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E-Book

Oper sinnlich

Die Opernwelten des Nikolaus Harnoncourt

AutorAnna Mika, Johanna Fürstauer, Nikolaus Harnoncourt
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl496 Seiten
ISBN9783701744756
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Das Musiktheater des Nikolaus Harnoncourt, von Monteverdi bis Strawinski: Ein Leben im Spiegel der Oper. Mehr als 400 Jahre ist die Oper nun alt, und wenn sie bis heute immer noch jung geblieben ist, dann liegt das an Künstlern wie Nikolaus Harnoncourt und seinem unermüdlichen Bemühen um die Erneuerung der Kunst und unseres Verständnisses von Kunst. Sein 80. Geburtstag ist eine gute Gelegenheit, seinen Weg durch die bunte Welt der Oper zu verfolgen und an zahlreichen Beispielen, von Monteverdis 'L'Orfeo' über Mozarts 'Figaro' bis zu Strawinskis 'The Rake's Progress', zu erfahren, wie lebendig Oper sein kann. Oper ist ein Theater für alle Sinne, kein verstaubtes Relikt der Vergangenheit, keine leere Tradition und schon gar keine Spielwiese für elitäre Eitelkeiten. Text, Musik, Schauspiel und das Bild der Bühnenwelt verschmelzen in der Oper zu einem einzigartigen Kosmos, in dem sich die menschliche Natur spiegelt. Und darum ist Oper letztlich eine Notwendigkeit, wie jede Kunst. Das beweist Nikolaus Harnoncourt von Mal zu Mal, mit Leidenschaft, Intelligenz und Überzeugung. Dieses Buch legt dafür ein spannendes Zeugnis ab.

Nikolaus Harnoncourt, geboren 1929 in Berlin, gründete 1953 sein Ensemble für Alte Musik, den Concentus Musicus. Als Dirigent erhielt er zahlreiche internationale Auszeichnungen, u. a. den Musik-Preis der Ernst-von Siemens-Stiftung (2002) und den Kyoto-Preis (2005).

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Leseprobe

Claudio Monteverdi und die Erfindung der Oper


Claudio Monteverdi an seine Leser


Unter den Leidenschaften und Affekten, die uns bestimmen und unser „Inneres bewegen, muß man meiner Meinung nach als die wichtigsten unterscheiden: den Zorn, die besonnene Ruhe sowie die demütig bittende oder auch flehende Grundhaltung. Diese Dreiteilung finden wir bei den größten Philosophen, ja selbst in der Natur der menschlichen Stimme, die entweder hoch, tief oder mittel ist, und auch in den Charakterisierungen der Tonkunst mit concitato, molle und temperato. Nun habe ich in allen Werken früherer Komponisten zwar viele Beispiele des molle- oder temperato-Stils gefunden, jedoch kein einziges des concitato-Stils, obgleich doch Plato im dritten Buch der Rhetorik diesen Stil mit folgenden Worten beschreibt: „Benutze die Harmonie, welche auf angemessene Weise Ausdruck und Ton eines tapferen Mannes nachahmt, der in einen Kampf verwickelt ist.“ Und da ich überdies weiß, daß es mehr als alles andere die Gegensätze sind, die unser Inneres stark bewegen und die Wirkungtun, die gute Musik haben muß–, wie ja auch Boëthius bestätigt, wenn er sagt: „Die Musik ist uns eingeboren. Sie veredelt oder verdirbt unseren Charakter“ –, habe ich nicht wenig Mühe und Überlegung darauf verwendet, den concitato-Stil wieder zum Leben zu erwecken. Nachdem ich darüber nachgedacht hatte, daß gemäß den Aussagen der größten Philosophen für lebhafte und zum Krieg aufstachelnde Musik das rasche ‚tempo piricchio’1 Verwendung fand und für Musik gegenteiligen Inhalts das gemächliche ‚spondeische‘ Taktmaß, begann ich die Semibreve zu untersuchen und kam zu dem Schluß, daß eine einzelne ganze Note einem einzelnen ‚spondeischen‘ Taktmaß entsprechen solle, daß aber eine ganze Note, aufgelöst in Sechzehntelnoten, die rasch nacheinander angeschlagen werden, zusammen mit einem Text, der Zorn und Empörung ausdrückt, sehr wohl den Affekt ausdrücken würde, den ich suchte, selbst wenn das Versmaß des Textes mit der Schnelligkeit des Instruments nicht würde Schritt halten können. Um das, was ich meinte, an einem umfassenderen Beispiel darzutun, griff ich auf den göttlichen Tasso zurück, einen Dichter, dessen Sprache mit vollkommener Natürlichkeit genau die Leidenschaften auszudrücken vermag, die er beschreiben will, wie z.B. im Zweikampf zwischen Tankred und Clorinda. Diese Szene gab mir die Möglichkeit, die zwei gegensätzlichen Affekte der kriegerischen Handlung und des demütigen Flehens und Sterbens in Gesang umzusetzen. Im Jahre 1624 dann wurde dieses Werk den Besten und Edelsten der Stadt Venedig zu Gehör gebracht, im Hause meines Herrn und Gönners und höchst nachsichtigen Beschützers, Seiner allerhöchsten Exzellenz Signor Girolamo Mocenigo, einem herausragenden Würdenträger im Dienste der allerdurchlauchtigsten Republik. Das Werk wurde sehr gelobt und mit viel Applaus bedacht.

