VORWORT
Jede nützliche Person ist ehrbar.
JULIUS KRAUTZ,
Scharfrichter von Berlin (1889)1
Es ist Donnerstag, der 13. November 1617, ein kühler Morgen. Die Sonne blickt kaum über den Horizont, da versammelt sich bereits eine Menschenmenge. Für heute ist nämlich eine öffentliche Hinrichtung in der Freien Reichsstadt Nürnberg angekündigt. In ganz Europa ist diese Stadt als Bastion von Recht und Ordnung bekannt. Schaulustige aus allen Gesellschaftsschichten möchten sich einen guten Platz sichern, ehe das große Ereignis beginnt. Verkäufer haben Stände errichtet, um Nürnberger Würstchen, Sauerkraut und gesalzene Heringe zu verkaufen. Entlang der gesamten Strecke der Prozession, vom Rathaus bis zum Galgen vor der Stadtmauer, reiht sich eine Bude an die andere. Erwachsene und Kinder drängeln sich durch die Menge und bieten Bier und Wein zum Verkauf an. Inzwischen haben sich mehrere Tausend Zuschauer versammelt, und dem guten Dutzend Büttel der Stadt, den sogenannten Schützen, sieht man an, dass ihnen nicht wohl ist bei dem Gedanken, hier für die Aufrechterhaltung der Ordnung verantwortlich zu sein. Betrunkene junge Männer schubsen sich und werden unruhig, ihre obszönen Liedchen sind nicht zu überhören. Der Gestank von Erbrochenem und Urin mischt sich mit dem angenehmen Duft gegrillter Würstchen und gerösteter Kastanien.
Gerüchte über den verurteilten Häftling, der wie üblich nur der »arme Sünder« genannt wird, machen die Runde. Die wesentlichen Daten sprechen sich rasch herum: Sein Name ist Georg Karl Lambrecht, 30 Jahre alt, ursprünglich aus dem fränkischen Mainbernheim. Obwohl er eine Müllerlehre gemacht und jahrelang als Müller gearbeitet hatte, rackerte er sich zuletzt in der niederen Stellung eines Weinträgers ab. Jeder weiß, dass er zum Tod verurteilt wurde, weil er gemeinsam mit seinem Bruder und anderen verruchten Gesellen, die aber allesamt entkommen konnten, Gold- und Silbermünzen in großen Mengen gefälscht hat. Mehr als die Fälschertätigkeit fasziniert die wartenden Zuschauer allerdings, dass diesem Mann, der von seiner ersten Frau wegen Ehebruchs geschieden worden ist und eine Zeit lang mit einer berüchtigten Hexe, der Eisenbeißerin, »im Lande herumgeschlampen« hat, magische Kräfte nachgesagt werden. Erst neulich hat Lambrecht, so mehrere Zeugen, eine schwarze Henne in die Luft geworfen, gerufen: »Sehe, teuffel, da hast du deine speise, schaffe mir jetzunder auch die meine!« und darauf einen seiner zahlreichen Feinde mit einem Todesfluch belegt. Von seiner verstorbenen Mutter ging ebenfalls das Gerücht, sie sei eine Hexe gewesen, und sein Vater wurde schon vor vielen Jahren als Dieb gehängt, was die Einschätzung des Gefängniskaplans bestätigt, dass »der apfel nicht weit vom baum gefallen ist«.
Kurz vor Mittag fangen die Glocken der nahe gelegenen Kirche des heiligen Sebald an zu läuten, gefolgt von der Frauenkirche am Marktplatz und der Lorenzkirche auf der anderen Seite der Pegnitz. Wenige Minuten später wird der arme Sünder mit Ketten an den Füßen und einem straff gebundenen Seil um die Hände durch eine Seitentür aus dem Rathaus geführt. Johannes Hagendorn, einer der beiden Kapläne des Strafgerichts, schreibt später in sein Tagebuch, Lambrecht habe sich in diesem Moment an ihn gewandt und inständig um Vergebung seiner vielen Sünden gefleht. Außerdem bittet er ein letztes Mal darum, mit einem Schwertstreich gegen den Hals hingerichtet zu werden, denn das ist ein schnellerer und ehrenhafterer Tod als das Verbrennen bei lebendigem Leib – die vorgeschriebene Strafe für Falschmünzerei. Die Bitte wird abgelehnt, dann führt Frantz Schmidt, seit vielen Jahren Scharfrichter der Stadt, Lambrecht zum benachbarten Marktplatz. Von dort setzt sich nun die Hinrichtungsprozession gemessenen Schrittes zum etwa eine Meile entfernten Richtplatz in Bewegung. Der Richter des Blutgerichts, der in eine rot-schwarze Robe gekleidet ist, führt den feierlichen Zug zu Pferde an. Ihm folgen zu Fuß der Verurteilte, zwei Kapläne und der Henker – den Stadtbewohnern besser bekannt unter dem Ehrentitel Meister Frantz. Hinter ihm gehen dunkel gekleidete Vertreter des Nürnberger Rates, Angehörige der führenden Familien der Stadt, gefolgt von den Vorsitzenden mehrerer Handwerkerzünfte. Sie alle bezeugen den wahrhaft bürgerlichen Charakter der Veranstaltung. Weinend geht Lambrecht an den Zuschauern vorüber, wünscht allen Menschen, die er kennt, seinen Segen und bittet sie um Vergebung. Durch das Frauentor lässt der Zug die mächtigen Stadtmauern hinter sich und nähert sich seinem Ziel: einer erhöhten Plattform, die im Volksmund Rabenstein genannt wird, nach den Vögeln, die nach der Hinrichtung einen Festschmaus an den menschlichen Überresten halten. Der arme Sünder steigt mit dem Henker die Steinstufen zur Plattform hoch und wendet sich der Menge zu, um zu ihr zu sprechen. Unweigerlich fällt sein Auge auf den nahen Galgen. Einmal mehr legt er ein öffentliches Geständnis ab und fleht um göttliche Vergebung, dann fällt er auf die Knie und spricht das Vaterunser, während der Kaplan ihm Worte des Trostes zuflüstert.
