„Musik ist für uns zweifelfrei die sozialste aller Künste.“[45]
In Anbetracht der Zunahme von Gewalt an Schulen, Verhaltens- und Kommunikationsstörungen sowie wachsender Probleme der Eltern in der Erziehung kann die präventive Wirkung des Singens im Musikunterricht nicht genug betont werden. Durch die Tatsache, dass individuelle Vorlieben unter einen Hut gebracht werden müssen, werden soziale Kompetenzen der Kinder gefördert. Daher beschäftige ich mich im folgenden Kapitel mit Anhaltspunkten, dass Singen soziale Bindungen in Gruppen fördern und verstärken kann. Pfannenstiel preist in diesem Zusammenhang den Gesang als „Bindeglied der Gemeinschaft“[46].
Diese Aspekte wurden anhand mehrerer Studien wissenschaftlich untersucht. Anzuführen ist in diesem Zusammenhang eine Studie des amerikanischen Forschers Robert Putnam. Nach seiner Auffassung sind Menschen, je häufiger sie in Gruppen singen, um so stärker auch in sozialen und gesundheitsorientierten Projekten involviert und engagiert. Durch das Singen würde somit ihre Hilfsbereitschaft und ihr soziales Engagement gegenüber den Mitgliedern ihrer sozialen Gruppe angeregt.[47]
Weiterhin ist im Bezug auf die sozialen Auswirkungen von Gesang die großangelegte Studie Karl Adameks zu erwähnen, die ebenfalls eine relevante Rolle für den Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen spielen könnte. Adamek untersuchte in dieser Studie die Unterschiede von Menschen, die gerne gemeinsam oder auch alleine singen und Menschen, die nicht singen. Er bezeichnet sie in seiner Studie als „engagierte Singer“[48] und „Nichtsinger“[49]. Adamek kam in diesem Zusammenhang zu folgendem Ergebnis:
„Weibliche ‚engagierte Singer‘ haben im Vergleich zu weiblichen «Nicht-Singern» eine signifikant stärkere ‚soziale Orientierung‘.
Die ‚engagierten Singer‘ sind stärker sozial verantwortlich, hilfsbereit und mitmenschlich im Unterschied zu den ‚Nicht-Singern‘, die stärker selbstbezogen und unsolidarisch (sic!) sind und die Eigenverantwortung in Notlagen betonen.“[50]
An dieser Stelle ist ebenfalls zu erwähnen, dass sich dieser Unterschied nicht nur bei Frauen, sondern auch bei Männern zeigte.
Weiterhin stellte Adamek Untersuchungen zur emotionalen Erregbarkeit im Umgang mit Konflikten an. In diesem Fall zeigte sich bei den „Singern“ eine größere Gelassenheit als bei den „Nicht-Singern“. „Singer“ zeigten geringere Reiz- und Erregbarkeit und besaßen ein größeres Maß an Selbstbeherrschung.
„[...] Dieses Ergebnis unterstützt die Annahme dieser Arbeit, dass Singen unter der gewählten Perspektive als eine emotionale Bewältigungsstrategie anzusehen ist und dass wahrscheinlich die ‚engagierten Singer‘ ihre größere emotionale Stabilität durch Singen herstellen, [...] .“[51]
Aufgrund seiner sechsjährigen Berliner Langzeitstudie belegte auch Hans Günther Bastian die Entwicklung sozialer Kompetenzen durch Musizieren. Er stellte heraus, dass an musikbetonten Schulen die Zahl der sozial ausgegrenzten Schüler signifikant geringer war, als in Klassen ohne Musikbetonung.[52] Ebenso verweist Bastian auf die Möglichkeit des Musizierens als Prävention gegenüber Aggressionspotentialen bei Kindern.[53]
Singen und Musizieren soll somit im Musikunterricht der allgemeinbildenden Schulen zur Gemeinschaft erziehen. Zentrale Bedeutung wurde diesem Vorhaben im Zuge der Reformpädagogik zugemessen, ebenso wie es als zentrales Thema der Jugendmusikbewegung formuliert wurde.
Bezogen auf die Musicalarbeit als spezielle Form des Singens in der Schule fungiert jeder teilnehmende Schüler als wichtiger Teil eines Ganzen. Durch diesen Aspekt werden die Schüler motiviert und angehalten soziale Kompetenzen zu entwickeln und bilden somit einen Teil einer Gemeinschaft, die durch die Musik entsteht. Einander zuhören, aufeinander reagieren, Regeln oder gemeinsame Vereinbarungen einhalten, zu einem Gleichklang oder Rhythmus finden, aber auch etwas Neues gemeinsam zu kreieren, alle diese Aspekte erfordern ein hohes Maß an sozialem Handeln und gegenseitigem Verstehen. Ohne diese Grundkompetenzen kann man weder miteinander musizieren, noch menschlich miteinander umgehen. Ein gutes Klangerlebnis kann somit nur erreicht werden, indem jeder sich mit seinen vorhandenen Möglichkeiten in den Gesamtklang einfügt.
