»Ich kann unter diesen Umständen gut verstehen, daß Sie Ihr Geheimnis wahren möchten, Akasho. Aber wie konnten Sie es vermeiden, Ihrer Frau davon zu erzählen?«
»Ich glaube, sie ahnt etwas, aber im Grunde sind ihr der Hinduismus, seine tausend verschiedenen Richtungen und seine hunderttausend Gottheiten, Inkarnationen und Gestalten von immer ein und demselben ein großes Rätsel. Sie ist nicht weiter in mich gedrungen und zeigt sich zufrieden, wenn ich meine Söhne den allgemeinen Regeln entsprechend erziehe.«
Akasho blickte auf seine Uhr, ein gediegenes, altmodisches goldenes Prachtexemplar, wie es die Inder als Statussymbol lieben. Er schien zu überlegen, ja, es war mir, als würde er mit sich kämpfen. Er schaute mehrmals zur Tür und dann auf mich und dann wieder zur Uhr. Am Ende sagte er, seine Nervosität zügelnd: »Ich muß bald gehen. Aber vorher möchte ich Sie noch etwas fragen, Mrs. Doris. Haben Sie schon einmal von der Bhaktibewegung gehört?«
»Nein, was ist das?« Plötzlich war die Atmosphäre im Raum sehr dicht und spannungsgeladen. Ich verstand nicht, wieso, stellte aber fest, daß mein Gesprächspartner wieder zögerte und sich in allgemeine Informationen flüchtete, als er weitersprach.
»Seit Urzeiten gibt es hier im Süden eine Art Volksfrömmigkeit, die sich ganz unabhängig gemacht hat von den strengen Vorschriften des alten Hinduismus, von Regeln über die Kastenzugehörigkeit, vom Geschlecht, von Glaubensrichtungen. Man singt und feiert oft zusammen, und jeder preist seinen Gott auf seine Weise.«
»Ist das auch eine Sekte oder eine Religionsgemeinschaft?« wollte ich wissen.
»O nein, nein«, beteuerte er, »weder das eine noch das andere. Es ist eine geistig-religiöse Weise, jegliche Religion auszuüben oder religiös zu sein. Ich bin nicht nur Virashaiva, sondern auch Bhaktianhänger.«
Er sprach diesen Satz mit einem Nachdruck, als erwartete er, daß ich mich vor Erstaunen über diese Enthüllung im Bett aufsetzen müßte. Doch durch meine Arbeit war ich einiges an Geständnissen gewöhnt, und so bewahrte ich meine Haltung. Ich merkte natürlich, daß der Professor immer mehr in Erregung geriet, teils wegen der Dinge, über die er sprach, teils wegen des Zeitdrucks. Wahrscheinlich hatte er eine Verabredung. Ich wollte ihm jedenfalls meine Bereitschaft zum Zuhören signalisieren und dachte mir, daß er noch irgend etwas besonders Wichtiges auf dem Herzen habe und die Zeit dafür schon noch reichen müsse. Schließlich waren wir in Indien, da kam es auf ein paar Minuten nicht an.
»Erzählen Sie mir mehr davon«, bat ich und schmunzelte trotz aller gespannter Aufmerksamkeit heimlich in mich hinein. Denn unversehens war ich doch wieder in eine einseitig ermunternde therapeutische Haltung verfallen wie bei meinen Patienten. »Ich möchte das gern besser verstehen.« Gute alte Methode!
»Es geht um das persönliche Verhältnis des Gläubigen zu seiner Gottheit«, rief der Professor schnell und blickte dabei mit leuchtenden Augen weit ins Leere, »es geht um die Intensität seiner Anbetung, um die Gefühle, die er entwickelt, die Sehnsucht des Herzens nach Verschmelzung mit dem Ewigen, es geht um die seelische Nähe!« Die schmalen Hände hatte er über der Mitte seiner Brust zusammengelegt, und sein Gesicht war gerötet. Dann hielt er inne, verschränkte die Finger in seinem Schoß, schaute mich prüfend an und erkundigte sich bei mir mit ängstlich bittendem Unterton: »Mrs. Doris, begreifen Sie, was ich damit sagen will?«
Er schien nach all dem, was ich an kritischen Bemerkungen zu Beginn unserer Bekanntschaft geäußert hatte, davon auszugehen, daß ich mir seine erhebende Gefühlslage überhaupt nicht vorstellen konnte. Dabei hatte der Mann mich schon vor Ergriffenheit weinen sehen! Ich wurde ein bißchen ärgerlich. Dachte er denn, ich sei ein nach westlicher Manier geschnitzter Holzklotz ohne Innenleben?
