Die zwei Seiten des Kunstprozesses
Nach einem zwanzigjährigen – nicht immer ganz freiwilligen – Aufenthalt in der Sowjetunion war Alfred Kurella im Februar 1954 nach Deutschland zurückgekehrt. Nur ein Jahr später wurde er als Gründungsdirektor an das Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig berufen, und damit nahm die Karriere des nunmehr 60-jährigen »Berufsrevolutionärs« endlich wieder Fahrt auf. Er sollte in der Folgezeit an entscheidenden Positionen die Kulturpolitik der jungen sozialistischen Republik prägen – zunächst als Institutsdirektor, später als Leiter der Kulturkommission des Politbüros und auch nach seinem Ausscheiden aus der Politik als Vizepräsident der Akademie der Künste. In all diesen Funktionen wirkte er entweder direkt als »Großinquisitor«9 der DDR-Kulturpolitik oder aber als hintergründige graue Eminenz, die protegierend, verhindernd oder gar zerstörerisch die Kulturschaffenden in Literatur, bildender Kunst, Theater und Film auf Parteilinie trimmen wollte. Was immer die Künstler und Literaten der DDR von ihm gehalten haben – viele sehr wenig, einige wenige viel –, keiner von ihnen konnte behaupten, Kurella habe sie im Unklaren darüber gelassen, welches Kunstverständnis er seinen dogmatischen politischen Entscheidungen und seinen scharfen ästhetischen Urteilen zugrunde legen wollte. Schon in seiner Antrittsrede in Leipzig hatte er hierzu eine »Bemerkung allgemeiner Art« gemacht:
»Die ganzen folgenden Überlegungen bewegen sich auf der Ebene einer bestimmten, und zwar der realistischen Kunstauffassung. Ich meine das hier im allgemeinsten Sinne dieses Wortes; danach kommt jedes Kunstwerk als Äußerung sinnlicher Menschen zustande, Quelle und Ursprung sind letzten Endes Vorgänge der Außenwelt, deren über die Sinne aufgenommene Abbilder im schöpferischen Individuum verarbeitet, verwandelt werden. Nach dieser Auffassung ließe sich auf die Kunst und ihr Bilderdenken etwa der Grundsatz des berühmten Lockeschen Sensualismus so anwenden: Nihil est in effige, quod non prius fuerit in sensu – es ist nichts im Bild des Künstlers, was nicht früher in den Sinnen war. In einer Zeit, da durch alle mögliche pseudophilosophischen Hintertüren ›jenseitige Offenbarung‹, ›transzendente Inspiration‹ und dergleichen mehr als Wesensmerkmal des künstlerischen Schaffens in die Kunstbetrachtung eingeschmuggelt werden, ist diese Feststellung wichtig. Sie schließt auch noch die realistische Betrachtung der anderen Seite des Kunstprozesses ein, seiner Bestimmung und Wirkung in der Gesellschaft: die Kunst ist auch auf die Wirklichkeit gerichtet, sie will und soll (soweit es sich um vollblütige und lebensbejahende Künstler handelt) bildend und ändernd in die Wirklichkeit des Menschenlebens eingreifen. Wenn also im weiteren hier von Kunst die Rede ist, dann immer nur von jener Kunst, die sich als besondere Art menschlicher Widerspiegelung der Wirklichkeit weiß und bildender, ändernder Faktor im Zusammenleben der Menschen sein will.«10
Prägnanter lässt sich kaum zusammenfassen, was Alfred Kurella umtrieb, als er zwei Jahre nach dieser Rede den »Bitterfelder Weg« formulierte, als er sich 1961 mit Fritz Cremer wegen der Ausstellung »Junge Kunst« überwerfen sollte, im gleichen Jahr Heiner Müllers »Umsiedlerin« attackierte oder auch als er zwei Jahre später eine Neubewertung von Franz Kafkas Werk verhindern wollte.11 Aber nicht nur in seinen kritischen, sondern auch in seinen positiv-fördernden Aktivitäten blieb sich Alfred Kurella stets treu; so etwa in seiner Unterstützung der »realistischen« Leipziger Maler Heinrich Witz, Werner Tübke und Bernhard Heisig.12 In seinem Wirken als DDR-Kulturpolitiker konnte man Alfred Kurella viel Übles nachsagen; nur eines nicht: Inkonsequenz.
