Die Geschichte des Suchdienstes begann im Mai 1945. Der Zweite Weltkrieg hatte weit mehr Menschen in Deutschland auseinander gerissen als jedes andere geschichtliche Ereignis in Europa. Mehrere Millionen Stadtbewohner wurden wegen der Bombenangriffe in ländliche Gebiete evakuiert und fanden bei der Rückkehr ihr Heim zerstört vor.[4] Über Deutschland lagen rund 400 Millionen Kubikmeter Trümmer. Rund 12 Millionen Menschen aus den ehemaligen Ostgebieten flohen vor der Roten Armee oder wurden aus ihrer Heimat im östlichen Europa vertrieben.[5] Im Luftkrieg und bei den Bodenkämpfen waren mehr als 450.000 Zivilisten ums Leben gekommen – ihre Angehörigen, die Männer und Söhne bei der Truppe wussten noch nichts davon. Mehr als drei Millionen deutsche Soldaten waren gefallen, aber die meisten Familien hatten noch keine Nachricht darüber erhalten, von mehr als 1,5 Millionen Wehrmachtsvermissten wusste niemand, ob sie tot oder in Gefangenschaft geraten waren. [6]
Etwa 11,5 Millionen Deutsche steckten hinter Stacheldraht und hatten noch keinen Kontakt zu ihren Angehörigen. Sie galten als Kriegsgefangene oder Zivilinternierte der vier Besatzungsmächte Großbritannien, Vereinigte Staaten von Amerika (USA), Sowjetunion sowie Frankreich und waren auf rund 12.800 Lager in 80 Ländern[7] verteilt.
Doch auch wenn die Internierung von Millionen Deutschen, nach dem Holocaust, der vermutlich schlimmste Teil des Kriegserbes war, so machte sie noch nicht die ganze Vermissten-Tragödie aus. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs versuchte ein endlos scheinender Treck von rund 9,5 Millionen Flüchtlingen im heutigen Deutschland eine neue Heimat zu finden.[8] Unzählige Familien, die aus den Ostgebieten in den Westen flohen, wurden dabei auseinander gerissen, nicht selten Mütter und Kinder getrennt.
Neben den Sorgen um die tägliche Nahrung, die Milch für die Kleinkinder, das Dach über den Kopf, schlichtweg das tägliche Überleben quälten sie alle die Frage nach dem Schicksal der Angehörigen. Viele der Flüchtlinge selbst hatten Freunde und Angehörige aus den Augen verloren. Kriegsgefangene fragten nach dem Verbleib der Familien, Kinder suchten die Eltern, Frauen ihre Männer und Söhne. Ganz Deutschland bestand aus Suchenden. Annähernd 14 Millionen Menschen wurden vermisst,[9] jeder Vierte wurde durch den Krieg von einem oder mehreren Verwandten, Freunden und Bekannten getrennt. Jeder Vierte suchte.[10]
Die Politik war zu diesem Zeitpunkt mit dem Chaos vollkommen überfordert. Das Problem war, dass die große Anzahl der Gefangenen für die Gewahrsamsstaaten zu Beginn eine kaum überschaubare Masse bedeuteten, was dazu führte, dass keine rechtzeitige namentliche Registrierung organisiert wurde. Erst nachdem die Gefangenen in fassbare Lagereinheiten gegliedert waren, folgten die Karteikarten auf denen die Personalien verzeichnet wurden. Inzwischen waren jedoch schon Unzählige als Unbekannte gestorben.[11]
Dieser Faktor sollte sich später auch auf die Arbeit des Suchdienstes niederschlagen: Millionen Menschen wollten so schnell wie möglich Informationen über ihre Lieben bekommen, doch die Masse, die sich in Millionen Suchkarten niederschlug, war kaum zu handhaben. Denn lange Jahre war überhaupt nicht klar, wie viele Menschen überhaupt in Kriegsgefangenschaft geraten oder inzwischen gefallen waren. Und eine Liste mit Namen und Zahlen war vor allem aus der Sowjetunion nicht zu erwarten. Sie hatte das Genfer Kriegsgefangenenabkommen von 1929[12] nicht ratifiziert und war daher nicht verpflichtet, Meldungen über Kriegsgefangene an das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) in Genf zu machen. Auch die Haager Landkriegsordnung[13] wurde nicht wirksam. Denn diese Griff nur im Falle eines Friedensschlusses. Deutschland hatte jedoch kapituliert.
