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E-Book

Bürgerrechte - Staatspflichten - Rechtssprechung - Bürokratie

Beiträge zur Justizkritik

AutorRichard Albrecht
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl83 Seiten
ISBN9783638889186
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis36,99 EUR
Essay aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Jura - Sonstiges, , Veranstaltung: -, Sprache: Deutsch, Abstract: Dieses Bändchen enthält sechs meiner im GRIN-Verlag erschienen Netztexte (2004/07), darunter auch die (späte) Buchbesprechung (Rezension) des wichtigen Lehrbuchs: 'Logik für Juristen'. Die sechs Netztexte lassen sich leicht über diesen GRIN-Autorenlink erschließen http://www.grin.com/de/search?searchstring=6760&search=id_autor&page=0. Die Texte sind hier unverändert gedruckt: 'Lebendige Menschen', Bürger- und Menschenrechte einerseits - Rechtsprechung, Justiz(apparat) und Bürokratie andererseits stehn freilich nicht nur als Titel auf dem Deckblatt. Sondern stecken thematisch-inhaltlich das Spannungsfeld um Gerechtigkeit, Recht, Gesetz und Justiz in der Bundesrepublik Deutschland ab. Auch wenn ich den 'Kampf ums Recht' (Rudolf v. Jhering [1818-1892])) mit seinem Kernstück, dem Kampf ums 'Recht, Rechte zu haben' (Hannah Arendt [1906-1975]) nicht für so zentral halte wie mein letzter sogenannter 'akademscher Lehrer' (Marburg/Lahn, WS 1971/72), der linkssozialistische Politikwissenschaftler und Jurist Wolf(gang) Abendroth (1906-1985), so wäre es doch fatal, ihn gänzlich zu vernachlässigen. Bleibt in concreto zu den Texten in diesem Bändchen noch dreierlei nachzutragen: (1.) können auch die hier dokumentierten und kritisch kommentierten 'unscheinbaren Oberflächenerscheinungen', so Siegfried Kracauers kulturhistorischer Hinweis (1927), geeignet sein, den 'Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, schlagender zu bestimmen' als die diversen zeitgeistigen 'Urteile der Epoche über sich selbst'; (2.) halte ich nicht nur, aber vor allem die Justiz im gegenwärtigen bürgerlichen Deutschland für eine herrschaftliche Zentralapparatur, deren Reformbedarf reziprok zu ihrer, vor allem immanenten, Reformfähigkeit steht; (3.) ist - ein weiterer derzeit unauflösbarer Widerspruch - (nicht nur meine) Justizkritik heuer grad denen leider unzugänglich, die ihrer als 'professionell' tätige Jurist(inn)en so dringlich bedürfen, weil in zwei Semestern hurtig reingezogene repetitorische Deduktionsmechaniken wohl als Voraussetzung zum Eintritt in den Staatsdienst ausreichen (mögen), gleichwohl jedes humanintellektuelle und sozialmoralische Verständnis von Gesetz, Recht und Gerechtigkeit vermissen lassen (müssen).

Richard Albrecht ist Sozialwissenschaftler (Dr.phil.; Dr.rer.pol.habil.), Sozialpsychologe, Autor und Ed. von rechtskultur.de.

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Leseprobe

Verfassungsbeschwerden in Deutschland

Begründunglose Ablehnung/en von Verfassungsbeschwerden 1993-2002 und die Folgen.

Zugleich ein Beitrag zu Rechts- und Gerechtigkeitspolitik in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts

 

Gerechtigkeit meint heute vor allem ´den geltenden Rechtsnormen  entsprechendes  Handeln und Urteilen, Rechtsprechung, mit der Rechtspflege beauftragte  Institution´.  Bedeutungsgeschichtlich (mittelhochdeutsch zunächst grehtikheit, später gerehtecheit bzw. gerehtikeit) seit dem 12. Jahrhundert etwa ´Rechtschaffenheit,  den sittlichen Normen gemässes Verhalten´, im Spätmittelhochdeutschen dann Sinnverschiebung in Richtung ´Rechtspflege, rechtlich begründete Befugnis, verliehenes Recht, Privileg´, als besonderer Terminus in diesem  Sinn noch teilweise bis  ins 19. Jahrhundert hinein  feudalrechtlich benützt. Analog zum Substantiv/Hauptwort das Adjektiv/Eigenschaftswort, das im Althochdeutschen um 900 als gireht etwa ´gerade, aufrecht, richtig, rein´ meinte, später mittelhochdeutsch als gerecht, ´gerade, richtig, passend, rechtlich´; besonders die Bedeutung im Sinne von ´gerade´ [d.h. aufrecht]  blieb noch bis ins 18. Jahrhundert hinein erhalten. Parallel entwickelte sich bedeutungsgeschichtlich der Wortgebrauch im Sinne von: ´den Rechtsnormen entsprechend´. Auch das Adjektiv gerecht  meint heute vor allem ´den geltenden Rechtsnormen entsprechend, rechtlich, rechtmässig´ [1].