Doch welche Qualifikation brachte Kurella eigentlich mit, um in Leipzig über die »Lehrbarkeit literarischer Meisterschaft« zu räsonieren und mit seinem eng gefassten Realismusbegriff gar das Institut leiten zu dürfen? Sicher, er hatte in seiner beruflichen Laufbahn bereits Erfahrungen in der Lehre sammeln können, doch diese beschränkten sich auf Einführungskurse zum Marxismus-Leninismus an der Marxistischen-Arbeiter-Schule (MASCH) in Berlin (1930–1931) und ebensolche Seminare an der französischen Parteischule in Bobigny (1924–1926). Aber vielleicht war Lehrerfahrung nicht das entscheidende Kriterium für seine Berufung. War er stattdessen selbst ein »literarischer Meister«, der diese Fertigkeit weitergeben konnte? Gewiss, seit seiner Jugend hatte sich Kurella mit Literatur befasst und war aus dem Moskauer Exil heraus als Kritiker und Übersetzer durchaus einflussreich, wenn nicht sogar gefürchtet gewesen.13 Doch sein eigenes Œuvre war überschaubar und beschränkte sich auf einige wenige Gedichte, Erzählungen und essayistische Reiseberichte. Natürlich hatte er viele moskautreue Propagandaschriften verfasst, doch die konnte man auch wohlwollend nicht als Literatur bezeichnen. Nun, da er nicht mehr nur kritisieren oder agitieren konnte, sondern den literarischen Schaffensprozess selbst lehren sollte, war das natürlich zu wenig. Und dieses Manko war dem angehenden Literaturprofessor durchaus bewusst. Unmittelbar nachdem er aus Moskau zurückgekehrt war, hatte er dies sogar einmal öffentlich eingestanden:
»Was habe ich schon geschrieben? Wenn ich mir die langen Reihen dick- und dünnleibiger Bücher ansehe, die bei Kollegen in den verglasten Teilen ihrer Bücherschränke stehen, wo sie ihre ›opera omnia‹ aufbewahren, dann könnte mich der gelbe Neid überkommen. Mir will und will es nicht gelingen, auch nur in der Ecke eines Bücherregals meine Kinder zusammenzukriegen, und wenn es einmal gelänge, würde es eine etwas schüchterne Schar magerer Figürchen sein.«14
Vor seinem Dienstantritt in Leipzig wollte Alfred Kurella diese Unzulänglichkeit wohl noch beheben, denn er entfaltete plötzlich eine rege Publikationstätigkeit, die seiner Stimme in literarischen Fragen mehr Gewicht verleihen sollte. Am Bedeutsamsten darunter war seine 1953 erschienene Übersetzung der philosophischen Schriften von Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski, jenem vormarxistischen Literaten und Revolutionär, dessen Abhandlung über die »Ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit« als eine der tragenden Säulen der sozialistischen Realismuskonzeption diente.15 In Tschernyschewskis Dissertation von 1855 findet sich in knapper Form ziemlich genau das, was Kurella ein Jahrhundert später in seiner Leipziger Antrittsvorlesung über die »zwei Seiten des Kunstprozesses« zu sagen hatte:
»Die Nachbildung des Lebens ist das allgemeine charakteristische Merkmal der Kunst, das ihr Wesen ausmacht; häufig haben die Kunstwerke auch noch eine andere Bestimmung – die Erklärung des Lebens; oft haben sie auch die Bestimmung, ein Urteil über die Erscheinungen des Lebens zu fällen.«16
Eine »Nachbildung des Lebens« und ein »Urteil über [dessen] Erscheinungen« – genau das hatte der angehende Literaturprofessor wohl auch im Sinn, als er kurz vor dem Dienstantritt noch schnell seinen ersten Roman vorlegte: »Die Gronauer Akten«. Wer den Sozialistischen Realismus lehren wollte, sollte ihn wohl besser auch beherrschen. Wollte Kurella mit dem Roman also seine praktisch-literarische »Meisterschaft« unter Beweis stellen? Oder ging es ihm um mehr, gar um etwas ganz anderes? Welches – oder vielleicht auch wessen – Leben wollte er hier »nachbilden« und »beurteilen«?
9 Mayer, Der Turm von Babel, S. 206.
10 Kurella, »Von der Lehrbarkeit«, S. 287f.
11 Vgl. u.a. Kurella, »Vom neuen Lebensstil«; die Diskussion zur Ausstellung »Junge Kunst«, in: AdK-O 170 (Kurella hat hier wohl vor der Eröffnung eigenhändig Bilder abgehängt, die ihm missfielen); Braun, Drama um eine Komödie, und schließlich Kurella, »Der Frühling, die Schwalben und Franz Kafka«, Sonntag, Nr. 31, vom 4. August 1963.
12 Vgl. hierzu Dürers Erben. Dokumentarfilm von Lutz Dammbeck, Deutschland 1995.
13 So war Kurella schon zwischen Oktober 1917 und Dezember 1918 als Schriftleiter verantwortlich für die Buchbesprechungen in der Zeitschrift Freideutsche Jugend. Zu den bekannteren unter seinen vielen literaturkritischen Beiträgen zählen: seine Kritik an Bertolt Brechts Theaterstück Die Maßnahme, Kurella: »Ein Versuch mit nicht ganz tauglichen Mitteln«; seine Kritik eines Aufsatzes von Walter Benjamin, Kurella: »Deutsche Romantik«, sowie seine unter dem Pseudonym Bernhard Ziegler erschienenen Beiträge zur so genannten Expressionismusdebatte, abgedruckt in Schmitt, Die Expressionismusdebatte.
14 Kurella,...