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Geschichte Tschechiens

Vom Mittelalter bis zur Gegenwart

AutorJoachim Bahlcke
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2014
ReiheBeck'sche Reihe 2797
Seitenanzahl130 Seiten
ISBN9783406661808
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Tschechien - ein junger Nachbarstaat, und doch ein Land mit einer über tausendjährigen, wechselvollen Geschichte. Die Mittlerstellung der böhmischen Länder zwischen Ost und West war stets Herausforderung und Chance zugleich. Bis zum Ende des 20.Jahrhunderts wechselten Phasen einer eigenständigen Entwicklung und Zeiten imperialer Unterdrückung einander ab. Der Band bietet einen Überblick über die politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung eines Staates, der über Jahrhunderte hinweg ein besonderer Partner der deutschen und österreichischen Geschichte war.

Joachim Bahlcke, geb. 1963, ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Stuttgart. Seine wichtigsten Studien gelten der frühneuzeitlichen Religions-, Sozial- und Verfassungsgeschichte Ostmitteleuropas. Prag und den böhmischen Ländern fühlt er sich seit einem einjährigen Forschungsaufenthalt an der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften in den Jahren 1990/91 in besonderer Weise verbunden.

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Leseprobe

I. Territorium, Sprache und Nation


Den ersten, 1836 in Prag in deutscher Sprache veröffentlichten Band seiner Geschichte von Böhmen widmete Franz Palacky den «hochlöblichen Herren Ständen», die dem böhmischen Landesarchivar fünf Jahre zuvor den Auftrag zur Abfassung einer Landesgeschichte erteilt hatten. «Die eigenthümlichen Schwierigkeiten einer Darstellung des alten Volkslebens der Böhmen», heißt es im Vorwort, «rühren zunächst von der Verschiedenheit der Elemente her, welche sich darin abspiegeln: des allgemein slawischen, das ursprünglich vorherrschte, des deutschen, das vorzüglich seit dem 10. Jahrhunderte immer größeren Eingang fand, und endlich eines böhmischen, das sich zum Theil aus der Vermischung der beiden ersten erzeugte.» In der Einleitung des zehnten und letzten, 1867 vorgelegten Teilbands teilte der Autor dann seinen Lesern mit, dass er sich – «zumal seit dem Jahre 1848» – verpflichtet gesehen habe, sein Werk «in beiden Landessprachen» herauszugeben, wobei «im böhmischen Texte» unverändert einige Lücken klafften. In tschechischer Sprache trug das Werk den Titel Dějiny národu českého w Čechách a w Morawě. Der Autor selbst schrieb sich dort František Palacký.

Der Historiker Palacký, der zur führenden geistigen und politischen Autorität der tschechischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts heranreifen sollte, beschrieb als erster die Geschichte Böhmens als eine «Geschichte des tschechischen Volkes» – so der Titel der Parallelausgabe – in diesem Raum. Sein monumentales, mehrfach neu aufgelegtes Werk fand in den böhmischen Ländern daher vor allem unter den Tschechen großen Zuspruch. «Es war die Arbeit eines ganzen Halbjahrhunderts, es war wie das Ausgraben einer durch Jahrhunderte verschütteten herrlichen Stadt, eines großen Pompeji des ganzen Volkes», urteilte 1898 der tschechische Historiker Josef Pekař. Bedeutsam ist das Werk bis heute auch deshalb, weil sich an ihm über den Zusammenhang von historischer Selbstvergewisserung und politischer Nationsbildung hinaus die grundsätzliche Frage erörtern lässt, was eigentlich der Gegenstand einer historischen Darstellung wie der vorliegenden sei. Denn die Leitbegriffe des deutschen wie des tschechischen Titels von Palackýs Geschichtswerk, die einen Bezug auf Territorium, Sprache und Nation enthalten, waren bei Lichte besehen seit frühesten Zeiten unbestimmt, besaßen also ganz unterschiedliche Sinngehalte und waren je nach Interessenlage und Standort mehrdeutig verwendbar. Die Probleme, die sich aus der engen Verknüpfung von Sach- und Sprachgeschichte ergeben, haben seit Mitte des 20. Jahrhunderts zwar an Brisanz, nicht aber an Bedeutung verloren. Dies hat nicht zuletzt zur Folge, dass die vorliegende Überblicksdarstellung den im Deutschen ungewöhnlichen, weil mit einer langjährigen Tradition brechenden Titel Geschichte Tschechiens trägt.

Für das im 10. Jahrhundert unter der Herrschaft der Přemysliden entstandene, ethnisch noch homogene slawische Herzogtum hatte sich allmählich die lateinische Bezeichnung Boemia oder Bohemia, abgeleitet vom einstigen Siedlungsgebiet der keltischen Bojer, durchgesetzt. Als Lehnwort wurde dieser Landesname ins Deutsche und in andere germanische und romanische Sprachen übernommen, nicht aber ins Tschechische. Dort bildete sich der Begriff Čechy heraus, in Anlehnung an den Namen eines im mittleren Böhmen ansässigen Stammes. Da mit dem Landesnamen auch die Landesbewohner bezeichnet wurden, entstanden mit der Einwanderung deutscher Siedler im Laufe des Mittelalters begriffliche Unschärfen. Im deutschen Sprachgebrauch wurden das Wort «Böhmen» und dessen Ableitungen in der Regel in einem territorialen, sprachneutralen Sinn gebraucht; ein Böhme war ein Bewohner des Landes, unabhängig von Sprache und ethnischer Herkunft. Mit der «böhmischen Sprache» allerdings war stets die tschechische gemeint. Das Tschechische wiederum kennt keine Möglichkeit, in einem territorial-staatlichen und national-sprachlichen Sinn zu differenzieren. So kann das Adjektiv český sowohl «böhmisch» als auch «tschechisch» bedeuten. Entsprechend unklar blieb, ob man mit einem Čech allgemein einen Bewohner des Landes meinte oder eine Tschechisch sprechende Person. Über Jahrhunderte hinweg bestand kein Bedürfnis, das Verhältnis zwischen der böhmischen Nation in einem umfassenden Sinn und der tschechischen Sprache begrifflich zu klären. Im Zuge der nationalen Auseinandersetzungen zwischen Tschechen und Deutschen in der Zeit vom Vormärz bis zur Staatsgründung 1918 wuchsen sich diese Probleme jedoch zu einem Politikum ersten Ranges aus.