 

Wissenssystematisch verallgemeinert heißt das:

 

Die zeitgenössische Hauptbedeutung von Gerechtigkeit/gerecht zielt jeweils auf Legalität und nicht auf Legitimität.

 

I.

 

Seit 1993 erlaubt es die Anwendung von § 93 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, Verfassungsbeschwerden von Bürger/innen ohne Begründung durch Nichtannahme abzulehnen.

 

Wer immer sich mit § 93 des BVerfGG nicht als abstraktem Paragraphen, sondern als konkretem Verhältnis beschäftigt, wird aus den Offizialdaten des Bundesverfassungsgerichts (http://www.bundesverfassungsgericht.de) gehaltvolle und über jeden Einzelfall hinausgehende Schlüsse ziehen (können): Im hier interessierenden Zehnjahreszeitraum 1993-2002 gab es insgesamt (N=) 49.400 Verfassungsbeschwerden (Mittelwert: 4.940, Maximalwert: 5.766 [1995], Minimalwert: 4.523 [2002], Standardabweichung oder Streuung [als Mass der durchschnittlichen Abweichung vom arithmetischen Mittel]: 377,451). Weil aber -einerseits- in diesem Zeitraum nicht alle erforderlichen Daten in der Offizialstatistik erscheinen und -andererseits- ab 2000 die mitgeteilten Daten infolge innerbetrieblicher Neuorganisation umgruppiert wurden, so dass sie nicht (mehr) mit denen des angemessen dokumentierten Fünfjahreszeitraum 1995-1999 vergleichbar sind - kann, methodisch angemessen, nur dieser hälftige Zeitraum als Teilmenge pars-pro-toto untersucht und sodann auf die Grundgesamtheit rückbezogen werden.

 

II.

 

1995-1999 befasste sich nur die 1. Kammer (ab 2000 1. Senat genannt) des Bundes(verfassungs)-gerichts mit Verfassungsbeschwerden (aktuelles Akzenzeichen derzeit 1 BvR). Es gab in diesen fünf Jahren insgesamt 25.250 Verfassungsbeschwerden ("Eingänge"), das waren jahresdurchschnittlich 5.050 (Maximalwert: 5.766 [1995], Mininalwert: 4.676 [1998], Standardabweichung: 391,869). Es gab 1995-1999 23.116 oder etwa 92 Prozent begründungslose Ablehnungen ("Nichtannahmen"). Von diesen nichtangenommenen Verfassungsbeschwerden 1995-1999 passierten schlussendlich  397 den Doppelfilter und wurden sowohl angenommen als auch anerkannt ("Stattgabe"): Das waren in diesem Fünfjahreszeitraum 18,6 % der angenomenen oder 1,6 % der gesamten Verfassungsbeschwerden. Rechnet man nun diese beiden Anteilsfaktoren auf die bekannte Grundgesamtheit (=N) des Zehnjahreszeitraums 1993-2002 aller Verfassungsbeschwerden hoch - dann mögen in den letzten zehn Jahren auf Grundlage des § 93 BVerfGG eher mehr als weniger denn 45.000 Beschwerdeführer/innen begründungslos abgelehnt worden sein. Bei  diesen - jahresdurchschnittlich 4.500 Einzelbeschwerden - besteht rechtslogisch die Möglichkeit, dass trotz Anwendung des § 93 BVerfGG verfassungsmässig garantierte Grundrechte verletzt wurden. Unterlegt man nun entgegen einer abstrakten, statistisch-binären ´Normalverteilung´ erstens eine konkrete, schiefe, hier asympto-tisch quartile, Verteilung hinsichtlich der Ablehnungsberechtigung von Verfassungsbeschwerden, die begründungslos abgelehnt wurden, und unterstellt zweitens eine zeitliche ´Normalverteilung´ über den Zehnjahreszeitraum - dann könnten von 1993 bis 2002 jährlich etwa tausend Verfassungsbeschwerden von Bürger/innen nicht nur begründungslos, sondern auch unberechtigt, also weder legal noch legitim, vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen worden sein. Man könnte also zunächst unter genannten Voraussetzungen und Annahmen davon ausgehen, dass im Zehnjahreszeitraum 1993-2002 etwa 10.000 rechtsschutzsuchenden Bürger(inne)n der Bundesrepublik Deutschland Rechtsschutz vom Bundes(verfassung)gericht verweigert wurde und sie damit auf so illegale wie illegitime Weise Justizopfer des Bundesverfassungsgericht genannten deutschen Ober(st)gerichts wurden.

