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E-Book

Krankheit und Gesundheit in der Frühen Neuzeit

AutorRobert Jütte
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl244 Seiten
ISBN9783170240063
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Mit den Fortschritten in der Medizin, vor allem aber mit der Verbesserung des Lebensstandards schwindet immer mehr das Bewusstsein, dass Krankheiten einst ein 'geschichtsmächtiger' Faktor waren. So stellten in der Vergangenheit die ständige Bedrohung durch Seuchen und die hohe Kindersterblichkeit ganz besondere Anforderungen an die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Systeme, aber auch an die Leidensfähigkeit der Menschen. Die Geschichte der Krankheit in der Frühen Neuzeit zeigt, wie sich individuelle und kollektive Strategien von Krankheitsbewältigung herausgebildet haben, die auch heute noch teilweise recht wirkmächtig sind (Stichwort: Quarantäne). Der Blick richtet sich nicht nur auf die verheerenden 'Volkskrankheiten' in damaliger Zeit, sondern auch auf chronische Erkrankungen, die typisch für die Frühe Neuzeit sind.

Professor Dr. Robert Jütte ist Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung und lehrt Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart.

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Leseprobe

DIE ALLGEGENWART VON INFEKTIONSKRANKHEITEN


Epidemiologischer Wandel


Die heute im deutschen Sprachraum geläufige Sammelbezeichnung »Infektionskrankheiten«, die den Begriff ›Seuche‹ abgelöst hat, wurde 1856 von Rudolf Virchow (1821–1902) geprägt. Dem berühmten Berliner Pathologen, der allerdings im Unterschied zu Robert Koch (1843–1910) die Tuberkulose übrigens für nicht-ansteckend hielt, war durch exakte Beobachtung aufgefallen, dass bei verschiedenen fieberhaften Erkrankungen mit Todesfolge die Organe auffällige krankhafte Veränderungen aufwiesen.

In der Frühen Neuzeit unterschied man zwar auch schon zwischen nicht-infektiösen und ansteckenden Krankheiten, rechnete aber zu letzteren beispielsweise auch Krebserkrankungen, die man für übertragbar hielt. So heißt es im Handbuch der militairischen Arzneikunde von 1790:

»Von den epidemischen und endemischen Krankheiten muß man die ansteckenden (contagiosos) wohl unterscheiden. Die Ursache von diesen ist immer eine krankhafte Materie, welche so beschaffen ist, daß sie von einem Körper in andre übergehen, und in diesen die nämliche Krankheit, oder auch eine andere mit jener verwandte Krankheit erregen kann. Diesen Uebergang einer Krankheitsmaterie in einen andern Körper, wodurch derselbe eine Krankheit überkömmt, nennt man Ansteckung. Die ansteckende Materie macht entweder die Säfte des Körpers, in welchen sie übergeht, sich ähnlich, oder sie bringt in den lebendigen Theilen eine solche Stimmung hervor, daß durch ihre Wirkung wiederum ansteckende Materie erzeugt wird. Wie dieses geschehe, ist uns größestentheils unbekannt. Ansteckende Krankheiten sind z. B. die Luftseuche, die Blattern, die Masern, die Schwindsucht, der Krebs etc.«1

Es wird hier also zwischen epidemisch auftretenden und ansteckenden Krankheiten unterschieden – eine Unterscheidung, die wir heute nicht mehr machen, nachdem die Bakteriologie und die Epidemiologie zur Aufklärung der Entstehung von Infektionskrankheiten in den letzten 150 Jahren maßgeblich beigetragen haben.

SEUCHEN

Der traditionelle Begriff ›Seuche‹ wird in der heutigen Medizin kaum noch verwendet. Man unterscheidet stattdessen eine Epidemie (von griechisch für ›Krankheiten, die im Volk verbreitet sind‹) und eine Endemie (von griech. für ›einheimisch im Volk‹). Im ersteren Fall ist die zeitliche und örtliche Häufung einer (Infektions-)Krankheit in einer Bevölkerung gemeint. Demgegenüber wird als Endemie das ständige, gehäufte Auftreten einer Krankheit in einem begrenzten Gebiet oder Territorium bezeichnet.

