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Wir sind alle die Größten
Sie sind Führungskraft? Jetzt mal ehrlich. Eigentlich waren Sie doch bisher der Meinung, dass zumindest bei Ihnen in der Abteilung, in Ihrem Team, alles in Ordnung ist. Wenn ich Sie gefragt hätte, auf dem letzten Kongress oder sonstwo: „Sag mal, wie ist es denn so um die Motivation in deiner Abteilung bestellt?“ Dann hätten Sie mir als Führungskraft geantwortet: „Och du, eigentlich super. Und wenn ich einen erwische, der nicht dauerhaft motiviert ist, der nicht mitzieht, den schmeiß’ ich raus. Hochkant. Ich meine, einen schlechten Tag kann sicher jeder mal haben. Aber grundsätzlich würde ich sagen, dass in meiner Welt alles in Ordnung ist.“ Ich bin sicher, Sie hätten vielleicht eine andere Wortwahl bevorzugt. Aber Sie hätten auf jeden Fall mit einer positiven Grundstimmung geantwortet.
Nun ist aber nicht alles in Ordnung. Und angesichts der eklatanten Ergebnisse der Gallup-Studie dürfte Ihnen kaum entgangen sein, dass auch bei Ihnen in der Abteilung nicht alles nach Rosen duften kann. Jetzt gibt es verschiedene Möglichkeiten, warum Sie nicht wahrheitsgemäß etwas in der Art von „Na ja, so richtig toll ist es nicht und ich hab sogar ein paar richtig faule Äpfel dabei“ geantwortet haben. Die erste Möglichkeit wäre, dass Sie zumindest wissen, was Sache ist, und einfach eiskalt gelogen haben. Das wäre die beste Variante. Die zweite Möglichkeit wäre, dass Sie tatsächlich keine Ahnung haben, wie es Ihren Mitarbeitern so geht. Das wäre richtig schlecht. Die dritte Möglichkeit ist, dass Sie schon irgendwie eine dunkle Ahnung hatten, dass es nicht so richtig toll ist, Sie diese dunkle Ahnung aber lieber verdrängt haben. Das wäre noch o.k. Zumindest verständlich. Warum, das erkläre ich Ihnen jetzt.
Verdrängung
Werfen wir mal einen Blick darauf, warum die mangelnde Motivation und die Gründe, die dahinterstecken, von Ihnen entweder nicht wahrgenommen oder verdrängt werden. Und da ist auch schon unser Schlüsselwort: Verdrängen. Verdrängen ist an sich – wenn es nicht um tief gehende Traumata geht – eine sehr hilfreiche Sache. Ein psychologischer Schutzmechanismus. Der hilft übrigens auch den demotivierten Mitarbeitern, ihren Job zu machen, soweit es eben geht. Und er hilft auch, manche speziellen Arbeitssituationen zu bewältigen. Nämlich diejenigen, die derart frustrierend sind, dass eigentlich nur die Kündigung bleibt. Trotzdem: Würde man einem Angestellten eine ähnliche Frage stellen, nämlich wie es mit seiner eigenen Motivation aussieht, dann bekäme man höchstwahrscheinlich, wenn man die Frage nicht um 0:30 Uhr am Tresen stellen würde, eine ähnlich positive Antwort: „Klar, ich bin eigentlich immer motiviert.“ Nur stimmt das eben nicht. Und auch diese Antwort ist in Verdrängung begründet.
Verdrängung ist nicht immer schlecht. Tatsächlich hilft sie uns, uns auf etwas zu konzentrieren, was eigentlich im Moment nicht höchste Priorität für uns hätte. Ich erkläre das mal an einem Beispiel. Auf dem Fischmarkt, aber auch an allen anderen Ständen, an denen etwas verkauft wird, ist das wunderbar zu sehen. So! Der Stand sieht gut aus, das Eis ist aufgeschüttet, der Fisch schön präsentiert, die Ware ist komplett ausgezeichnet und dann kommt der erste Kunde. Und spätestens ab diesem Moment spielen die Sorgen, die die Verkäufer wie alle anderen Menschen auch im Alltag betreffen, überhaupt keine Rolle mehr. Nicht das schlechte Zeugnis der Tochter, nicht die Frage, ob ich die Kosten für die Inspektion des Autos zahlen kann, wo die Karre doch schon auf der Fahrt zur Werkstatt so komische Geräusche gemacht hat. Und auch nicht, was nun aus Vatter wird, mit seiner schlimmen Hüfte. Nein. In diesem Moment existiert nur der Kunde. Das Verkaufsgespräch ist alles, was noch eine Rolle spielt. Das ist ein Mitnahme-Geschäft hier. Anhauen, umhauen und abkassieren. So sieht das aus. Rambazamba muss da jetzt am Stand sein. Ansprechen. Komm mal ran hier. Zur Ware bringen … die hohe Kunst des Verkaufens. Die steht jetzt im Mittelpunkt. Verkaufen ist jetzt die priorisierte Aufgabe im Kopf. Und zum Glück haben wir diesen Verdrängungsmechanismus im Kopf. Der sorgt nämlich dafür, dass ich das kann: mich ganz auf die Aufgabe konzentrieren. Der sorgt dafür, dass alle anderen Themen, die mich sonst gerade so interessieren oder belasten, in den Hintergrund rücken. Das schlechte Zeugnis oder dieser seltsame Schmerz in der Brust, wegen dem ich eigentlich schon vor vier Wochen zum Arzt wollte. Denn wenn ich über diesen Schmerz nachdenken würde, könnte ich mich nicht auf den Kunden konzentrieren. Und das wäre nicht gut. Das Kundengespräch – der Job, das Einkommen – ist in diesem Fall die absolute Grundlage von allem. Denn dieser Job sorgt dafür, dass ich mich zumindest materiell um meine Tochter kümmern und die Werkstattrechnung für das Auto bezahlen kann. Tatsächlich schaffe ich mir dadurch auch ein positives Selbstbild: Ich bin ein guter Fischverkäufer. Ich will und werde heute erfolgreich Fisch verkaufen, ich werde viele Kunden glücklich machen.
