Zunächst ist zu prüfen, welche Bedeutung soziale Arbeit mit Flüchtlingen haben kann. Es geht darum, zu klären, warum Soziologische Beratung angezeigt ist, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie generell in Sammelunterkünften angeboten wird. Zum Zweiten ist zu klären, welchen Beitrag Sozialberatung zur Zielerreichung, einer "Wahrung von Lebenszufriedenheit“, leisten kann. Ansatzpunkte sind ethische, anthropologische, verfassungsrechtliche, sozialpolitische, sozial-psychologische, außenpolitische und innenpolitische Blickrichtungen und Problemzusammenhänge.
Asyl als "ein von Gewalt freier und unverletzlicher Ort“[70] hat seinen ersten Niederschlag in der mosaischen Gesetzgebung. So spielte das Asylrecht im Alten Testament eine bedeutende Rolle; es ging im Christentum auf die kirchlichen Gebäude über.[71] Dabei erfährt der "Fremdling" in der Bibel einen besonderen Schutz. Nach BAUMGARTEN[72] ist festzuhalten:
"Der Herr hat die Fremdlinge lieb.“[73]
„Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken.“[74]
"Der Herr behütet die Fremdlinge.“[75]
"Verflucht sei, wer das Recht des Fremdlings beugt.“[76]
"Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“[77]
Die katholische Kirche hält bis heute am kirchlichen Asyl fest, wie es in Art. 1179 des Codes Iuris Canonici geregelt ist. Bereits die Griechen kannten einen sakralen Schutz, Ehrendekrete und Staatsverträge), die Römer das hospitum publice datum, die Germanen das örtliche, persönliche und zeitliche Asylrecht. Hierbei war die religiöse Komponente am stärksten.[78] Weihbischof WÖSTE,[79] als Vertreter der katholischen Kirche, kommt zu dem Schluss, dass die Kirche eine unserem Grundgesetz entsprechende menschenwürdige Behandlung aller Flüchtlinge fordert, gleichgültig, ob sie zeitweise oder auf Dauer in der Bundesrepublik bleiben können, von Drittländern aufgenommen werden oder unter annehmbaren Bedingungen in ihre Heimat zurückkehren.[80]
Auch von politischer Seite wird angeführt, dass "das weltweite Flüchtlingselend (...) eine moralische Herausforderung für die Menschheit (ist). (...) Den Flüchtlingen zu helfen ist Verpflichtung für jeden einzelnen, für jeden Staat, für die internationale Gemeinschaft.[81]
Die Anwendung ethischer Ansprüche ist gegeben in einer sozialen und psychischen Begleitung (Beratung und Betreuung) für Flüchtlinge in Sammelunterkünften. Sollen ethische und christliche Prinzipien wertbezogenen Orientierungen entsprechen, dann ist soziale Arbeit mit Flüchtlingen in Sammelunterkünften angezeigt. Denn hier leben oft 20 -25 unterschiedliche Nationalitäten. BAUMGARTEN[82] et al. (1986b, S. 15) berichten für die Thiepval-Kaserne in Tübingen, von folgenden Ländern:
c Länderzusammenstellung zu beobachten; sie verändert sich durch "Zu- und Abgänge“. Die angeführte Länderübersicht zeigt, dass durch die Vielzahl der Nationalitäten nicht nur Flüchtlingsgruppen einer Nation, sondern auch Einzelflüchtlinge zu vermuten und vor-zufinden sind. Dies kann bedeuten, dass sprachlich, kulturell und sozial Isolierte in einer Gemeinschaftsunterkunft leben.
In diesem Zusammenhang scheint von Interesse zu sein, dass philosophisch-anthropologische - auch sozial-anthropologische - Erkenntnisse zu dem Schluss kommen, "Menschsein heißt angeredet sein“.[83] In diesem Kontext wird die Bedeutung von Zwischenmenschlichkeit, einer „Ich-Du-Beziehung" (BUBER), hervorgehoben, womit nicht in Abrede gestellt werden soll, dass es "autonomen Bestrebungen“ gibt, wie neuerdings Sozialwissenschaftler anführen.[84]
BUBER´s Leitgedanke "sozialer Zuwendung" beinhaltet: "Der Mensch ist nicht in seiner Isolierung, sondern in der Vollständigkeit der Beziehung zwischen dem einen und dem anderen anthropologisch existent“.[85] Auch PAULO FREIRE [86](1973, 1974) spricht davon, dass der "Mensch" in anthropologischer Sicht ein „dialogisches Wesen" ist, wobei er darauf hinweist, dass der "Dialog“ eine existentielle Notwendigkeit ist.[87] Die sozial-anthropologische Darlegung zeigt, dass Zwischenmenschlichkeit in Form von Ansprechbarkeit und Dialog (Beratung und Betreuung) in Sammelunterkünften angesichts vielfältiger Nationalitäten und somit oftmals vorzufindender Einzelflüchtlinge, gewährleistet sein sollte. Es wird ein Grundbedürfnis nach „sozialer Zuwendung“ angesprochen.