Aber auch die Voraussetzungen in Deutschland waren denkbar schlecht. Schon während des Krieges zeigte sich, dass das Meldewesen nicht ausreichend funktionierte. War einer gefallen, verstorben, vermisst oder in Gefangenschaft geraten, so musste seine Familie benachrichtigt werden. Was zu Beginn der Kampfhandlungen auch noch gut funktionierte. Später allerdings zeigten sich die Defizite: Es gab kein zentrales Amt, das sich mit allen Verlusten befasste. Stattdessen betrieben neben der Wehrmachtsauskunftsstelle für Kriegerverluste und Kriegsgefangene die Waffen-SS, die Polizei, der Sicherheitsdienst, der Reichsarbeitsdienst, die Reichsbahn und die Reichspost und manche andere ihre eigenen Auskunfts- und Nachforschungsdienste. Offizielle Verlustlisten wie im Ersten Weltkrieg zu veröffentlichen, war aus Gründen der Geheimhaltung verboten, zudem sollte die Bevölkerung bis zum bitteren Ende in dem Glauben bleiben, der Krieg würde doch noch gewonnen werden.[14] Erst einmal gab es also keine genauen Vermisstenzahlen.[15]
Hinzu kam, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seitens der Alliierten ein großes Misstrauen herrschte. In Jalta[16] hatten die Großmächte im Februar 1945 erklärt, den deutschen Militarismus zu beenden.[17] Wer sich jetzt nach Kriegsende daran machte, das Schicksal von Soldaten und Kriegsgefangenen aufzuklären, stieß auf den Argwohn der Sieger. Überhaupt sollte das Misstrauen zwischen den Völkern in der Zukunft die größte Schwierigkeit des Suchdienstes werden. Es hing der humanitären Arbeit wie ein Klotz am Bein und boykottierte für lange Jahre die Zusammenführung unzähliger Getrennter.[18]
Zwei Dokumente des Berliner Kontrollrats kennzeichnete die Nachkriegssituation ganz besonders: die Proklamation Nr. 2 vom 10. Oktober und die Direktive Nr. 18 vom 13. November 1945. Darin „wurde festgelegt, dass alle Fragen hinsichtlich der deutschen Beziehungen zu anderen Ländern ausschließlich von den alliierten Vertretern geregelt“ werden sollten.[19] Daher hatten die Deutschen keine Möglichkeit „ins Ausland, und das heißt hier an die Gewahrsamsmächte deutscher Kriegsgefangener zu schreiben oder gar dorthin zu fahren, um Auskunft über gesuchte Personen einzuholen.“[20]
Obendrein kam die weitläufige Zerstörung der Infrastruktur, die eine sofortige Kontaktaufnahme zwischen den Getrennten ohnehin verzögert oder sogar verhindert hätte.
Während des Nationalsozialismus ist das Deutsche Rote Kreuz der systematischen Gleichschaltung zum Opfer gefallen. Jüdische Mitglieder wurden ausgeschlossen, der Hitlergruß eingeführt. Aufgrund personeller und juristischer Veränderungen wurde der politische Neutralitätsgrundsatz eingebüßt und Verbindungen zur NSDAP und SS sichtbar.[21] Aus diesem Grund besetzten sowjetische Truppen am 26. April 1945 das DRK-Hauptlager in Potsdam-Babelsberg. Die SS-Sympathisanten innerhalb der Führungsspitze waren zu diesem Zeitpunkt bereits geflohen oder hatten Suizid begangen. Der Rest der DRK-Direktion gründete ein vorübergehendes Komitee und versuchte bei den Alliierten ein Fortbestehen des Verbandes zu erreichen. Ohne Erfolg: Am 9. September 1945 wurde das DRK in der Sowjetzone, wenige Tage später, am 25. September, in den westlichen Besatzungszonen aufgelöst.[22]
Das Rote Kreuz in Deutschland existierte nicht mehr, jetzt wo es dringender benötigt wurde, denn je. Aber die gut ausgebildeten Hilfskräfte waren noch da – Ärzte, Sanitäter, Krankenschwestern, Desinfektoren und unzählige Helfer – jedoch ohne Geld und ohne entsprechende Instrumente. Auf Wunsch führender Persönlichkeiten des (ehemaligen) Deutschen Roten Kreuzes nahm Rudolf Nadolny[23] im Juni 1945 die Reorganisation in Angriff.[24] Er bat den Berliner Kontrollrat, eine Genehmigung zu erteilen, um ein neues DRK für Deutschland zu erschaffen. Doch trotz der großen Not im Land war diese Bitte vergebens. Deutschland hatte bedingungslos kapituliert und zentrale deutsche Einrichtungen schienen den Siegermächten eine potenzielle Gefahr.[25] In einem Memorandum vom 25. September 1945, das Nadolny überreicht wurde, stellten die Amerikaner fest, „das DRK habe als nationale Dienststelle aufgehört zu bestehen. Die führenden Persönlichkeiten seien ihren Ämtern enthoben. Die Erlaubnis zur Neubildung sei nicht erteilt worden.“[26] Lediglich kleine, noch bestehende lokale Verbände wurden geduldet. Auch ein Appell des Internationalen Roten Kreuzes an die Alliierten im Sommer 1945, der den dringenden Bedarf nach Wiederaufnahme der Rotkreuz-Tätigkeit in Deutschland betonte, brachte nichts.[27]
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