«Zumal seit dem Jahre 1848», so hatte es Palacký mit Blick auf die Folgen der revolutionären Ereignisse in seinem Land formuliert, wurde die traditionelle Auffassung, die böhmische Nation sei schon seit langem eine zweisprachige, als unzeitgemäß empfunden. Mit der Nationalisierung der deutschsprachigen und der tschechischsprachigen Bevölkerung hatte sich der historisch und territorial orientierte, zur Versöhnung mahnende Bohemismus als nationenübergreifende Idee weitgehend überlebt. «Wir brauchen ein schlagendes Wort zur Bezeichnung unseres Volksstammes, und das kann böhmisch nicht sein, da es zweideutig ist», argumentierte der tschechische Literaturwissenschaftler Arnošt Kraus und schlug die Einführung des Begriffs «čechisch» in deutschsprachigen Texten vor. Dies war allerdings aus zwei Gründen umstritten. Zum einen schwang bei der Verwendung der Bezeichnungen «čechisch» oder «Čeche» in der deutschsprachigen Publizistik stets ein gewisser pejorativer Unterton mit. Zum anderen aber drohte man den Anspruch auf das Gesamtgebiet Böhmens zu verlieren, wenn man die Namensgleichheit zwischen Land und Bevölkerung aufgab. Unter der neuen Selbstbezeichnung «Tschechen» konnte man für eine vermeintlich geschichtslose Sprachgruppe gehalten werden, als «Böhmen» dagegen war man eine historische Nation und stand in der langjährigen Tradition eines mächtigen, eigenständigen Staatsgebildes.

Das Neben- und Gegeneinander verschiedener Identitätsentwürfe führte besonders im 19. Jahrhundert bei Selbst- und Fremdbenennungen zu einer Inflation von Namensvarianten. So entstanden nur schwer zu übersetzende Wortbildungen wie českoslovanský und českoněmecký (sinngemäß «tschechoslawisch» beziehungsweise «böhmischdeutsch»), die in unterschiedlichen Zusammenhängen ganz Unterschiedliches bezeichnen konnten. Alle politischen Konzeptionen wiederum waren mit bestimmten territorialen Vorstellungen verbunden, die mal die Einheit des Landes, mal eine Aufteilung nach Sprachgebieten oder eine Außenzuordnung – in Richtung gesamtösterreichische Staatsnation, Großdeutschtum oder Slawismus – postulierten. Dass selbst die stabilste Grenzziehung überhaupt, die kirchliche, in Frage gestellt und die Einrichtung «nationaler» Bistümer verhandelt wurde, macht den Ernst, aber auch die Ratlosigkeit gegenüber den politischen und sozialen Problemen in Böhmen um 1900 deutlich.

Neben der Frage, was genau Tschechen und Deutsche eigentlich unter Čechy beziehungsweise «Böhmen» verstanden, gibt es ein zweites, im Grunde sehr viel älteres Problem mit dem Landesnamen. Auch hier sind die beiden Titel von Palackýs eingangs genanntem Geschichtswerk aufschlussreich. In der deutschen Fassung genügte die Angabe Geschichte von Böhmen, weil mit der einen geographischen Bezeichnung – sprachlogisch recht eigenwillig – nicht nur ein Teilgebiet, das historische Herzogtum und spätere Königreich Böhmen im engeren Sinn, sondern auch das politisch-territoriale Staatsgebilde der böhmischen Länder als Ganzes bezeichnet werden konnte. Im Tschechischen war dies so nicht möglich. Da Čechy ausschließlich die Einzellandschaft meint, war hier die Nennung der zweiten, politisch mit Böhmen seit dem Hochmittelalter verbundenen und nach ihrem Hauptfluss March (Morava) benannten Kernregion, Mähren, unabdingbar.

Auch in diesem Fall deuten die semantischen Probleme auf tiefere Spannungen in der Sache hin. Lange Jahrhunderte bildete Mähren – ebenso wie Schlesien und die Ober- und Niederlausitz – eines der sogenannten Nebenländer der corona Bohemiae, innerhalb derer Böhmen zwar das Kernland, aber eben nur ein politisches Teilsystem neben anderen darstellte. Da sich ein eigener Name für das Staatsgefüge als Ganzes nicht durchsetzte, war man zu Umschreibungen genötigt. In Anlehnung an die biblische Metapher vom Haupt und seinen Gliedern sprach man von «Böhmen und den ihm einverleibten Ländern» (Čechy a země inkorporované) oder den «Ländern der Wenzelskrone» (země koruny svatováclavské), später dann kurz von den «böhmischen Ländern» (země...

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