Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gerieten nicht nur Erwachsene, sondern auf barbarische Weise auch, meist jüdische, Kinder ins Visier der neuen Regierung. Zögerlich setzte ab 1933 „(...) ein organisiertes Bemühen, Kinder und Jugendliche zu retten (...)“[2] ein.
Tausende Kinder konnten gerettet werden, indem man ihnen zur Flucht verhalf und ein Leben im Exil ermöglichte. Hauptsächlich durch die Kindertransporte nach Großbritannien und die Jugend–Alijah nach Palästina konnten wohl weit über 10.000 Kinder und Jugendliche Hitler-Deutschland verlassen.[3] Mit der Jugend-Alijah wurden ab 1932 Jugendliche zur Landarbeit nach Palästina gebracht.[4] Zwischen 1932 und 1941 konnten mit Hilfe dieser Organisation „(...) insgesamt über 7.000 Jugendliche im Alter zwischen 15 bis 17 Jahren aus Deutschland, Österreich und den deutschbesetzten Gebieten nach Palästina gebracht werden.“[5]
In Großbritannien trafen bereits Anfang Dezember 1938 die ersten Kindertransporte mit 200 deutschen Kindern ein, zehn Tage später folgte ein Transport mit 500 Kindern[6]. Es folgten noch viele weitere.
Auch in fast allen weiteren europäischen Staaten hatten deutsche Kinder Zuflucht gefunden. „Im besetzten Frankreich lebten mit Hilfe vor allem privater Hilfsorganisationen ca. 8.000 Kinder im Verborgenen.“[7] Auch die nunmehr im Untergrund operierende französische Gesundheitsfürsorgeorganisation OSE setzte sich für den Schutz jüdische Kinder ein.[8]
In der Schweiz war es das SHEK (Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder), durch das etwa 10.000 Kindern ein Aufent- halt in der Schweiz ermöglicht wurde.[9] Auch in den Niederlanden hielten sich ca. 4.500 deutsche Kinder auf[10], sowie in Dänemark, Schweden, der Sowjetunion und weiteren europäischen Ländern.
Die Exilstationen der verfolgten Kinder beschränkten sich jedoch nicht nur auf Europa, in alle Erdteile waren sie zerstreut. So handelt der bekannte Film „Nirgendwo in Afrika“ von dem Schicksal eines jüdischen Mädchens mit ihren Eltern im afrikanischen Exil. Bekannt ist auch die Geschichte der deutschen Trapp-Familie in Amerika. Sie wurde in den USA als erfolgreiches Musical (The Sound of Music) verfilmt.
In Argentinien gab es so viele emigrierte Kinder, dass man in Buenos Aires eigens für diese Gruppe eine Pestalozzischule gründete.
In dem Buch „Kleine Verbündete – Little Allies“ findet sich ein Hinweis auf die „(...) wichtigsten europäischen Exilländer[n](...), in denen Jugendgruppen der Exilorganisation ´Free Austrian Movement` bestanden.“[11] Genannt werden hier Palästina, Mauritius, Australien, Kanada, USA, Indien und die lateinamerikanischen Staaten.[12]
Einige konnten mit ihren Eltern oder zumindest einem Elternteil Deutschland verlassen. So konnten ca. 1.000 Kinder „(...) mit ihren Müttern, die als Kindermädchen arbeiteten, in Groß- britannien eine neue Heimat finden.“[13]
Die meisten jüdischen Kinder wurden von den Exilländern jedoch per Sammelvisum aufgenommen. So wurden, meist durch die jüdischen Gemeinden, Kinder bis zum Alter von 16 Jahren für die Transporte ausgewählt und von Berlin oder Wien aus in Gruppen von bis zu 500 ins Ausland gebracht.[14] Hierzu schreibt Rebekka Göpfert in „Die Kindertransporte 1938/39“:
„Die Erfahrungen der Kindertransport-Teilnehmer unterscheiden sich erheblich von denen der Erwachsenen, die geflohen sind: Ein Kind konnte in der Regel nicht selbst über seine Emigration entscheiden, oftmals wurde den Kindern erst am Bahnhof bekannt, dass sie ihre Eltern verlassen mussten; die Emigration fand in der längst noch nicht abgeschlossenen Phase der Kindheit statt, in der eine vertraute Umgebung mit bekannten Menschen eine notwendige Entwicklungsvoraussetzung ist. Zudem sind Kinder immer angewiesen auf Hilfe und Unterstützung von anderen; ganz besonders gilt dies in der Fremde.“[15]
Im Falle der Kindertransporte nach England brachte man die Kinder nach ihrer Ankunft zunächst in Aufnahmelager unter, bevor sie in Gastfamilien oder Heime verteilt wurden.[16] Ähnlich wird in anderen Exilländern verfahren worden sein, zumindest in den noch nicht von Deutschland besetzten Staaten. In diesen nämlich mussten die Kinder versteckt leben.
