1. Pflegen? – Längst schon Männersache!
Ich glaube, wir alten Säcke sind wieder sehr gefragt.
(Georg Ringsgwandl)
»Das Alter ist weiblich!«, so lautet der kategorische Satz vieler Publikationen und Verlautbarungen, die sich mit den Geschlechterverhältnissen im Alter befassen. Und in der Tat scheinen die Zahlen dies zu belegen: Während bis zum Alter von 65 die Geschlechterrelation noch annähernd ausgeglichen ist, kommen bei den 80-Jährigen zwei Männer auf drei Frauen und bei den 90-Jährigen beträgt das Verhältnis bereits eins zu drei2. Altenclubs, Altenkreise und andere Angebote für Ältere werden vorwiegend von Frauen besucht. Rund 85 Prozent der in Pflegeheimen Lebenden sind Frauen, die von prozentual ebenso vielen weiblichen Pflegekräften3 und noch mehr hauswirtschaftlichen Mitarbeiterinnen versorgt und von überwiegend weiblichen Ehrenamtlichen betreut werden. Auch in der Pflege von Angehörigen sind es in der Mehrzahl Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter, die sich um ihre Partner oder Eltern kümmern.
Der alte(rnde) Mann, das unbekannte Wesen
Weil das Alter weiblich ist, so die häufige Schlussfolgerung, müssen alle Energien auf die benachteiligten alten Frauen und auf die, die sich um sie kümmern, konzentriert werden. Es soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass Frauen mehr als Männer von Altersarmut betroffen sind, dass sie häufiger alleine leben müssen und in Verbindung mit ihrer höheren Lebenserwartung darum auch öfter auf stationäre Pflege angewiesen sind. Aber mit welchem Recht werden die Lebenslagen der männlichen Minderheit bagatellisiert oder – noch schlimmer – gar nicht erst zur Kenntnis genommen? Der alte Mann ist noch immer das unbekannte Wesen der Sozialforschung und der Gerontologie – kaum erforscht, selten besprochen, wenig bekannt. Die Gerontologie, die Wissenschaft vom Alter(n), hat das Wissen über nahezu alle Fragen des Alter(n)s rasant vermehrt und den Kontinent »Alter« fast lückenlos erforscht und vermessen. Doch den älteren Mann hat sie bei ihren vielfältigen Bemühungen weitgehend übersehen und vergessen.
Die wenigen gesicherten wissenschaftlichen Befunde zu Männern und Alter, die ich in meinem Buch »Männer altern anders« zusammengetragen und in vielen Vorträgen auch außerhalb der Fachwelt vorgestellt habe, stoßen auf eine überraschend große Resonanz:
- Wie können Männer – und auch ihre Partnerinnen – die Krise der Entberuflichung bewältigen?
- Wie kann Partnerschaft unter völlig veränderten äußeren Bedingungen gelingen?
- Wie kann man eine nachberufliche Lebensspanne gestalten, die länger als die Berufsphase sein kann?
- Wie bewältigen Männer körperliche Einbußen und Gebrechlichkeit?
- Warum ist die Suizidquote der alten Männer so unglaublich hoch?
- Warum sterben die Männer im Vergleich zu den Frauen so früh und warum wird dies überwiegend achselzuckend als »Naturgesetz« zur Kenntnis genommen?
Es ist müßig, darüber zu streiten, ob Mann oder Frau die größeren Probleme mit dem Alter(n) hat, es sind in jedem Fall andere. Gerade weil Alter und Altenarbeit so weiblich geprägt sind, ist es umso wichtiger, die männliche Minderheit nicht aus dem Blick zu verlieren. Wo findet der Mann in einer weiblichen Altersgesellschaft seinen Platz? Was sind Ursachen dieser Asymmetrien? Was muss geschehen, damit sich die (Geschlechter-)Verhältnisse verändern? So wie das Postulat »Das Alter ist weiblich« den Blick auf den alten und alternden Mann verstellt, gilt dies auch für den viel gebrauchten Satz »Die Pflege ist weiblich!«. Er stimmt, wenn man sich die professionelle Alten- und Krankenpflege anschaut, wo auf einen Mann vier Frauen kommen. Mit allen Mitteln ist deswegen auf eine Erhöhung des Männeranteils in der professionellen Pflege hinzuwirken4.
Aber dieser Satz stimmt zunehmend weniger, wenn man die Pflege von Angehörigen zu Hause betrachtet. Zwar gibt es bislang nur wenige belastbare statische Zahlen zum Geschlechterverhältnis in der häuslichen Pflege, unter anderem deswegen, weil mit unterschiedlichen Definitionen von »Hilfs- und Pflegebedürftigkeit« und dementsprechend von »Pflegepersonen« operiert wird. Aber auch wenn man sich nur auf die Hauptpflegepersonen im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes beschränkt[1], ist der Männeranteil nach den Ergebnissen bundesweit repräsentativer Infratest-Untersuchungen von 1996 bis 2010 von 20 auf 28 Prozent aller Pflegenden angestiegen, der Anteil der pflegenden Söhne hat sich im gleichen Zeitraum von 5 auf 10 Prozent verdoppelt5.