Allerdings hat die Sache einen Haken. Verdrängung funktioniert nur bis zu einem gewissen Maße. Und dieses „gewisse Maß“ ist von Individuum zu Individuum verschieden. Wenn Verdrängung perfekt funktionieren würde, gäbe es keine Traumata und keine posttraumatischen Störungen. Die sind aber für viele Menschen – Missbrauchsopfer, heimgekehrte Soldaten, Unfall-Überlebende – bittere Realität. Verdrängung funktioniert bei manchen Sorgen leichter als bei anderen. Ein plötzlicher Trauerfall in der Familie ist natürlich schwerer zu verdrängen als eine drohende Stilllegung des eigenen Autos durch den TÜV. Und wenn so etwas passiert, ein Trauerfall, dann nimmt, wer kann, einen Tag frei oder Urlaub. Und das ist völlig o.k. und akzeptiert.
Manchmal geht das aber nicht. Ich erzähle Ihnen dazu ein Beispiel aus der Welt des Motivations-Coachings: Da war dieses Team von Coachs. Der Chef an der Spitze und zwei Kotrainer. Ein Projekt, an dem ein ganzes Team über ein Jahr gearbeitet hatte. Mit einer Investitionshöhe weit jenseits der 100.000 Euro. Der Kunde war ein großes Industrieunternehmen. Die Kick-off-Veranstaltung war für diesen Morgen um 9:00 Uhr geplant. Alles war bereit. Bei den Trainern herrschte höchste Konzentration. 120 Führungskräfte warteten im Schulungsraum der neu errichteten Konzernzentrale auf den ersten Motivationsvortrag. Das Team und der Referent waren gut drauf. Da klingelte das Telefon. Die aufgelöste Ehefrau des Cheftrainers teilte unter Tränen mit, dass ihre Mutter, mit der der Cheftrainer ebenfalls sehr eng verbunden war, gestorben sei. Batsch! Und jetzt? Die Frau saß heulend zu Hause. Der Mann sollte gleich den Vortrag halten, der ein ganzes Team über Wasser halten würde. Jetzt mussten grundlegende Dinge schnell erledigt werden. Eine gute Freundin wurde angerufen, damit die Ehefrau nicht mehr allein zu Hause saß. Dann mussten die ersten Formalitäten in Gang gebracht werden. Zudem lebte die Schwiegermutter des Cheftrainers 2.500 Kilometer entfernt im Ausland und die wesentlichen Maßnahmen, wie Beerdigung und so weiter, mussten vor Ort erledigt werden. Tausend Dinge, die jetzt plötzlich wichtig wurden. Aber da draußen, im chromblitzenden, nagelneuen Schulungsraum, warteten 120 Führungskräfte darauf, durch einen Impuls-Vortrag bespaßt zu werden. Nachdem die wesentlichen Dinge grob geklärt waren, bat der Coach einen Kollegen, eine kurze und normalerweise nicht übliche Einleitung zu halten, mit den wartenden Führungskräften den technischen Ablauf und Details zu klären, um einfach noch eine halbe Stunde zu gewinnen, um sich zu sammeln. Die Trauer drückte. Aber jetzt galt es, den Fokus ganz auf das Wesentliche hier und jetzt in diesem Moment scharf zu stellen. Und das war eben ein gelungener Vortrag. Konzentration, das gedankliche Zurückrufen der Wichtigkeit des Projekts, nicht nur für den Trainer, sondern auch für die vielen Mitarbeiter, die in das Projekt eingebunden waren, sorgte dafür, dass die in diesem Moment richtige Priorisierung wieder im Kopf war. Um es abzukürzen: Der Vortrag und das gesamte Event wurden ein Erfolg. Aber dann, um Punkt 17:00 Uhr, brach Hein Hansen zusammen und musste sich von einem Kollegen, dem er sich anvertraut hatte, nach Hause bringen lassen. Der Coach war ich. Und warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte? Natürlich damit Sie wissen, dass man mich auch für Vorträge und Coachings buchen kann. Aber vor allem um Ihnen zu zeigen, dass wir in der Lage sind, Aufgaben, Herausforderungen und Probleme in unserem Kopf unterschiedlich zu priorisieren. Haben wir wichtige Aufgaben – jetzt aktuell –, dann sind wir in der Lage, die Probleme, die eigentlich unser Denken beherrschen sollten, zu unterdrücken und zu verdrängen und das Wesentliche in den Mittelpunkt zu stellen.
Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt
In...