Einführung

Einer meiner ersten Lehrer war »der Lory«, ein Gesundbeter aus meinem Dorf und ein Freund der Familie. Heute würde man vielleicht »Alpen-Schamane« zu ihm sagen. Der Lory kannte das Wort »Schamane« wahrscheinlich gar nicht. Aber er tat das, was Schamanen überall auf der Welt tun: Er hielt den Kontakt zu einer anderen, einer feinstofflichen Welt und diente als Bote und Heiler. Schamanen werden ja manchmal als »Wanderer zwischen den Welten« bezeichnet. Sie überschreiten die Grenzen des »Normalen« und tragen Botschaften hin und her. Wir hier in der gewöhnlichen Welt flehen um Hilfe und die Wesen aus der anderen Welt schicken ihren Segen zu uns. Oft gestaltet sich dann nach einer Weile die gewöhnliche Welt so, dass wir neue Chancen ergreifen können. Der Lory betete für mich und meine Familie, wenn wir uns krank und elend fühlten, und gab uns oftmals guten Rat, zum Beispiel die Ernährung oder allgemein die gute Lebensweise betreffend. Er brachte mir bei, wie man betet: Zuerst für sich selbst, dann für seine Angehörigen und später auch für andere. Nachdem ich einige Zeit Erfahrungen mit der Gebetsheilung gesammelt hatte, lehrte er mich, draußen in der Natur einfache Rituale zu vollziehen.

Der erste Schritt, um selber eine »Alpen-Schamanin« zu werden, bestand für mich also darin, beten zu lernen. Beten heißt, Zuflucht nehmen zu einer höheren Kraft, zu einem »Großen Geist«, zum lieben Gott oder wie immer wir es nennen. Zuflucht nehmen heißt Vertrauen entwickeln zu Kräften, die unsere gewöhnlichen Vorstellungen übersteigen. Wenn wir mit der Zeit gelernt haben, richtig vertrauensvoll zu beten, ist das ein Schatz, den uns niemand stehlen kann. Denn dieser Schatz ist fest in unserem Geist verankert. Die Kunst des Betens kann zu einer stabilen Grundlage unseres Lebens werden, die unzerstörbar und unvergänglich ist.

Meinem Onkel, der ebenfalls ein »Abbeter« war, ist zum Beispiel in der Mitte seines Lebens der Bauernhof abgebrannt. Die Tiere konnten zwar gerettet werden und es kamen auch keine Menschen zu Schaden, aber er verlor nahezu sein gesamtes Hab und Gut. Natürlich war er eine Zeit lang nach dem Brand verzweifelt und fragte sich und seinen Herrgott, womit er dieses Schicksal verdient habe. Sein Vertrauen war jedoch stärker als der Zweifel. Er hielt standhaft an seinem Glauben fest. Der Bauernhof wurde wieder aufgebaut und mein Onkel hörte nicht auf, für die Familie und im Stillen auch für etliche Dorfbewohner zu beten, wenn sie in Not geraten waren. Er erfuhr in der für ihn schwierigen Zeit sehr viel Hilfe von Nachbarn und von den Bauern der Umgebung. Unzählige Hände halfen beim Neubau. Keiner der Helfer fragte nach Lohn. Am Ende hatte er ein schöneres Heim als zuvor.

Der zweite Schritt meiner Ausbildung bestand darin, Rituale durchzuführen und so mein Vertrauen und meine Zufluchtnahme weiter zu verstärken. Zufluchtnahme heißt für mich, dass ich mich auf etwas verlasse, das größer und mächtiger ist als ich und dem ich vertraue. Mein Zutrauen in die Kraft des Großen Geistes wurde dadurch viel tiefer.[1] Natürlich wurde auch die Verbindung besser. Jener Große Geist und mein eigener winzig kleiner Geist lernten einander ganz langsam immer besser kennen und verstehen. Allein das ist schon Grund genug für die Empfehlung, das eine oder andere Ritual selbst auszuprobieren.

Im Allgemeinen unterscheiden wir drei Formen von Ritualen:

1. Alltagsrituale, wie Händeschütteln und »Grüß Gott« sagen zur Begrüßung
2. Rituale, die dem Miteinander und den Beziehungen in der Gemeinschaft dienen, wie etwa die Taufe, wenn wir geboren werden, die Hochzeit, wenn wir uns als Paar zusammentun, oder die Rosenöl-Salbung, wenn wir sterben
3. Rituale, die der ganz persönlichen, einzigartigen Beziehung zwischen uns und dem Göttlichen dienen; man könnte sie Rituale der Selbstermächtigung nennen

In diesem Buch stelle ich hauptsächlich jene dritte Kategorie vor. Es handelt sich um Rituale, die uns dabei helfen, nach und nach geistig immer klarer zu werden. Wenn unser Geist, unser Bewusstsein sich etwa immer klarer darüber wird, dass wir in Wirklichkeit gar keine einsamen, isolierten Wesen sind, sondern Bestandteil eines Großen Geistes, dann werden wir selbst immer heiler. Je mehr wir in der Lage sind, geistige Qualitäten wie Vertrauen, Geduld, Zuneigung und Mitgefühl hervorzubringen, desto erfreulicher wird unser Leben. Wir strahlen diese Qualitäten dann aus, und das, was wir selbst ausstrahlen, kommt als Antwort des Lebens zu uns zurück – das ist ein universelles Gesetz. Wer Hass und Gier sät, wird schwerlich Frieden ernten. Wenn wir aber im Lauf der Zeit lernen, immer mehr Großzügigkeit und Mitgefühl für andere in unserem eigenen Geist zu kultivieren, dann wartet ein gutes Leben auf uns.