So lebten die emigrierten Kinder also in den meisten Fällen ohne ihre Familie in Gastfamilien oder in Heimen für exilierte Kinder.
Man ging im Grunde davon aus, dass der Aufenthalt im Gastland nur vorübergehend war und die Kinder spätestens nach einigen Jahren wieder ihren Eltern zugeführt werden konnten. Dass die meisten der Kinder ihre Eltern wohl nie wieder sehen würden und sehr viele ihr Leben lang im Exilland bleiben würden, damit rechnete man damals nicht.[17]
In vielen Ländern wurden Schulen für die Kinder eingerichtet, um ihnen zu einer gewissen Normalität im Gastgeberland zu verhelfen. Wie wichtig diese schulische Normalität für die Kinder war, belegt Anna Seghers mit einem Zitat eines russischen Lehrers in ihrem Aufsatz „Frauen und Kinder in der Emigration“:
„´Manche dieser kleinen Burschen und Mädchen haben mehr Abenteuer bestanden als sonst eine ganze Generation. [...] Manches dieser Kinder hat selbst in entscheidenden Augenblicken ganz erstaunliche Umsicht und Tapferkeit bewiesen. Da meinen viele von ihnen, man könnte ihnen doch wirklich das Einmaleins erlassen. Von diesem Trugschluß müssen wir die Kinder heilen. Wir müssen sie zunächst wieder zu gewöhnlichen Schulkindern machen, wir müssen sozusagen das Umgekehrte tun, was man sonst in Schulen tut. Während es sonst für einen Lehrer die schwierigste Aufgabe sein mag, Kraft und Selbstbewußtsein des jungen Kindes auch für eine harte Situation zu stärken, müssen wir alles tun, um diese Kinder an das gewöhnliche alltägliche Kinderleben, an die Wichtigkeit der Schulaufgaben zu gewöhnen.`“[18]
Schulen, die im Exilland für die emigrierten Kinder gegründet wurden, folgten oftmals „(...) dem Vorbild reformpädagogischer Erkenntnisse (...) und [vermittelten] eine mehrsprachige humanistische Bildung.“[19]
So gab es in der Schweiz seit 1934 die Ecole d´Humanité , seit 1933 die Bunce Court School in Großbritannien, die Walkemühle-Schule in Dänemark und Großbritannien, ab 1937 die ´Schule am Mittelmeer` in Italien, die Pestalozzi-Schule in Buenos Aires und das zionistische Internat Kristinehov in Schweden.[20]
Wie wichtig die „Alltagserfahrung Schule“ für die Kinder war, belegt auch, dass selbst im südfranzösischen Lager Gurs unter schweren Bedingungen eine Schule und ein Kindergarten eingerichtet wurden.[21]
Wie konnten Kinder nun die Situation des Exils verkraften? Wie
nahmen sie diesen Einschnitt in ihr junges Leben auf, die Trennung von Heimat und Eltern?
Bis heute „(...) hat die Exilforschung (...) keine komplexe Darstellung über Kindheit im Exil vorgelegt.“[22] In der Literatur gibt es jedoch einige Hinweise zu diesem Thema. So schreibt Marianne Kröger in ihrem Forschungsdesiderat „Kindheit im Exil“ sehr differenziert.
Als Charakteristika von kindlichen Exilerfahrungen nennt sie den Biographiebruch durch das Herausreißen aus der gewohnten Lebensumwelt, der zu einem Gefühl von Entwurzelung führen kann[23], außerdem frühzeitiges Erwachsenwerden mit gleich- zeitiger frühen „(...) Selbständigkeit, Umsicht und Verantwortungsübernahme“[24], sowie eine veränderte Zeiterfahrung.[25]
Belastende Gefühle für die emigrierten Kinder waren vielfältiger Weise. So mussten viele von ihnen Angst- und Terrorerfahrungen verarbeiten und oftmals die Sehnsucht und Angst um noch in Deutschland gebliebene Angehörige und Freunde bewältigen.[26]
Für Kinder die noch kein sicheres Identitätsgefühl entwickelt haben ist der Verlust des Platzes innerhalb der Gesellschaft besonders schwerwiegend.[27] Sie sahen sich konfrontiert mit der „(...) Auflösung des Familien- und Freundesverbandes durch Emigration oder Verhaftung, (...) Wechsel der Schule, (...) Ausbleiben des bisherigen ´arischen` Freundeskreises (und) erzwungenem örtlichen...