Gustav Seibt
Die leibliche Begabung zur Geschichte
Es ist die unwahrscheinlichste Sache von der Welt, dass unser urbanster philosophischer Schriftsteller ein Fachmann fürs Mittelalter ist. Denn Deutschland ist nicht Italien, die Epoche zwischen dem Ende Roms und der Reformation ist durch die doppelte Sprachbarriere zwischen Deutsch und Latein und Neuhochdeutsch und Mittelhochdeutsch von der gegenwärtigen Bildung getrennt. Seit dem Ende der nationalistischen Begeisterung für deutsche Kaiser ist auch die profane Geschichte Deutschlands im Hochmittelalter dem Publikum verloren gegangen. Dazu kommt auf dem Gebiet der Philosophie ein bizarrer Sonderumstand: Alle fürs Mittelalter zuständigen Lehrstühle unterliegen dem Konkordat mit Rom, bedürfen also einer kirchlichen Genehmigung.
Was das bedeutet, hat Kurt Flasch in seiner Dankrede zum Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa beschrieben: Es regiert die Weihwasser-Fraktion, ein altbackenes Ordo-Denken, das Wahrheit statisch denkt und den Goldgrundbildern des 19. Jahrhunderts ähnlicher sieht als denen des Mittelalters selbst, nämlich süßlich und spannungsarm. Dieses Denken hat durchaus Gegenwartswirkung, wie man beispielsweise einer respektvollen, am Ende aber beißenden Kritik Flaschs an dem Sendschreiben von Papst Johannes Paul II. über Fides et Ratio, also Glauben und Vernunft, aus dem Jahre 1998 entnehmen kann. Hier ist die Wahrheit der Vernunft in einem harmonischen Mittelalter zu finden, dem eine düster zerrissene Neuzeit nichts hinzuzufügen hatte. Es bleibe rätselhaft, so Flasch, «wie der Papst seinen ostentativen Erkenntnisoptimismus vereinen kann mit der Annahme, der menschliche Geist sei für Jahrhunderte im Dunkeln herumgetappt».
Das ist die Umkehrung des Bildes vom auch philosophisch finsteren Mittelalter, wie es beispielsweise Hegel mit Kälte zeichnete: «Es ist nun keinem Menschen zuzumuten, dass er diese Philosophie des Mittelalters aus Autopsie kenne, da sie ebenso umfassend als dürftig, schrecklich geschrieben und voluminös ist.» Auch das zitiert Flasch, und da er sich dieser Zumutung wie kein zweiter deutscher Gelehrter unserer Epoche gestellt hat, darf man heute lachen. Flasch hat uns nicht nur ein neues Mittelalter geschenkt, sondern dabei auch einen neuen Stil der Philosophiegeschichte entwickelt, der ganz sein Eigentum ist, und der neben den geistreichen, aber immer etwas glatten Begriffsromanen Hans Blumenbergs der eindrucksvollste Beitrag seiner Generation zur historischen Philosophie ist.
«Historische Philosophie»: Das ist Flaschs Formel, und hier stockt der Deutsche schon. Philosophie besteht aus Ideen, Argumenten und Werten, aus Gedankengebäuden und Systemen, die der Geschichte widerstehen, über sie hinausragen; ihre Kontexte sind Erdenrest, der nichts mit der Sache zu tun habe. Flasch aber glaubt das nicht. Argumente entstehen aus Diskussionen, Systeme beantworten Probleme, Wahrheit ist also geschichtlich, weil wir etwas anderes als die Geschichte gar nicht haben. Es geht ihm nicht um «Philosophie» als fixe Größe, sondern um «philosophisches Denken», um eine nie endende Bewegung.
«Es gab immer wieder die durchaus produktive Illusion, die Zeitlichkeit durch Erwerb bleibender Wahrheiten überwunden zu haben. Aber dann standen immer schon die Füße vor der Tür, die diese Wahrheiten hinausgetragen haben ins Grab der Zeit.» Dieses Grab aber ordnet sich nicht plan nach «Epochen». In der unendlichen Bewegung, die Flaschs konkreter Begriff des Denkens mit unendlicher Genauigkeit und Unvoreingenommenheit zu erforschen verlangt, nämlich historisch und philologisch, werden die erstaunlichsten Durchblicke möglich: Meister Eckharts Mystik nimmt Fichtes Weltsetzung im Ich voraus, und im Jahre 1277 fand man es nötig, den folgenden Satz ausdrücklich zu verurteilen: «Gott ist nicht dreieinig und einer, weil die Dreieinigkeit nicht vereinbar ist mit der höchsten Einfachheit. Denn wo wirkliche Vielheit ist, dort gibt es notwendigerweise Hinzufügung und Zusammensetzung. Beispiel: Ein Haufen Steine.» Der Satz könnte, mit geringen stilistischen Retuschen, von Voltaire sein. Wer einsteigen will bei Flasch, sollte vielleicht mit dem kleinen Büchlein über die Verurteilung von 1277 Aufklärung im Mittelalter? (1989) beginnen – dann ist er bereit für die anderen großen Entdeckungsfahrten.
