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E-Book

Meerjungfrauen

Geschichten einer unmöglichen Liebe

AutorAndreas Kraß
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783104007076
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Die Literaturgeschichte der Meerjungfrauen reicht von den Sirenen der Antike über die Melusinen des Mittelalters bis zu den Undinen der Romantik und darüber hinaus. Sie schließt auch die Nymphen der Donau, des Rheins und der Saale mit ein. Im Laufe der Zeit wechseln die Meerjungfrauen Gestalt und Bedeutung: als Vogelfrauen sind sie Verderberinnen, als Schlangenfrauen Gebärerinnen, als Nymphen mit oder ohne Fischschwanz Verführerinnen. Ihre Geschichten erzählen von der Unmöglichkeit der Liebe, aber immer auch von den Möglichkeiten der Dichtung. Ein poetischer Streifzug in sieben Kapiteln zu Texten von Homer und Heine, Fouqué und Fontane, Goethe und Grillparzer, Brentano und Bachmann, Thüring und Tieck, Vulpius und Wilde, Hans Christian Andersen und vielen anderen.

Andreas Kraß, geb. 1963, lehrt nach einer Professur für Ältere Deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main seit 2012 Ältere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Literatur des hohen Mittelalters an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt von ihm erschienen ?Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe? (2010) sowie im Fischer Taschenbuch Verlag der gemeinsam mit Thomas Frank herausgegebene Band ?Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums? (2008).

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Leseprobe

I. Sinnbilder: Liebe und Literatur


Geschichten, die von Meerjungfrauen handeln, sind Geschichten einer unmöglichen Liebe. Die Literaturwissenschaft spricht hier vom Erzählmuster der gestörten Mahrtenehe.[1] Mahrten sind Feen. Das Wort ist noch im deutschen Nachtmahr greifbar, dem Dämon, der die Menschen im nächtlichen Alptraum (engl. nightmare) heimsucht.[2] Mit gestörten Mahrtenehen sind tragisch verlaufende Verbindungen zwischen Menschen und Feen gemeint. Die Beziehungen scheitern an der Wesensdifferenz von Mensch und Fee, die nur so lange überbrückt werden kann, wie der Mann ein Tabu wahrt, das die Fee ihm gesetzt hat. Er darf ihr in bestimmten Situationen nicht zu nahe treten. Nun ist seit der Geschichte vom Sündenfall im Paradies bekannt, dass Verbote letztlich nur deshalb aufgestellt werden, damit sie gebrochen werden. Die Überschreitung geht dem Verbot immer schon voraus, sonst müsste es ja nicht aufgestellt werden. Auch die Meerjungfrauen sind den Mahrten zuzurechnen. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Lehre von den Elementargeistern, die am deutlichsten bei Paracelsus zu greifen ist, unterscheidet zwischen vier Typen von Geistern, die den Elementen zugeordnet sind. Die Geister des Wassers heißen Nymphen, die Geister der Luft Sylphen, die Geister der Erde Pygmäen und die Geister des Feuers Salamander. In diesem Gattungssystem entsprechen die Meerjungfrauen den Nymphen, den Geistern des Wassers.

Das deutsche Wort ›Meerjungfrau‹ ist zum ersten Mal in der Mitte des 14. Jahrhunderts belegt. Konrad von Megenberg, Verfasser eines Naturkundebuchs, bezeichnet Skylla – eines der Meerungeheuer, auf die Odysseus nach der Begegnung mit den Sirenen zusteuert – als meriuncfraw. Für die Sirenen benutzt Konrad hingegen das Wort ›Meerfrau‹ (merweip). Als übergeordneter Gattungsbegriff dient ihm der Ausdruck ›Meerwunder‹ (merwunder). Dieselbe Bezeichnung wählt auch Thüring von Ringoltingen für die Protagonistin seines in der Mitte des 15. Jahrhunderts verfassten Romans Melusine. Melusine ist eine Brunnenfee, die sich jeden Samstag in eine Schlangenfrau verwandelt. Das Tabu, das sie vor ihrer Hochzeit mit einem Ritter namens Reymond aufgestellt hat, besteht darin, dass er sie samstags nicht im Bad besuchen darf. Als er es dennoch tut, fliegt sie aus dem Fenster davon. Das Wort ›Meerfrau‹ ist schon in der höfischen Dichtung des 12. Jahrhunderts geläufig. Einer der frühesten und bekanntesten Belege findet sich im Nibelungenlied. Dort ist von zwei Meerfrauen (merwîp) namens Hadeburg und Sieglinde die Rede, denen Hagen an der Donau begegnet. Sie werden als schillernde Gestalten vorgestellt, die sich teils wie höfische Damen, teils wie gefährliche Nymphen gebärden.[3]