Man kann drei Phasen in der Seuchengeschichte2 unterscheiden: Erstens die Periode, in der die in unregelmäßigen Abständen wiederkehrenden Seuchen und Hungersnöte zahllose Opfer forderten, die Sterblichkeitsziffer deshalb starken Schwankungen unterlag und die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt zwischen 20 und 40 Jahren betrug; zweitens die demographische Übergangsphase, in der die großen Epidemien seltener wurden und einzelne Seuchen fast völlig verschwanden, bei gleichzeitigem Anstieg der Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt auf rund 50 Jahre und drittens die Herausbildung des heute vorherrschenden Trends, der – zumindest in den Industrieländern – durch einen starken Rückgang der durch Infektionskrankheiten bedingten Todesfälle, eine rasche Zunahme der meist chronisch verlaufenden »Zivilisationskrankheiten« und einen stetigen Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung (auf inzwischen über 75 Jahre für Männer und über 80 Jahre für Frauen) gekennzeichnet ist.

Die erste Phase endete in den meisten europäischen Ländern mit dem Beginn der Industrialisierung. Die Übergangsphase setzte im frühen 19.

Abb. 1: Wandel des Krankheitspanoramas in den letzten 100 Jahren

Jahrhundert ein und dauerte bis in die 1920er Jahre. Während es in der kurzen Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und insbesondere in der unmittelbaren Nachkriegsjahren noch so aussah, als könnte der Kampf gegen eine der ältesten Geißeln der Menschheit, die Seuchen, auf Dauer gewonnen werden, kündigt sich inzwischen auch in den westlichen Ländern eine Rückkehr einiger der schon besiegt geglaubten Infektionskrankheiten an und neue, bis dahin unbekannte oder mutierte Krankheitserreger (HIV, Vogelgrippe-Virus) versetzen die Menschen in Angst und Schrecken.

Der folgende Überblick wird sich auf einige ausgewählte Infektionskrankheiten und zeitlich auf die Frühe Neuzeit, also auf die Phase 1, beschränken.

Pest


Die folgende biblische Geschichte war unseren Vorfahren noch sehr vertraut:

»Da ließ der Herr über Israel eine Pest kommen; sie dauerte von jenem Morgen an bis zu dem festgesetzten Zeitpunkt, und es starben zwischen Dan und Beerscheba 70 000 Menschen im Volk.«

So wird im Alten Testament, im 2. Buch Samuel (24:15ff), Gottes Strafgericht über König David geschildert. Wo immer ein plötzliches Massensterben ausbrach, erinnerten sich die Menschen im christlich geprägten Abendland an dieses einprägsame biblische Exempel.

Unter dem Eindruck der auch noch Anfang des 18. Jahrhunderts allgegenwärtigen Furcht vor einem erneuten Ausbruch der Pest in Europa entstand beispielsweise die Radierung von Charles-François Hutin (1685–1758). Sie zeigt den auf einer Wolke herannahenden Todesengel, der mit flammendem Schwert eine Stadt, die an Rom erinnert, heimsucht. Die klagenden Gestalten am rechten Bildrand lenken den Blick des Betrachters auf ein Pestopfer, das von einer männlichen Person mit einem Trank (vermutlich einer Arznei) versorgt wird. Im Hintergrund sieht man einen Platz, der mit Leichen übersät ist und damit das ganze Ausmaß der von Gott ausgelösten Strafaktion gegen die Menschheit erkennen lässt.

