Was bedeutet Demenz
für uns?
»Wo kommt überhaupt diese Erkrankung auf einmal her? Früher hat man doch auch nicht darüber gesprochen?«
»Ist es eigentlich eine Krankheit? Oder werden wir alle daran leiden, wenn wir nur alt genug werden?«
»Lohnt es sich denn, so alt zu werden, wenn ich von anderen abhängig bin und denen zur Last falle?«
Alzheimer ist ein Thema, dem wir nicht ausweichen können, eines, das jeden etwas angeht und ebenso die Gemeinschaft, in der wir leben. Es ist ein persönliches und ein gesellschaftliches Thema. Doch wie kommt das? Wie hat sich dieses Thema in unser Leben geschlichen, in unser Denken? Und wieso steht es ganz oben auf der Liste unserer Ängste? Wieso steht ganz oben auf unserem großen Wunschzettel: »Hoffentlich bekomme ich keinen Alzheimer, hoffentlich bleibe ich gesund!«?
Jung und gesund, alt und Alzheimer?
Wie viele Menschen haben bei uns eigentlich Alzheimer?
In den Ländern Mitteleuropas leidet etwa 1 Prozent der Bevölkerung an einer Demenz. Ganz genau kann die Zahl nicht bestimmt werden, weil das Mitzählen eher leichter Fälle eine höhere Fehlerquote zur Folge hat. Andererseits würde der Einschluss nur schwerer Fälle die Zahl unterschätzen.
Die Häufigkeit ist dabei in den verschiedenen Altersdekaden unterschiedlich. Während bei den 65- bis 69- Jährigen knapp 2 Prozent betroffen sind, sind es bei zehn Jahre älteren Menschen schon etwa 6 Prozent und bei den 85- bis 89-Jährigen über 20 Prozent. Insgesamt sind etwa 8 Prozent der über 65-Jährigen betroffen. Wichtig ist, dass nicht nur die Häufigkeit in der Bevölkerung zunimmt, sondern dass auch die Neuerkrankungsrate mit zunehmendem Lebensalter ansteigt. Die weiterhin steigende Lebenserwartung führt zu Hochrechnungen, dass in Deutschland die Anzahl von im Jahre 2010 geschätzt 1,2 Millionen Betroffenen bis zum Jahre 2050 auf eine Zahl von 2,3 Millionen ansteigen wird.2
Diese Prognosen können insbesondere mit dem immer höheren Anteil über 80-Jähriger in der Bevölkerung erklärt werden. So liegt die Lebenserwartung von Mädchen, die heute geboren werden, bereits bei über 80 Jahren. Dies bedeutet einen Anstieg um etwa drei Jahre im Zeitraum von 1990 bis Anfang des Jahrtausends. Die Angaben für die Männer liegen etwa 5 Jahre niedriger. Man kann sagen, dass die heute 60-Jährigen etwa ein Viertel ihres Lebens noch vor sich haben.3
Häufigkeit der Demenzen insgesamt und der Alzheimer-Demenz in Europa nach Geschlecht und Alter (A)4
Häufigkeit von Demenzen insgesamt und der Alzheimer Demenz in Europa in der wahrscheinlichsten Entwicklung bis 20505
Diese nüchternen Zahlen haben nur beruflich mit Alzheimer befasste Menschen im Blick, anderen können sie kaum Anhaltspunkte geben zu der Frage, ob sie persönlich dieses Thema etwas angehen wird.
Ist Alzheimer ein Schicksal, mit dem ich rechnen muss, wenn ich alt werde?
Stattdessen wirken vor allem drei von einander unabhängige Trends in den letzten Jahrzehnten zusammen, prägen unsere Haltung gegenüber Alzheimer und erklären weitgehend unsere Ängste hinsichtlich dieser Erkrankung.
Der erste wichtige Trend ist – wie bereits erwähnt – die steigende Lebenserwartung. Immer wieder können wir lesen, dass die Lebenserwartung über frühere Annahmen hinaus steigt. Ein Junge, der heute geboren wird, hat eine Lebenserwartung von 77 Jahren, ein Mädchen eine von 82 Jahren. Wer 60 Jahre alt geworden ist, kann heute noch auf mindestens 20 weitere Jahre hoffen.
Durchschnittliche und fernere Lebenserwartung bei Geburt und im Alter von 60 Jahren für Frauen und Männerin Deutschland. Veränderungen der letzten Jahre6
Die steigende Lebenserwartung ist eine kulturelle Leistung! Ein sehr wichtiger Beitrag dazu ist die Verringerung der Sterblichkeit sowohl der Kinder als auch der Mütter im Zusammenhang mit der Geburt (perinatal). Dies hat auch zu einer Veränderung im Umgang mit dem Tod geführt. Denn noch im 19. Jahrhundert war beispielsweise die Erfahrung des Kindstodes eine alltägliche – schließlich starben mehr als ein Drittel der Menschen vor dem 15. Lebensjahr. Und das Erreichen höherer Lebensalter war damals ein Geschenk. Dies hat sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts massiv verändert. Kindersterblichkeit ist zum Glück selten geworden, das Erreichen des höheren Lebensalters nicht ungewöhnlich. Automatisch ist damit der Tod noch enger mit dem Alter verknüpft, als er es je war.