Wie Meerjungfrauen nicht nur Geister des Meeres, sondern auch der Seen, Brunnen und Flüsse sind, so umfassen sie auch hinsichtlich ihrer Anatomie ein breites Spektrum. Die Sirenen der Antike imaginierte man als Vogelfrauen, die Melusinen des Mittelalters als Schlangenfrauen und die Nymphen der Romantik als menschenförmige Frauen. Es liegt an Hans Christian Andersens Märchen, dass man sich heute unter einer Meerjungfrau ein Wesen vorstellt, dessen Leib in einem Fischschwanz endet. Andersen war nicht der Erfinder dieser Vorstellung, aber er hat sie so populär gemacht, dass sie auf die antiken und mittelalterlichen Nymphen zurückbezogen wurde. In der Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts wurden auch die Sirenen und Melusinen mit Fischschwanz dargestellt.[4] Wie das Wort reicht auch die bildliche Vorstellung der geschwänzten Meerjungfrau weit ins Mittelalter zurück. Seit dem 13. Jahrhundert sind in Tierbüchern, sogenannten Bestiarien, Darstellungen von Meerjungfrauen mit nacktem Oberkörper und blauem Fischschwanz allgegenwärtig.[5]

Wer eine Literaturgeschichte der Meerjungfrauen schreibt, muss sich beschränken, denn die Zahl der einschlägigen Dichtungen ist uferlos. Die Eingrenzung erfolgt mit Hilfe einer differenzierten Typologie,[6] die sich an den Kriterien der Epoche (Antike, Mittelalter, Romantik, Moderne), des Namens (Sirene, Melusine, Donauweibchen, Loreley, Undine), der Anatomie (Vogel, Schlange, Fisch) und der dominierenden Handlungsrolle (Verderberin, Gebärerin, Verführerin) orientiert. Jedem dieser Typen ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Zunächst wird jeweils derjenige Text besprochen, der die literaturgeschichtliche Tradition der betreffenden Typen eröffnet. Zu nennen sind im Falle der Sirenen Homers Odyssee; im Falle der Melusine der gleichnamige Roman Thürings von Ringoltingen mit seinen französischen Vorläufern Couldrette und Jean d’Arras; im Falle des Donauweibchens (aus Gründen, die noch darzulegen sind) Christian August Vulpius’ Roman Die Saal-Nixe; im Falle der Loreley Clemens Brentanos Ballade Zu Bacharach am Rheine; im Falle der Undine Friedrich de la Motte Fouqués gleichnamige Erzählung und im Falle der kleinen Meerjungfrau Andersens gleichnamiges Märchen. Auf die Analyse der Haupttexte folgt jeweils die Untersuchung von sechs Variationen, anhand derer sich die literaturgeschichtlichen Wandlungen nachzeichnen lassen. Die Metamorphosen reichen jeweils bis in die Moderne hinein. Von der Sirene ist nicht nur bei Homer die Rede, sondern auch bei Kafka; von der Melusine nicht nur bei Thüring, sondern auch bei Fontane; von der Undine nicht nur bei Fouqué, sondern auch bei Bachmann; von der kleinen Meerjungfrau nicht nur bei Andersen, sondern auch bei Thomas Mann. So schreitet das Buch in doppelter Weise durch die Epochen der Literaturgeschichte: einerseits kapitelübergreifend von Homers Sirene bis zu Andersens Meerjungfrau, andererseits innerhalb der Kapitel vom jeweiligen Haupttext bis hin zu den modernen Fassungen. Dass jeweils nur sechs Variationen besprochen werden, ist eine Entscheidung, die dem begrenzten Umfang des Buches geschuldet ist; die Liste ließe sich jeweils beliebig verlängern.