 

III.

 

Die Novellierung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes/BVerfGG im allgemeinen und seines be-gründungslose Nichtannahmen/Ablehnungen rechtfertigenden § 93 im besonderen stand erweislich unterm Primat der Verwaltungsentlastung und stellte damit grundsätzlich - so zutreffend die vom  Bundesminister der Justiz eingesetzte Kommission zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts im Januar 1998 - "Belange des Individualrechtsschutzes" zurück. Wie im Bericht jedoch anhand der dort ausgewerteten Gesamtstatistik des Bundesverfassungsgerichts 1996 nachgewiesen wird, erbrachte die Novellierung  n i c h t  die erwartete/beanspruchte Entlastung, sondern veränderte, weil nun zur Annahmen von Verfassungs(individual)beschwerden nicht mehr ein ´schwerer Nach-teil´, sondern vielmehr ein ´besonders schwerer Nachteil´ als existentielle Betroffenheit für die (begründungslose) Annahme erforderlich wurde, durch Verfahrensneuregelung faktisch den Charakter des Rechtsinstituts: Verfassungsbeschwerde als "grundrechtsähnliches Verfahrensrecht des Bürgers auf Prüfung seiner Verfassungsbeschwerde" [2]. Es gehört zur bitteren Ironie der empirischen Wirksamkeit des § 93 BVerfGG, dass offensichtlich das angestrebte Ziel der Verwaltungsentlastung sich nicht nur ins Gegenteil verkehrte, sondern dass sich aus der neuen begründungslosen Ablehnungs/Nichtan-nahmepraxis faktisch ober(st)gerichtliche Rechtsschutzver-weigerung ergab. Aus erhoffter Verwaltungsentlastung wurde -psychomoralisch gesehen - Bürgerbelastung. Anstatt beanspruchter Rechtssicherheit wurde faktische Rechtsunsicherheit produziert.

 

IV.

 

Der von Vertretern der Bundesrepublik Deutschland staatsautoritativ vorzubringende Grundsatz: iura novit curia würde sich angesichts dieses ´unerhörten Vorgangs´ (Bertolt Brecht) als Bumerang-effekt erweisen: Denn würde das Bundes(verfassungs)gericht diesen Grundsatz angewandt haben wollen, dann hätte es seit 1993 Zeit genug gehabt, seine Tätigkeit verfassungskonform legalisieren zu lassen. Dies aber hat das deutsche Ober(st)gericht mehr als zehn Jahre lang unterlassen, woraus folgt: supremum iudicium constitutionale confederationis Germanicae non novit iura sua.

 

V.

 

Soweit - so schlecht zum Stand immanenter Kritik unter Berücksichtigung des bürgerrechtlichen Primats allgemeiner Zurückhaltungspflicht des Staates gegenüber seinen Bürger(inne)n, bei denen es sich immer um die Wahrnehmung von "Freiheitsrechten gegen den Staat" handelt, welche "dem Staat und seinen Funktionsträgern"  eben  n i c h t  zustehen. Wenn dieser Grundsatz aus Staats-(schutz)gründen von Staats(schutz)behörden missachtet wird und Gerichte immer dann zur "eng-herzigen Auslegung" von Bürgerrechten tendieren, "wenn Behördenvertreter kritisiert werden"[3] - dann hat diese Tendenz durchaus Auswirkungen auf jede erweiterte Dunkelfeldanalyse der begrün-dungslosen Nichtanname/Ablehnungspraxis des Bundesverfassungsgerichts seit 1993 und ihre handlungspraktischen Folgen.

 

VI.

 

Im seit 1992 andauernden Rechtsstreit um die Zulässigkeit ´nachrichtendienstlicher Beobachtung´ der politischen Partei: Die Republikaner im Bundesland Niedersachsen wurde diese zunächst dem Landesamt für Verfassungsschutz Niedersachsen/LfVS NS verwaltungsgerichtlich untersagt: "Dage-gen richtete sich" - so der anwaltliche Parteivertreter - "das Rechtsmittel des Landes Niedersachsen mit der Begründung, ihm sei eine Schriftsatzfrist nicht gewährt und ausreichendes rechtliches Gehör verweigert worden. Aus diesem formalen Grund hob das BVerwG [Bundesverwaltungsgericht] das Urteil des OVG [Oberverwaltungsgericht Lüneburg 13 L 105/94 vom 24.8.1994] auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück"[4]. Wer immer sich nun die diesem Beschluss des BVerwG vom 9.1.1995 (1 B 231.94; 1 C 34.94) unterliegende Bestimmung des grundrechtlich garantierten Instituts: rechtliches Gehör bei diesem zugunsten einer...

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