, Judas war nicht dabei. Das heißt: Er ist mir nicht aufgefallen. Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass er nach dieser Aktion noch erpicht darauf war, seinem Herrn Gesellschaft zu leisten. Wobei – vierzig, fünfzig Mann, wie Sie ganz richtig sagten, da kann man, unter den gegebenen Umständen und in Anbetracht der Dunkelheit, nicht jeden Einzelnen erkennen.«

»Sie haben Judas weder vorher noch hinterher persönlich gesprochen?«

»Ach was. Vorher sowieso nicht – wer war ich, mit einem der Jesusleute zu reden, die waren für uns allesamt Heilige –, und als ich mit meiner Niederschrift begann, war Judas längst tot. Es hieß ja, er sei bald nach Jesu Hinrichtung gestorben. Genaueres war nie zu erfahren. Jedenfalls nicht in den Kreisen, in denen ich recherchiert habe.«

»Dann halten wir uns an Ihren Text. Gehen wir also sämtliche Aussagen, die Sie im Zusammenhang mit Judas machen, einmal Punkt für Punkt durch.«

»Es wird nichts unerhört Neues dabei herauskommen.«

»Mag sein. Nach meiner Zählung sind es in der Tat ganze vier Stellen, an denen bei Ihnen der Name Judas fällt, und die zeichnen sich auch noch durch Zurückhaltung aus ... im Vergleich zu dem, was andere – ihre Kollegen, wenn ich so sagen darf – über ihn geschrieben haben. Gerade das hat mein Interesse geweckt. Ihre Zurückhaltung. Ihre schonende Art, den Mann, der den Stein ins Rollen gebracht hat, dessen Verrat ...«

»Verzeihung, ich rede nicht von Verrat. Ich benutze das Wort Verräter nicht. An keiner Stelle. Ich habe nie behauptet, dass Judas ein Verräter sei. Um so etwas behaupten zu dürfen, müsste man seine Beweggründe kennen. Sein Motiv. Das kennen wir nicht. Da kann man nur spekulieren. Ich spekuliere nicht.«

»Wie bezeichnen Sie seine Tat?«

»Ich sage: ausliefern. Übergeben. An die Behörden ausliefern. Den Behörden übergeben. Bleiben wir sachlich. Judas hat sich dem Amt des Hohepriesters zur Verfügung gestellt. Warum? Wieso? Weshalb? Wissen wir nicht.«

»Hängen Sie ihm nicht von Beginn an den Verräter an? Nämlich in jener Passage Ihres Berichts, wo Sie die Namen der zwölf Jünger auflisten? Heißt es dort nicht, nachdem Sie alle anderen aufgezählt haben: ... und Judas Iskariot, der ihn verriet?«

»Nein. Das hat Lukas gesagt. Lukas ist der Einzige, der das Wort Verrat in den Mund nimmt. Aus welchem Grund? Fragen Sie ihn. Bei mir steht: ›der ihn auch übergab.‹«

»Stimmt. Entschuldigen Sie. Formulieren wir es anders. Sagen wir: Ihre Art, diese offenbar undurchsichtige, für den Gang der Ereignisse immerhin entscheidende Gestalt des Judas en passant, wie im Vorübergehen, abzuhandeln, erscheint mir unangemessen. Ich wende mich jetzt an den Schriftsteller: Warum bauen Sie den dramatischen Konflikt, zu dem es hier kommt, nicht aus? Da haben Sie einen Widersacher, einen Gegenspieler Ihres Helden, den Mann, der Jesus – warum auch immer – ins Verderben stößt, und Sie machen nichts draus. Blasser als Ihr Judas ist ein Bösewicht – so viel darf ich doch sagen? – nie gezeichnet worden. Ich zitiere aus Ihrem Text. Es ist die zweite der vier Erwähnungen:

›Und Judas Iskariot, einer von den Zwölf, ging unbemerkt zu den Hohepriestern, in der Absicht, ihn – also Jesus – an sie auszuliefern. Die freuten sich, als sie das hörten, und versprachen ihm einen Geldbetrag als Belohnung. Seither suchte...

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