Die Studie erfordert eine komparatistische Perspektive, da die einschlägigen Gründungstexte der Antike, des Mittelalters, der Romantik und der Moderne aus verschiedenen Sprachen und Ländern stammen: die Sirene aus Griechenland, die Melusine aus Frankreich, die romantischen Nymphen aus Deutschland und die kleine Meerjungfrau aus Dänemark. Im Kapitel zur kleinen Meerjungfrau tritt der komparatistische Aspekt am stärksten hervor; hier kommen dänische (Andersen), deutsche (Pappenheim, Mann), englische (Wilde) und amerikanische (Sheldon) Autorinnen und Autoren zum Zuge. Die österreichische Literatur ist in Henslers Donauweibchen, Grillparzers Melusina und Bachmanns Prosa Undine geht vertreten, die französische Literatur in Montaignes Essay Über die Freundschaft und Giraudoux’ Drama Undine, die italienische Literatur in Dantes Göttlicher Komödie, die griechische Literatur in Homers Odyssee und die lateinische Literatur in Horaz’ Dichtkunst und Ovids Metamorphosen. Die kanonische Dominanz männlicher Schriftsteller betrifft auch die Literaturgeschichte der Meerjungfrau. Nur zwei der in diesem Buch behandelten Texte stammen von Autorinnen, diese haben aber jeweils epochalen Rang: Bertha Pappenheims Märchen Die Weihernixe für die Geschichte der Psychoanalyse und Ingeborg Bachmanns Prosa Undine geht für die Geschichte des Feminismus. Auch die Literatur homosexueller Autoren kommt ausdrücklich zur Sprache – nicht, weil der Verfasser dieses Buches großen Wert darauf legte, sie als solche zu identifizieren, sondern weil es eine prominente germanistische Deutungstradition gibt, die vom literarischen Motiv der Meerjungfrau auf die sexuelle Präferenz des Autors schließt (Hans Mayer, Heinrich Detering und Michael Mahr in ihren Studien über Hans Christian Andersen und Thomas Mann). Die ausgewählte Literatur umfasst nicht nur Romane, Novellen und Gedichte, sondern auch Opernlibrettos und Filmskripts. Diese werden als literarische Texte eigenen Rechts behandelt. Wenn Opern zur Sprache kommen, so steht nicht der Komponist, sondern der Librettist im Mittelpunkt. Dies betrifft in chronologischer Reihenfolge Henslers Donauweibchen (Kauer), Fouqués Undine (Hoffmann), Grillparzers Melusina (Kreutzer), Lortzings Undine (Lortzing), Geibels Loreley (Bruch), Wagners Rheingold (Wagner) und Kvapils Rusalka (Dvořák).

Dieses Buch befragt die Meerjungfrau als Sinnbild der Liebe. Die Wesensdifferenz von Mensch und Fee ist letztlich eine metonymische Verschiebung, sie steht für die imaginierte Wesensdifferenz von Mann und Frau. Die Meerjungfrau repräsentiert ein männliches Phantasma des Weiblichen, das die Frau als Fee überhöht. Insofern versteht sich die vorliegende Untersuchung nicht nur als Beitrag zur Literaturgeschichte, sondern auch zur Geschlechtergeschichte.[7] Die epochalen Wandlungen des Motivs der Meerjungfrau verweisen auf kulturgeschichtliche Wandlungen der Bilder und Vorstellungen, die man sich von der Frau und vom Begehren zwischen Mann und Frau machte und immer noch macht. Es sind Bilder und Vorstellungen, die immer irritierender, immer unmöglicher werden, je länger man sie betrachtet. Um den Blick zu schärfen, empfiehlt es sich, ihre epochalen Ausprägungen jeweils mit einer bewährten kulturtheoretischen Sehhilfe zu betrachten. So lässt sich...

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