Spirituelle Heilung durch Selbstermächtigung

Was auch immer im Verlauf einer spirituellen Heilungsgeschichte passiert, ist für die betroffene Person gut, so wie es ist. Spirituelle Heilung heißt nicht, dass es nach dem »Heilerfolg« keine Krankheiten mehr gibt, keine Last des Alters, keinen Tod. Es ist eher so, dass ein »Höheres Selbst« mir die Kraft gibt und mich ermächtigt, trotz aller Widerstände der äußeren Welt meinen Lebensweg so zu vollenden, wie mein Höheres Selbst es für mich vorgesehen hat.

Der Begriff »Selbstermächtigung« soll nicht irreführen im Sinne von Anmaßung oder von Machtausübung über andere. Selbstermächtigung hat für mich etwas damit zu tun, meine Potenziale zu entwickeln. Selbstermächtigung kann auch heißen, sich selbst zu erlauben, so zu sein, wie man ist, und sich nicht wie eine Marionette von irgendwelchen Mächten führen zu lassen, sondern sich frei zu bewegen. Das Wort »Selbst-Verantwortung« zeigt sehr schön, worum es hier geht: Eine Antwort zu finden auf die Frage, warum wir eigentlich auf die Welt gekommen sind. Ähnlich verstehe ich das Wort Selbstermächtigung.

Wenn wir von Krankheit, Alter und Tod nicht geheilt werden können, was wird dann mit spiritueller Therapie geheilt? Es ist der Mensch als Ganzes. Das heißt, dass durch die Anwendungen entweder langsam nach und nach oder auch ganz plötzlich dem Hilfesuchenden sozusagen ein spirituelles Licht aufgeht. Wie sich dieses Licht zeigt und was es bewirkt, ist bei jedem Menschen ein bisschen anders. So gesehen kann spirituelles Heilen alles heilen.

Erfahrungen mit Ritualen können uns Schritt für Schritt dabei helfen, innere und äußere Hindernisse auf unserem Lebensweg zu überwinden. Solche Rituale zu praktizieren, ist wie Samenkörner zu säen, die wir pflegen und gießen, bis wir Stufe für Stufe wirklich achtsame Menschen geworden sind. So arbeiten wir an uns selbst, um unsere Probleme und Unzulänglichkeiten zu überwinden. Rituale dienen der Selbsthilfe und stärken uns. Gleichzeitig entwickeln wir allmählich Fähigkeiten, die uns in die Lage versetzen, auch andere auf ihrem Weg zu unterstützen.

Die Rituale, die ich hier vorstelle, sind eingebettet in die Erkenntnisse und die Kosmologie des Medizinkreises. Rituale im Medizinkreis können uns dabei helfen, vollständig zu erwachen, damit wir miteinander eine Zukunft kreieren, die weitgehend frei von Angst, Not und Leiden ist.

Der Medizinkreis

Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen: Wir schrieben das Jahr 1983 und es war zur Zeit der Herbst-Tagundnachtgleiche. Brave Buffalo, Tapferer Büffel, ein Medizinmann der Lakota, war zusammen mit einer Schar nord- und südamerikanischer Schamanen nach Königsdorf, ganz in die Nähe meines Heimatdorfs gekommen. Das Schicksal hatte es so eingerichtet, dass mir die 14 Tage Zeit und die 500 Mark gerade zufällig und mühelos zur Verfügung standen, um an dem Camp teilzunehmen. Das Camp sollte zuerst im Schwarzwald stattfinden und ich überlegte schon, wie ich ohne Auto dorthin kommen könnte, als die Veranstalter umdisponierten und sich für Königsdorf entschieden. Das alte Wissen kam quasi direkt vor meine Haustür, als ich es dringend benötigte. Ich bin noch heute dankbar dafür.

Im Rahmen des zwei Wochen dauernden Camps in der freien Natur waren die Schamanen der Einladung einer Handvoll junger Männer gefolgt, die sich bereits intensiv mit dem Wesen des Schamanismus vertraut gemacht hatten und selbst lange Zeit in Nord- und Südamerika verbracht hatten. »First European Medicine Wheel Gathering« (Erstes europäisches Medizinkreis-Treffen) nannte sich die Veranstaltung. Etwa hundert junge Menschen waren damals zusammengekommen, um sich von den Schamanen eine ganz besondere Sicht der Welt erklären zu lassen.

Wie die Ruhe selbst saß er da, der Tapfere Büffel. Auf seinem Schoß in seinen Händen ruhte eine bunte Stickerei, die auf dunklem Hintergrund einen Kreis mit einem Kreuz in der Mitte darstellte. Das heilige Medizinrad. Der heilige Kreis der Medizin der Ureinwohner Amerikas. Ich hatte noch nie davon gehört. Wie sollte ein schlichtes geometrisches Symbol Heilkraft entfalten können? Da ich ein vergesslicher Mensch bin, habe ich schon damals gerne aufgeschrieben, was mir wichtig erschien. Brave Buffalo aber bat darum, Stift und Buch wegzulegen, zuzuhören und den Geist zu öffnen. »Ich schreibe es dir in dein Herz hinein«, sagte er. Ich kann heute noch den liebevollen Klang seiner Stimme in mir hören, als er diese Worte sprach. Wie ich es bereits vom Lory und von meinem Onkel kannte, gaben die Indianer das alte bedeutsame Wissen von Mund zu Ohr und von Herz zu Herz weiter. Bücher und Stifte wären bei einer solchen Übertragung eher hinderlich, meinte der Medizinmann. »Was du aufschreibst, das vergisst du gleich...