Nach diesem erfolgversprechenden Beginn mit der musikalischen Darstellung von Wut und Zorn setzte ich meine Untersuchungen fort und verfertigte nach diesem Prinzip verschiedene weitere Kompositionen für die Kirche wie auch für den Hof. Den anderen Komponisten war dieser Stil so willkommen, daß sie ihn nicht nur mit Worten lobten, sondern auch in der Praxis durch Nachahmung anwendeten, was mich sehr freute und ehrte. Doch scheint es mir in dieser Situation angezeigt, bekannt zu machen, daß ich der erste war, der diesen für die Tonkunst so wichtigen Stil wiederentdeckte und anwandte. Mit Recht darfman sagen, daß die Tonkunst nur mit den stili molle und temperato unvollkommen war. Ganz am Anfang erschien es manchem (vor allem jenen, die den basso continuo spielen mußten) eher lächerlich denn löblich, eine Saite pro Takt sechzehn mal anzuschlagen, und so begnügten sie sich mit einem Anschlag pro Takt, womit sie aber anstatt des piricchio einen Spondäus ertönen und damit die Ähnlichkeit mit der oratio concitata verschwinden ließen. Ich weise deshalb darauf hin, daß bei diesem Stil der basso continuo mit seinen Begleitstimmen genau in der Art und Weise gespielt werden muß, wie er geschrieben ist. Und auch alle anderen Vorschriften müssen bei diesem Stil genauso beachtet werden wie bei anderen Kompositionen in einem anderen Stil, denn es gibt bei der Wiedergabe von Musik drei Elemente: das oratorische, das harmonische und das rhythmische. Meine Wiederentdeckung des kriegerischen Stiles ermöglichte mir die Komposition einiger Madrigale, die ich Guerrieri betitelte; und da die für die großen Fürsten bestimmte Musik ihrem erlesenen Geschmack in ihren Gemächern auf drei verschiedene Arten vorgeführt wird, nämlich als Theatermusik, Kammermusik und getanzte Musik, beziehe ich mich in meinem vorliegenden Werk auf diese drei Vorführungsarten mit den Bezeichnungen guerriera, amorosa und rappresentativa. Ich weiß, daß dieses Werk unvollkommen sein wird in dem Maße, wie es mir noch an Fertigkeiten mangelt, vor allem im Umgang mit dem neuen Stil kriegerischen Ausdrucks, für welchen gilt, daß aller Anfang schwer ist. Deshalb bitte ich den gütigen Leser, meinen guten Willen anzuerkennen. Ich erwarte größere Vollkommenheit in diesem Stil aus seiner Feder, denn: „Es ist leicht, eine einmal gemachte Entdeckung weiterzuentwickeln.“ Leben Sie wohl.