»Mein lieber Akasho«, wandte ich mich ihm zu, faßte mich wieder und schaute ihm ernsthaft in die glühenden Augen, »aber ganz gewiß ahne ich, wovon Sie sprechen. Ich glaube, es handelt sich um das, was man bei uns Mystik nennt, eine besondere Form der emotionalen Gottesnähe.«
Er blickte mich erleichtert, ja geradezu dankbar an. »Genau, eine Mystik. Nun, ein Brahmane als Anhänger des Bhaktikults – das ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Deshalb rede ich auch nicht gerne darüber.« Er lächelte etwas verlegen und strich sich erneut über Stirn und Haar. »Aber Ihnen kann ich es ja sagen, Sie werden mich nicht verachten, obwohl ich nicht die traditionellen Forderungen meiner Kaste erfülle. Für mich gibt es zum Beispiel keine Unberührbaren. Ich glaube, vor Gott sind alle Menschen gleich viel wert. Niemand ist ausgeschlossen. Damit verstoße ich schon gegen alle Regeln. Meine Brahmanenbrüder dozieren den Hinduismus mit gelehrten esoterischen Theorien, die das Volk noch nie, zu keiner Zeit, verstanden hat. Sanskrit wurde immer zur Abgrenzung gegen die Unwissenden benutzt, genau wie bei Ihnen in Europa das Kirchenlatein. Bhakti hingegen wird auch vom einfachsten Menschen verstanden! Hier geht es nur um das Gemüt des Gläubigen. Gelehrsamkeit trennt! Mystische Verzückung, das ist es, was wir suchen.«
Weil das Fenster geschlossen war, drangen nun Essensdüfte aus dem unteren Stockwerk über die Treppe bis nach oben. In meinem Bett liegend, roch ich die verschiedenen Currymischungen, die für die Speisen am Abend vorbereitet wurden und im heißen Kokosöl ihr Aroma entfalteten. Mir wurde ein wenig übel davon, denn ich hatte keinen Appetit auf scharfes, fettes Essen. Ich fühlte mich von diesen Gerüchen im Augenblick direkt belästigt, wollte ich doch den Gefühlen und Argumenten, die der Professor mir anvertraute, ungehindert folgen können.
»Glauben Sie, ich hätte Professor werden können, wenn ich nicht Brahmane wäre?« rief er heftig und begann, im Zimmer umherzulaufen. »Meinen Sie, meine Artikel würden in den Fachzeitschriften veröffentlicht, wenn man an oberster Stelle wüßte, daß ich Bhaktianhänger und Sektenmitglied bin? Die Toleranz des Hinduismus findet scharfe Grenzen, wenn es um ihre praktische Anwendung geht. Und können Sie sich vielleicht vorstellen, daß meine brahmanischen Studenten mich noch respektierten, wenn sie erführen, daß ich überhaupt nicht die korrekte Durchführung der heiligen Handlungen, sondern allein die Gnade Gottes und die glühende Liebe zum Göttlichen für den Weg zur moksha, zur Erlösung halte?« Er war jetzt sichtlich erregt. »Ich bin einer der ihren, und bin es doch nicht. Ich bin zwar ihr verehrter Lehrer, aber ich teile ihre Ansichten nicht. Das darf niemand erfahren. Selbst meinen Söhnen würde ich es nicht sagen. Sie müssen ihren eigenen Weg finden. Jetzt sind sie ohnehin zu jung. Ich bin verpflichtet, sie in den traditionellen Riten zu unterweisen, denn sie brauchen mein Vorbild.«
»Ich begreife jetzt viel besser«, sagte ich mit echter Anteilnahme, »daß es Ihnen wichtiger ist, eine fromme Christenfrau zu haben als eine unfromme Frau aus Ihrer eigenen Kaste.«
»Wir lesen abends gemeinsam die wunderbaren Agamas, poetische Meisterwerke, heilige Offenbarungen, den Veden ebenbürtig. Das sind dann Momente wahren Glücks für uns. Wir fühlen uns vereint durch die innige Liebe zu Shiva und Jesus. Ist es nicht viel wichtiger, mit Gott zu sprechen als über ihn? Die glühende, ekstatische Hingabe, das inbrünstige Rezitieren und die unendliche Dankbarkeit für die Gnade, die uns zuteil wird, machen uns glücklich und schenken uns auch Gelassenheit im Leben, befreien uns von falschem Ehrgeiz. Wir glauben, der Sinn jeder einzelnen Handlung muß Gott dienen. Ob einer Tat Erfolg oder Mißerfolg entsprießt, ist unwichtig. Allein auf die innere Haltung kommt es an.«
Eine solche Beschreibung ehelicher Gemeinschaftlichkeit hatte mir noch niemand geliefert, in meiner gesamten Praxis nicht. Ich wußte zwar nicht, ob ich das aus therapeutischer Sicht gebilligt hätte, stellte aber fest, daß ich irgendwie gerührt war. Bei dem, was Akasho so begeistert erzählte, waren selbst mir die Augen ein wenig feucht geworden. Ich hätte mir zwar unter idealer Partnerschaft etwas anderes vorgestellt, aber mit viel Erfahrung auf diesem Gebiet konnte ich ja nun leider nicht aufwarten. Sollte es aber zutreffen, daß die Ehe unter anderem auch eine spirituelle Wachstumsgemeinschaft ist – ja, was wäre dann besser als das Verhältnis, das diese beiden zueinander haben? Über das gemeinsame Gebet hinaus hatten sie ja noch die Kinder.
Die Beziehung zu seiner Frau interessiert mich mehr, als mir lieb sein sollte, stellte ich fest, ja, ich bin fast ein wenig eifersüchtig, noch dazu, wo sie so jung und schön ist. Das ist ungewöhnlich! Ich kenne solche Regungen doch gar nicht. Aber wenn ich Akasho betrachte, wie er jetzt vor Begeisterung glühend an meinem Bett sitzt, wundert es mich wiederum nicht, daß ich ihn plötzlich attraktiv finde.
Unsere Stimmung wurde außerordentlich gelöst, harmonisch und geradezu intim. Dabei redeten wir über Religion! Vermieden wir, von persönlicheren Dingen zu sprechen, die vielleicht zu brisant waren? Lag es an ihm, dem Professor, lag es an Indien, lag es an Mutters Tod, daß sich meine Aufmerksamkeit jetzt mehr und mehr auf diesen transzendenten Bereich richtete? Oder war es die tiefe Entspannung, die mir die Tore zu einer anderen Dimension öffnete? Denn wahrscheinlich war ich noch niemals in meinem irdischen Dasein so ausgeruht gewesen wie jetzt. Was tat ich denn anderes, als täglich stundenlang formlos zu meditieren, seit ich hier angekommen...