Flasch hat als Forscher und Texteditor beim Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi Grundlagenarbeit geleistet, die ihn in den letzten Jahren zu ausgreifenden Einzelsynthesen zu Nikolaus von Kues, Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart befähigte, zu einer Ernte, die durchaus mit der Altersgelehrsamkeit von Arno Borst verglichen werden kann. Davor lag, nach der Frankfurter Habilitation von 1969 – im Umfeld, nicht in direkter Abhängigkeit von Horkheimer und Adorno –, ein Vierteljahrhundert Lehrtätigkeit an der Neugründungsuniversität Bochum, wo Flasch die gesamte Philosophie vertrat. Erst seit 1980, dann aber in dichter Folge, erschienen, oft im Reclam-Verlag, jene glanzvoll geschriebenen Bücher, die alle angehen, zu Augustinus, zum Philosophischen Denken im Mittelalter, dann die Kampfplätze der Philosophie, die Flaschs Konzept noch einmal schlagkräftig an den «Großen Kontroversen von Augustin bis Voltaire» darstellen.
Dazu kam seit Ende der achtziger Jahre eine publizistische Tätigkeit in vielen großen Blättern, die Flasch zu einer Berühmtheit machte. Die Verbindung von Witz und Gelehrsamkeit, die hier sichtbar wurde, hat nichts mit feuilletonistischer Geistreichelei zu tun, ihr Charakter ist vom Stamme Lessings. Und so gibt es, zwischen der Gelehrsamkeit und der Kritik, noch eine dritte Schicht bei Flasch, die methodischen Abhandlungen, gesammelt in den beiden Bänden Philosophie hat Geschichte (2003 und 2005), die zeigen, dass Flasch mitten im Gespräch der Gegenwart steht, als Erbe und Zeitgenosse von Dilthey, Heidegger, Gadamer, Luhmann und Rorty.
Flaschs historischer Begriff von Philosophie rechnet auch mit dem Sprachwandel, und so wurde er zu einem fruchtbaren Übersetzer. Er hat die Bekenntnisse des Augustinus in ein neues, unsüßliches Deutsch übertragen, er wagte einen Boccaccio, der die lange wogenden Satzbauten des Originals revolutionär zerschlug, und nun sitzt er an einer Neufassung der Göttlichen Komödie Dantes, die den angeblichen Kritiker der Weltneugier als neugierigen Weltdichter exponieren wird.
Flasch ist Mainzer, und er blieb der Stadt treu auch in seiner Bochumer Zeit. Das römische Mainz war bis 1944 die auch äußerlich prunkende Hauptstadt des deutschen Katholizismus, im Zeitalter Dalbergs und Georg Forsters führten von dort aber auch gerade Straßen ins Paris von Aufklärung und Revolution. All das hat Flasch geprägt mit einem vielschichtigen Lokalgeist, der seine Begabung zur Geschichte geradezu leiblich zeigt. Dieser kritische Geist entstammt einem katholischen Milieu, das in der eigenen Familie vollkommen resistent gegenüber dem Nationalsozialismus blieb. Flasch hat davon in seinem bewegendsten Buch, der Jugend-Autobiographie Über die Brücke (2002) berichtet. Erst damals wurde öffentlich, dass es eine Urkatastrophe in diesem Leben gibt, der Luftangriff auf Mainz, der Flasch die Mutter und Geschwister kostete, und dem der Vater nur entkam, weil er strafversetzt in Schlesien arbeiten musste.
Diese Katastrophe, nach der Flasch von einer liebevollen geistlichen Umgebung, darunter einem Cousin Stefan Georges, aufgefangen wurde, hat ihn zu einem zornig-verzweifelten Nachdenken über den Krieg geführt, das nicht in planen Pazifismus mündete – die Deutschen seien vor 1945 nur durch den Krieg von ihrem Wahn zu heilen gewesen –, aber zur historischen Suche nach den intellektuellen Mittätern, den philosophischen Kriegsrednern von 1914, die er in dem Buch über die Geistige Mobilmachung untersuchte, bis zu den Schwätzern von 2003. Als 2003 die Rede vom «Gerechten Krieg» wieder aufkam, explizierte Flasch nicht nur mit seinen Mitteln die Geschichte und die Voraussetzungen des Begriffs, er untersuchte auch die Lage der Gegenwart, beispielsweise die gelenkte Information vor Kriegsbeginn.
Wie bestimmend der Riss von 1944 für das Leben dieses eigentlich welt- und sinnesfrohen Intellektuellen blieb, der ein unerschöpflicher, neugieriger Gesprächspartner ist, den Künsten zugetan, für Wein und gute Speisen dankbar empfänglich, verraten nicht große Bekenntnisse – dass er auf dem Bindestrich zwischen Pascal und Voltaire lebe, blieb beiseite gesprochen –, sondern einzelne Sätze. Als Kardinal Ratzinger 1999 an der Sorbonne über den Relativismus des 20. Jahrhunderts diskutieren ließ, war Kurt Flasch, der in Italien und Frankreich ebenso viele Leser hat wie in Deutschland, neben René Girard dabei. Sein Beitrag schloss mit den Sätzen: «Unser Jahrhundert hat namenloses Leiden gebracht. Die Menschen haben gelitten, weniger an der Anarchie der Überzeugungen als unter den Versuchen, Wahrheit als Einheit zu organisieren und administrieren.» Die Antworten, die Kurt Flasch darauf gegeben hat, werden uns weiter bewegen.
Flasch hat einen neuen Stil der Philosophiegeschichte entwickelt. Es geht ihm um «philosophisches Denken», um eine nie...