Aus dem Vorwort zum 5. Madrigalbuch (1605)


Man möge sich nicht wundern, daß ich diese Madrigale veröffentlicht habe, ohne zuvor auf die Angriffe eingegangen zu sein, die Artusi gegen ein paar Stellen meiner Komposition gerichtet hat. Da ich im Dienst des Herzogs von Mantua bin, habe ich nicht die Zeit, die eine ausführliche Erwiderung erforderte. Nichtsdestoweniger habe ich eine Antwort geschrieben, um klarzumachen, daß ich meine Werke keineswegs willkürlich komponiere. Sobald ich mit dieser Erwiderung fertig bin, werde ich sie veröffentlichen – mit dem Titel ‚Seconda Prattica‘, die zweite Praxis, oder über die Vollkommenheit der modernen Musik. Diejenigen, die da meinen, es gäbe nur die eine erste Praxis, den einen Stil, den Zarlino gelehrt hat, werden sich vielleicht über diesen Titel wundern. Doch mögen sie versichert sein, daß im Hinblick auf den Gebrauch der Konsonanzen und Dissonanzen doch noch eine andere, vom Herkömmlichen grundverschiedene Möglichkeit zulässig ist. Das Urteil der Vernunft bietet durchaus eine Rechtfertigung der modernen Musik. Dies wollte ich nur sagen, um vor Mißbräuchen meines Ausdrucks ‚Seconda Prattica‘ zu warnen; auch sollten scharfsinnige Männer andere Formen der Harmonie zulassen und der Tatsache Glauben schenken, daß der moderne Komponist sein Werk auf dem Fundament der Wahrheit aufbaut.“

Auf dem Weg zum „dramma per musica“


Als sich kurz vor 1600 in Florenz eine Gruppe von aristokratischen Theaterliebhabern und Musikern, vor allem Sängern, zu einer Akademie zusammenfand, um zu erforschen, wie die antiken Bühnenwerke einst aufgeführt wurden, ahnten sie nicht, daß das unbeabsichtigte Resultat ihrer Bemühungen eine neue Kunstform sein würde, die mehr als zwei Jahrhunderte hindurch ganz Europa in Atem halten sollte. Ähnlich wie Kolumbus nie die Absicht gehabt hatte, einen neuen Erdteil zu entdecken, erging es auch den Mitgliedern der von den Grafen Giovanni Bardi und Jacopo Dorsi gegründeten Florentiner Camerata. Sie glaubten, der Aufführungspraxis des antiken Dramas auf der Spur zu sein, als sie ihre Regeln „wider den verderbten Zustand der gegenwärtigen Musik“ aufstellten.

Ihre Anregungen entnahmen sie den Schriften der griechischen Theoretiker wie Platon, Aristoteles und Boëthius. Es ging dabei vor allem darum, das gesprochene Wort, die Dichtung klar und verständlich in den Mittelpunkt zu stellen. „Man muß notwendigerweise Mittel finden, die Hauptmelodie so hervorzuheben, daß die Dichtung klar vernehmlich sei und die Verse nicht zerstückelt werden.“ Ziel war es, die Sprachmelodie mit Hilfe einer stützenden Harmonie zu verstärken, wobei der bedeutendste Theoretiker der Gruppe, der Sänger Giulio Caccini, drei Stadien des begleiteten Sologesangs unterschied: recitar cantando, cantar recitando und cantar, also singend sprechen, sprechend singen und singen im ursprünglichen Sinn.

Aus diesen Ansätzen sollten sich die drei wesentlichen Elemente der späteren Oper entwickeln: Rezitativ, Accompagnato und Arie. Caccini stellte in seinem theoretischen Werk Le nuove musiche die Regeln für den neuen Gesangsstil auf, wobei es ihm vor allem um die im Dialog enthaltene Sprachmelodie ging, die durch möglichst unauffällig stützende Akkorde verstärkt werden sollte. Für ihn war der bisher alles beherrschende Kontrapunkt „Teufelswerk“, durch das die Dichtung „zerfleischt“ würde. Der dramatische Dialog sollte vielmehr einstimmig vertont und der Sprachmelodie folgend „gesprochen“ werden. Nur emotional besonders hervortretende Stellen sollten darüber hinaus musikalisch...

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