So einfach es für den Historiker ist, die christliche Ikonographie dieses Bildes zu entschlüsseln und den Realitätsbezug der Darstellung in

Abb. 2: François Hutin (1685–1758), Die Pest, Radierung, um 1737

Hinblick auf die jeweilige Krankheitsdeutung und den gesellschaftlichen Umgang mit Seuchen herauszuarbeiten,3 so schwer fällt ihm eine retrospektive Diagnose.4 Der Versuch, das hier versinnbildlichte Epidemiegeschehen mit einer modernen Krankheitsbezeichnung (in diesem Falle mit der durch den Bazillus Yersinia pestis verursachten Seuche) in Verbindung zu bringen, ist meist zum Scheitern verurteilt. Denn selbst ein uns heute so eindeutig scheinender Begriff wie »Pest« ist vor dem »bakteriologischen Zeitalter«, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit bahnbrechenden Experimenten eines Louis Pasteur (1822–1895) und Robert Koch (1843–1910) begann, völlig unspezifisch, wenngleich sich dahinter in Einzelfällen die uns heute bekannte, äußerst selten gewordene Infektionskrankheit gleichen Namens verbergen kann.

Bis heute streiten sich die Experten, wie die Pest übertragen wurde.5 Lange Zeit herrschte das Erklärungsmodell vor, das Ratten als Zwischenträger für den Pesterreger annahm. Ein alternatives Verbreitungsmodell von Yersinia pestis sah im Menschenfloh (Pulex irritans) den entscheidenden Faktor für die Übertragung.6 Diejenigen, die für die großen Pestausbrüche (z. B. den »Schwarzen Tod« von 1347/48) einen Virus als Ursache vermuten, vertreten dagegen die Theorie, dass Menschen sich gegenseitig angesteckt hätten, was in ihren Augen die rasche Ausbreitung der Seuche erklärt. Als weiteres Argument für die Virus-Theorie wird von Forschern die signifikant häufiger auftretende Mutation eines bestimmten Gens (CCR5) bei den Nachfahren von Überlebenden der großen Seuchen ins Feld geführt.7 Inzwischen konnte zumindest für eine große Pestkatastrophe, die gemeinhin als der »Schwarze Tod« bezeichnet wird, zweifelsfrei bewiesen werden, dass der heute bekannte Pesterreger Yersinia pestis auch Auslöser der Pest im Mittelalter war.8 Die aufwändige DNA-Analyse wurde an den Skeletten eines spätmittelalterlichen Londoner Pestfriedhofs durchgeführt.

Vielfältig und verwirrend sind die lateinischen oder deutschen Quellenbegriffe, die von den mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden Seuchenzügen Zeugnis ablegen. Sterbens leuft, pestilenz, pestis, infection, seuch, hitzige Krankheit, contagion – so lauten beispielsweise in frühneuzeitlichen Dokumenten die Namen für Epidemien, die wir mit der Pest in Verbindung bringen, deren Ursache – das...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Deckblatt1
Titelseite4
Impressum5
INHALTSVERZEICHNIS6
VORWORT8
EINLEITUNG11
Der Wandel des Krankheitspanoramas11
Krankheitserklärungen15
Änderungen im Krankheits- und Gesundheitsverhalten17
Medikalisierung20
DIE ALLGEGENWART VON INFEKTIONSKRANKHEITEN22
Epidemiologischer Wandel22
Pest24
Lepra36
Syphilis42
Pocken52
Fleckfieber60
Malaria64
LANGES SIECHTUM: CHRONISCHE KRANKHEITEN74
Definitionen: damals – heute74
Gicht75
Skrofeln81
Epilepsie86
Krebs97
HILFE IM KRANKHEITSFALL105
Selbstdiagnose und -hilfe105
Wege zum Therapeuten118
Standardtherapien der Frühen Neuzeit128
Warten auf ein Wunder: Alternative Kuren137
DIE GESELLSCHAFTLICHE REAKTION AUF KRANKHEIT149
Stigmatisierung149
Isolierung164
Soziale Kontrolle des Krankheitsverhaltens175
KRANKHEITSBEWÄLTIGUNG184
Formen der Betroffenheit und des Mitleids184
Umgang mit Krankheit189
Familie und häusliche Pflege im Krankheitsfall197
Das Arzt-Patient-Verhältnis204
Therapietreue (Compliance)208
DIE WIEDERKEHR DER SEUCHEN – ODER: WAS MAN AUS DER MEDIZINGESCHICHTE LERNEN KANN218
Fazit221
BIBLIOGRAPHIE223
ABBILDUNGSNACHWEISE239
REGISTER240

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