Da an häuslichen Pflegeverhältnissen im Durchschnitt jedoch mindestens zwei Angehörige beteiligt sind6, beschreibt diese amtliche Definition von Pflegepersonen nur die halbe Wirklichkeit. Der Sozioökonomische Panel (SOEP) erfasst über die Hauptpflegepersonen hinaus auch alle anderen Beteiligten, die für pflegebedürftige Personen mindestens eine Stunde pro Tag aufwenden. Nach dieser Repräsentativbefragung belief sich der Männeranteil von 2007 bis 2010 auf 36,3 Prozent, was 2010 insgesamt 1,47 Millionen Männer waren7. 2008 lag bei den 60- bis 86-Jährigen der Anteil der Männer, die nach eigener Aussage pflegen, sogar bei 40 Prozent8.
An dieser Stelle sei im Übrigen auch das allfällige Gerede von der angeblich nachlassenden und zurückgehenden Pflegebereitschaft der Angehörigen entschieden zurückgewiesen: Nach wie vor werden 70 Prozent aller Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt. Von 2001 bis 2010 hat die Zahl der Frauen und Männer, die sich um ihre pflegebedürftigen Angehörigen kümmern, von 3,1 auf insgesamt 4,3 Millionen zugenommen und sich damit um 37 Prozent gesteigert9. Zu keiner Zeit haben so viele Menschen ihre Angehörigen gepflegt wie heute, obwohl die Voraussetzungen hierfür durch abnehmende Kinderzahlen, zunehmende Berufstätigkeit und wachsende berufliche Mobilität immer schwieriger werden!
Die marginalisierten pflegenden Männer
Männer sind damit deutlich häufiger und aktiver an Pflege beteiligt, als dies vielfach angenommen oder suggeriert wird. Häusliche Pflege ist längst schon zur Männersache geworden. Dies wird allerdings – auch in Fachpublikationen – immer wieder übersehen, verschwiegen oder als angeblich quantitativ irrelevant ausgeklammert. Was wir heute über Männer und Pflege wissen, kommt vorwiegend aus angelsächsischen Untersuchungen. Aber auch dort beklagt der amerikanische Pflegeforscher Richard Russell, dass Männer als Pflegende nur gelegentlich in der Pflegeliteratur der letzten beiden Jahrzehnte erwähnt wurden und dass ihre Erfahrungen fortwährend übersehen oder marginalisiert werden oder lediglich als Kontrastfolie für weiblich Pflegende benutzt werden10. Oder wie sein Kollege Lenard Kaye beklagt, die Männer in der familiären Pflege würden damit aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein gelöscht11.
Entgegen ihren erklärten Absichten tragen solch einseitigen Publikationen dazu bei, dass Pflege weiterhin als »weiblich« betrachtet und so der Status quo verfestigt wird. Wie sich solche wissenschaftliche Einäugigkeiten in sozialpolitischen Publikationen und Maßnahmen niederschlagen können, belegt die Veröffentlichung eines Statistischen Landesamtes: Dort wird in einer Statistik unter dem Begriff »informelles Pflegepotenzial« die zurückgehende familiäre Pflegebereitschaft beklagt. In einer Fußnote kann man mit Erstaunen nachlesen, was mit »informellem Pflegepotenzial« gemeint ist, nämlich ausschließlich 45- bis 60-jährige Ehefrauen und (Schwieger-)Töchter mit einer maximalen Berufstätigkeit von 50 Prozent12. Diese Definition geht jedoch vollkommen an der Pflegewirklichkeit vorbei, da die so definierte Gruppe lediglich ein Drittel aller tatsächlich in der Angehörigenpflege Tätigen umfasst. Vor diesem Hintergrund nimmt es auch nicht wunder, dass sich bislang alle Ratgeberliteratur zum Thema »Häusliche Pflege« ausschließlich an Frauen wendet13.
Auch der gelegentlich vorgebrachte Einwand, dass man die Quantität der pflegenden Männer ja nicht infrage stellen würde, aber dass die Qualität der männlichen Pflege eine geringere als die der Frauen sei, lässt sich nicht halten. Der zeitliche Umfang für die Pflege unterscheidet sich bei Frauen und Männern nur unwesentlich: Gemäß dem 7. Familienbericht der Bundesregierung verwenden Frauen durchschnittlich drei Stunden für die Pflege und Männer etwas mehr als zweieinhalb Stunden14.
Ehrenamtliche Care-Worker
Neben den Männern in der Pflege ihrer Angehörigen gibt es eine wachsende Zahl von Männern, die sich im weiteren Feld von Care ehrenamtlich oder gegen eine geringfügige Aufwandsentschädigung engagieren. Der Begriff Care, für den es im Deutschen keine angemessene Entsprechung gibt, umfasst das weite Spektrum fürsorglicher Tätigkeit für Menschen zwischen erziehen, kümmern, begleiten, betreuen, versorgen und pflegen, die im Lebensverlauf oder in besonderen Lebenssituationen abhängig sind.
Während sich der Anteil ehrenamtlich engagierter Menschen in den letzten Jahren konstant um 36 Prozent bewegt, stieg die Engagementquote der Männer zwischen 55 und 70 Jahren bemerkenswert an und liegt bei rund 40 Prozent und auch bis 75 Jahre noch bei 37 Prozent15. Ein wachsender Teil dieser Männer ist in pflegeflankierenden Projekten wie Nachbarschaftshilfen, häuslichen Besuchsdiensten, Besuchsdiensten im Krankenhaus- und Pflegeheim, Betreuungsgruppen für demenziell Erkrankte, Hospizdiensten oder innovativen Initiativen wie den baden-württembergischen Seniorennetzwerken engagiert. Diese unterstützen das selbstständige...