Schüler können daher durch gemeinsames Singen und Musizieren die Fähigkeit erlangen, einmal zurückzustehen und einer anderen Stimme den Vortritt zu lassen, um dann in einem anderen Part wieder selbst zu dominieren. Das Hauptaugenmerk liegt daher auf Rücksichtnahme, Integrationsbereitschaft und Geduld. Durch gemeinsames Singen wird es ermöglicht, diese Fähigkeiten intensiv zu trainieren, und eine Verbesserung der sozialen Beziehungen implizieren somit auch immer eine Verbesserung der Lebensqualität.
Singen ist ein ideales Medium für Kinder, sich mitzuteilen, Gefühle und Gedanken zu äußern, aber auch emotionale Belastungen abzureagieren. Ebenfalls wird beim Singen, speziell bei der Musicalarbeit die Fantasie und Kreativität der Kinder angeregt und es ermöglicht, eigene musikalische Ideen einzubringen und sie zu gestalten. Dabei entstehen Verbindungen zu anderen Ausdrucksformen wie szenische oder tänzerische Gestaltung. In manchen Fällen wird es Kindern somit eher ermöglicht, sich auszudrücken und mitzuteilen als mit Hilfe von Sprache. Musik ist frei interpretierbar und bietet daher jedem Schüler die Möglichkeit, sie auf seine eigene Art und Weise wahrzunehmen und umzusetzen.
In der Musikalitäts- und Begabungsforschung wurde schon mehrfach der Zusammenhang zwischen Musikalität und Persönlichkeitsmerkmalen, wie Intelligenz untersucht. Viele Studien haben jedoch einen eher geringen Zusammenhang zwischen diesen Faktoren herausgestellt. Nach Sergeant & Thatcher basiert dieses auf unzureichender Reliabilität der verwendeten Tests.[54]
Beim Musizieren werden Gefühle mit Intelligenzleistungen, wie abstraktem und komplexem Denken, den Sinnen, der Motorik und dem Verarbeiten von Informationen kombiniert. Somit kann eine intellektuelle Reifung gefördert werden. Studien untersuchen in diesem Zusammenhang positive Effekte auf Gehirnleistungen, Lernverhalten und Intelligenzleistungen.
Betrachtet man nun die Auswirkungen des Singens und Musizierens auf die Intelligenz der Schüler, ist hierbei vornehmlich Bastians sechsjährige Längsschnittstudie zu nennen. Aufgrund seiner Untersuchungen ist festzustellen, dass Singen und Musizieren hilft, geistige Leistungen ganzheitlich und systematisch zu fördern. Bastian beschreibt folglich einen signifikanten IQ-Zugewinn bei Kindern aus musikbetonten Grundschulen. Sozial benachteiligte und weniger kognitiv geförderte Kinder erweiterten ihre IQ-Leistungen ebenso wie überdurchschnittlich kognitiv begabte Kinder.[55] Singende Schüler schnitten in allgemeinen Schulleistungen, wie zum Beispiel in den Hauptfächern Mathematik, Deutsch und Englisch mehrfach besser ab, als Kinder die ausschließlich ein Instrument spielten. Aus diesem Ergebnis ist zu schließen, dass Singen im Gegensatz zum Spielen eines Instrumentes einen höheren Einfluss auf bestimmte Leistungsmerkmale hat. „Dem Instrument Stimme war im Sinne von Transfereffekten kein zweites überlegen...“[56]
Auch Anfang der 90iger Jahre belegte die Studie von Waldemar Weber, die als Vorläufer der Bastian-Studie gilt, die oben angeführten Ergebnisse. Diese Ergebnisse bestätigen wiederum das herausragende Ergebnis finnischer Schulen in der Pisa-Studie, da Finnland über eine ausgeprägte Singkultur verfügt. [57]
Mit Wirkungen auf das vegetative Nervensystem sind Wirkungen des Singens gemeint, die überwiegend unwillentlich geschehen und daher vom vegetativen Nervensystem gesteuert werden. Im Folgenden werden Werte beschrieben, die anhand medizinischer Messgeräte kontrolliert werden können. Es werden überwiegend Veränderungen im Bereich der Atmung, des Herzschlages und der Muskelspannung beschrieben.
In der heutigen schnelllebigen Zeit und Gesellschaft nimmt der Stressfaktor immer mehr zu und macht auch vor Kindern und Jugendlichen nicht halt. Kinder sind heute zunehmend durch Reizüberflutungen und Lärm belastet und klagen daher immer häufiger über Stresssymptome. Unangestrengtes Singen hat meist eine entspannungsfördernde und stressabbauende Wirkung, welches sich in einer Senkung des Kotisolspiegels[58], des Blutdrucks und der Herzfrequenz äußert.[59]
Bossinger beschreibt in diesem Zusammenhang die faszinierende Wirkung des Singens auf das vegetative Nervensystem. Je nach Art der...