Weitere Ursachen für die Langlebigkeit sind die Fortschritte in der Ernährung, in den Wohnverhältnissen und der allgemeinen Hygiene. Und – nicht zuletzt – der medizinische Fortschritt. Viele Erkrankungen lassen sich besser bekämpfen. Und wenn Prävention (zum Beispiel durch Impfung) oder Heilung nicht möglich ist, so gelingt es inzwischen, auch für chronische Erkrankungen viele Verbesserungen der Lebensqualität zu erreichen. Aufgrund dieser Veränderung der Behandelbarkeit von Erkrankungen und der Veränderung von Erkrankungsrisiken können sich in den nächsten Jahren die Lebenserwartung und auch das Krankheitsspektrum im Alter abermals deutlich verändern. Dies zeigen auch die folgenden Beispiele der Entwicklung aus den letzten Jahren:
- Die Veränderung von Ernährungsgewohnheiten, verringerte Bewegung und vermehrtes Gewicht führen zu einer zunehmenden Bedeutung von vermeidbaren häufigen Erkrankungen. In den USA hat sich in wenigen Jahren die Häufigkeit von Diabetes Mellitus, der Zuckerkrankheit, verdoppelt. Forscher um den Amerikaner Jay Olshansky mahnten an, dass »verhinderbare Erkrankungen« auch zu einer Veränderung der Lebenserwartung führen und insbesondere bereits jetzt den Trend zu immer längerer Lebenserwartung in den USA durchbrechen.7 Ähnlich führte Walter Willett zum Beispiel schon im Jahre 2002 in der Zeitschrift »Science« aus, dass mehr als 70 Prozent der häufigen Erkrankungen Darmkrebs, koronare Herzkrankheit, Schlaganfall und Typ-II-Diabetes potenziell vermeidbar seien.8
- Die Menschen, die heute in Deutschland hochaltrig sind, haben einen Krieg und Notzeiten mitgemacht. Und auch schon in ihrer Kindheit gab es eine deutlich geringere Vorsorge für die Zahngesundheit, als es später üblich wurde. Dies führt dazu, dass bei den heute älteren Menschen Zahnprobleme und auch fehlende Zähne häufig sind. Dies ist nicht nur ein kosmetisches Problem, sondern beeinflusst auch die Möglichkeiten der Ernährung. Zudem ist ein angemessener – und immer besserer – Zahnersatz auch ein Kostenfaktor. Hält die derzeitige Entwicklung an, so können wir davon ausgehen, dass die nächste Generation, die in das höhere Alter kommt, deutlich weniger Zahn- und damit Ernährungsprobleme aus diesem Grund haben wird. Dies wird auch einen Einfluss auf die Gesamtgesundheit haben.
Eine Annahme, dass eine steigende durchschnittliche Lebenserwartung gleichzusetzen wäre mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, im Alter Alzheimer zu bekommen, gilt für die Gesellschaft, aber nicht für den Einzelnen. Das Grundrisiko des Einzelnen, ab einem bestimmten Alter zu erkranken, ist stabil, zumindest nach den derzeit vorliegenden Daten. Insgesamt führt aber die zunehmende Lebenserwartung zu immer mehr Alzheimer-Kranken in der Bevölkerung, insbesondere wenn gleichzeitig der Anteil jüngerer Menschen abnimmt.
Der zweite wichtige Trend, der Alzheimer als beängstigendes Thema befördert, ist die Veränderung von Arbeitswelt und Familienstrukturen in der Gesellschaft. Während noch vor 100 Jahren der Wechsel von der landwirtschafts- und handwerksdominierten Gesellschaft zur Industriegesellschaft voranschritt, findet heute der Wechsel in die Informations- und Dienstleistungsgesellschaft statt beziehungsweise ist schon weitgehend vollzogen. Wie nie zuvor beansprucht insbesondere die Informationsgesellschaft vor allen Dingen die Hirnleistungsfähigkeit.
Ich habe den Eindruck, dass ich immer mehr Dinge vergesse – sie fallen mir dann zwar später wieder ein, aber mein Gedächtnis lässt mich im Stich – ist das eine beginnende Alzheimer-Erkrankung?
Während früher nach der Ausbildung ein Beruf bis zum Lebensende ausgeübt werden konnte, wird heute erwartet, dass man auch im mittleren und höheren Alter noch einmal in eine andere Tätigkeit wechselt. Umschulungen einerseits und lebenslanges Lernen andererseits sind moderne Anforderungen. Gleichzeitig bestimmen ständig neue Möglichkeiten der Nachrichten- und Informationsvermittlung das Berufs- und auch Alltagsleben – Möglichkeiten, die zum Teil nicht nur einfach strukturierten Menschen das Mitkommen erschweren. Unsicherheit über die Leistungsfähigkeit des Gehirns mündet dann sehr schnell in die Angst, dass sich bereits erste Anzeichen der Alzheimer-Erkrankung zeigen. Antwort finden können die Betreffenden nur, wenn sie sich den entsprechenden Untersuchungen unterziehen (siehe Seite 71).
Übrigens zeigt sich, dass allmählich auch die Älteren immer häufiger den Zugang zum Beispiel zum Internet...