Nach dem Gebet setzt Meister Frantz Lambrecht in den Richtstuhl und schlingt ihm eine feine Seidenschnur um den Hals, damit der Verurteilte, von der Menge unbemerkt, erdrosselt werden kann, bevor sein Leib zu brennen anfängt – ein letzter Akt der Gnade seitens des Henkers. Außerdem fixiert er den Verurteilten mit einer Kette um die Brust, hängt ein Säckchen Schießpulver an dessen Hals und legt mit Pech bestrichene Kränze zwischen Lambrechts Arme und Beine, um das Verbrennen zu beschleunigen. Der Kaplan betet weiter mit dem armen Sünder, während Meister Frantz mehrere Büschel Stroh um den Stuhl aufschichtet und mit kleinen Klammern fixiert. Kurz bevor der Henker eine Fackel zu Lambrechts Füßen wirft, zieht sein Gehilfe, von der Menge unbemerkt, die Schlinge um den Hals des Verurteilten enger, um ihn zu erdrosseln. Dass dies misslungen ist, zeigt sich, als die Flammen am Richtstuhl lecken, denn der Verurteilte schreit pathetisch: »Herr, in deine hände befehle ich meinen geist.« Während das Feuer weitertobt, ertönt immer wieder der Schrei: »Herr Jesu nimm meinen geist auf!«, dann ist nur noch das Knistern der Flammen zu hören, und der Gestank von verbranntem Fleisch liegt in der Luft. Später am selben Tag vertraut Kaplan Hagendorn seinem Tagebuch voller Mitgefühl an: Aufgrund des eindeutigen Beweises frommer Reue am Ende »zweifle ich auch gar nicht, er seie zwar durch den erschröcklichen und erbärmlichen tod zum ewigen leben hindurch gedrungen und ein kind und erbe des ewigen lebens worden«.2
Ein Ausgestoßener scheidet aus dieser Welt; ein anderer bleibt zurück und fegt die verkohlten Knochen und Glutreste seines Opfers zusammen. Berufsmäßige Mörder wie Frantz Schmidt sind lange gefürchtet, verachtet und sogar bemitleidet worden, doch in den seltensten Fällen sah man nicht nur die Funktionsträger, sondern auch die Menschen und hielt sie der Erinnerung der Nachwelt für würdig. Aber was geht diesem 63-jährigen erfahrenen Scharfrichter durch den Kopf, während er den Stein sauber fegt, von dem noch vor wenigen Minuten die letzten Schreie einer verzweifelten Frömmigkeit durch den dichten Rauch drangen? Ganz gewiss keine Zweifel an der Schuld Lambrechts. Schließlich hatte Frantz Schmidt höchstpersönlich in zwei langen Verhören die Schuld des Angeklagten nachgewiesen, dazu kommen die Aussagen mehrerer Zeugen – ganz zu schweigen von den Fälscherwerkzeugen und anderen unwiderlegbaren Beweisen, die im Haus des Verurteilten gefunden worden sind. Denkt Meister Frantz womöglich über die verpfuschte Strangulierung nach, die ein so peinliches Schauspiel überhaupt erst ermöglicht hat? Ist deshalb seine Berufsehre verletzt, sein Ansehen befleckt? Oder ist er durch fast fünf Jahrzehnte in einem, wie alle meinen, extrem abstoßenden Beruf zur Gefühllosigkeit versteinert?3
Normalerweise wäre die Beantwortung dieser Fragen reine Spekulation, ein Ratespiel ohne jede Aussicht auf eine befriedigende Lösung. Doch in diesem Fall verfügen wir über einen seltenen und entscheidenden Vorteil: Ähnlich wie der bei der Hinrichtung anwesende Kaplan führte auch Meister Frantz ein Tagebuch, in dem er sämtliche Hinrichtungen und anderen Strafen, die er während seiner außerordentlich langen Berufstätigkeit vollstreckte, verzeichnete. Dieses bemerkenswerte Dokument deckt einen Zeitraum von 45 Jahren ab, von Schmidts erster Hinrichtung im Alter von 19 Jahren im Jahr 1573 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 1618. Die grauenvolle Tötung des reuigen Falschmünzers war seine letzte Hinrichtung, der Endpunkt einer Karriere, in der er nach eigener Zählung 394 Menschen tötete und Hunderte auspeitschte und verstümmelte.
Was ging also in Meister Frantzens Kopf vor? Obwohl dieses Tagebuch den deutschen Frühneuzeithistorikern wohl bekannt ist, hat bisher kaum jemand versucht, diese Frage zu beantworten. Seit dem Tod des Verfassers kursierten zwei Jahrhunderte lang mindestens fünf Abschriften des inzwischen verlorenen Originals, 1801 und 1913 erschienen gedruckte Ausgaben und 1928 eine gekürzte englische Übersetzung der Fassung von 1913. Es folgten mehrere Neuauflagen der beiden deutschen Ausgaben.4
In der Ecke für Stadtgeschichte einer Nürnberger Buchhandlung begegnete ich vor einigen Jahren zum ersten Mal dem Tagebuch des Meister Frantz. Dieser Moment war zwar nicht so spektakulär wie, sagen wir, die Entdeckung eines verschollenen Manuskripts in einem versiegelten Gewölbe, das sich erst öffnet, wenn man eine Reihe uralter Rätsel...