Verfassungsrechtlich könnte die Frage von Bedeutung sein nach dem verwaltungstechnischen“ und menschlichen Umgang mit Asylsuchenden. Konkret stellt sich die Frage nach rechtlichen Verbindungen zwischen Art. I, Abs.1; GG, Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG und einer Beratung und Betreuung von Flüchtlingen in Sammelunterkünften. Grundsätzlich kann im Hinblick auf die Menschenwürde, und folglich im Hinblick auf die Frage nach der Behandlung von Asylsuchenden, festgehalten werden, dass "(…) ein noch nicht anerkannter Flüchtling Achtung und Schutz seiner Menschenwürde verlangen kann“.[88] Die Achtung der Menschenwürde eines Asylbewerbers liegt schon begründet im Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG, dem zustehenden vorläufigen Verfolgungsschutzes.[89]
Im Ergebnis bedarf Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG, gerade auch durch den "vorläufigen Verfolgungsschutz“, keiner expliziten Ergänzung durch Art. 1 Abs. GG, sondern ist ihr impliziter Bestandteil. Folglich ist während des Anerkennungsverfahrens "(...) die Beziehung zur Menschenwürde hergestellt.[90] Es stellt sich das definitorische Problem, was nach dem Grundgesetz, unter Berücksichtigung der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts, unter Schutz der Menschenwürde[91] zu verstehen ist. So führt RENNER[92] aus, dass im Grundgesetz die „Würde des Menschen“ obersten Wert verkörpert. Interessant und entscheidend ist, dass der höchste Bezugspunkt der verfassungsmäßigen Ordnung nicht der Staat, sondern der Mensch ist. Das alles überspannende Grundrecht auf Menschenwürde, soll "( ...) die Achtung des Menschen als selbstverantwortliche geistig-sittliche Persönlichkeit“[93] würdigen.
Aus dem Begriff einer Achtung der geistig-sittlichen Persönlichkeit könne für Asylsuchende in Sammelunterkünften zwar keine Garantie der Grundrechte Art. 2 bis Art. 19 GG gefolgert werden; andererseits könne aber gefolgert werden die ausdrückliche Führung eines menschenwürdigen Lebens, d.h., die Achtung und Würdigung als selbstverantwortliche geistig-sittliche Persönlichkeit. Hierbei ist, im Sinne von "lex specialis“, im Bundessozialhilfegesetz (vgl. 9 I Abs. 2) vorgesehen, dass es Aufgabe staatlicher Hilfeleistungen ist, ein menschenwürdiges Leben zu garantieren: Gehen wir davon aus, dass die Achtung der geistig-sittlichen Persönlichkeit des Menschen nicht nur vorsieht, ihn als biologisches Wesen, mit dem Bedürfnis nach Essen und Schlaf, zu würdigen, sondern auch als psychisches und sozial-kulturelles Wesen, mit dem Bedürfnis nach menschlichem Kontakt, wie Ansprache und Dialog, dann bedarf der Asylsuchende in Sammelunterkünften des Angebots eines Anlaufstelle, welche für die vielfältigen Fragen und Probleme qualifizierte Beratung und Betreuung sicherstellt. Mit qualifizierter Beratung ist gemeint, dass es, wie in der Praxis vereinzelt anzutreffen, nicht nur um Formularhilfe gehen kann, sondern um Hilfestellungen, welche die gesamte Persönlichkeit des Flüchtlings betreffen. RENNER[94] spricht in diesem Zusammenhang von einer „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person"[95].
Erschwerend kommt hinzu, dass der Asylsuchende in einer fremden Gesellschaft leben hinsichtlich der Mentalität, Orientierungen und Normen. Zu dieser Gesellschaft unterhalten Asylsuchende kaum menschlichen Kontakt. Somit ist die Beratungsstelle in Sammelunterkünften eine wichtige Verbindungsstelle zwischen der fremden Gesellschaft, die gekennzeichnet ist durch spezifische Werte, Normen und sozial-ökonomische Umstände und den Bedürfnissen des Asylsuchenden, als selbstverantwortliche geistig-sittliche Persönlichkeit, gewürdigt zu sein. Im Ergebnis kann in einer sozialen Arbeit mit Flüchtlingen in Sammelunterkünften ein Beitrag zur Erhaltung von Menschenwürde gesehen werden, und folglich als international vereinbarte[96] und als grundgesetzlich garantierte Rechtsnorm[97] zur Wahrung von Lebenszufriedenheit.
In Anlehnung an die normative Sozialpolitiklehre von WEISSER ist die Zielorientierung der Sozialpolitik "eine...