Einleitung
Sodom und Gomorrha eignen sich genauso gut wie andere Orte, um über Gut und Böse nachzudenken, überraschen mögen nur die Gründe dafür. Normalerweise stehen sie für einen einfachen Fall von Verbrechen und Strafe: Sodoms Bewohner haben gesündigt und Gott vernichtet sie, er verwandelt eine blühende Stadt in einen Trümmerhaufen und eine Frau in eine Salzsäule, weil sie einen wehmütigen Blick zurückgeworfen hat. Für Fundamentalisten besteht die Sünde ganz allgemein in sexueller Ausschweifung und im Besonderen in Homosexualität, beides in ihren Augen abscheuliche Laster, die den Fortbestand der Gemeinschaft bedrohen. Für Homosexuelle ist die Zerstörung der Stadt ein Beispiel für die Unmenschlichkeit traditioneller Religion. Für den Marquis de Sade lud die Geschichte zu Gewaltvorstellungen ein, die das Recht auf den Kopf stellen. De Sade kannte die Bibel allerdings besser als die meisten der heutigen Leser.
Die Geschichte scheint zwar glasklar zu sein, aber eigentlich ist sie wunderbar vielschichtig. Zunächst muss man kein Fundamentalist sein, um die Sünde zu verabscheuen, die den Bewohnern Sodoms zum Verhängnis wird: Nicht um Unzucht oder Homosexualität geht es, sondern darum, dass sie von Lot, der in seiner Gutherzigkeit zwei Fremde bei sich aufgenommen hat, verlangen, er solle sie ihnen ausliefern, damit sie sie vergewaltigen können. Die Vorstellungen der alten Mittelmeervölker darüber, was Gastgeber und Gast einander schulden, lieferten das Fundament der traditionellen Moral, und Verstöße dagegen bedrohten die sozialen Bande in ihrem Kern. Für die Griechen war ein solcher Verstoß Grund genug, gegen Troja in den Krieg zu ziehen. Lot nimmt seine Gastpflichten so ernst, dass er dem rasenden Pöbel sogar seine jungfräulichen Töchter anbietet, wenn er nur seine Gäste verschone. Die Gäste erweisen sich als Engel. Sie blenden die Sodomiter, als diese die Tür einschlagen wollen, und besiegeln ihr Verderben. Doch ob man nun an Engel oder die Gültigkeit des antiken Gastrechts glaubt, die Verfehlungen der Sodomiter wird man in jedem Fall abscheulich finden.
Einige Versionen führen die Darstellung im Buch Genesis weiter aus, so als reiche eine Gruppenvergewaltigung nicht, um die Vernichtung zu rechtfertigen: Sie meinen, die Sodomiter seien nicht nur unmoralisch gewesen, sie hätten sich antimoralisch gebärdet. Einer jüdischen Erzählung zufolge ereigneten sich Gruppenvergewaltigungen von Fremden nicht bloß zufällig, Sodoms Gesetze schrieben sie geradezu vor. Laut einer anderen Erzählung wurde, wer Fremden half, mit dem Tode bestraft – ein Los, das eine der Töchter Lots erlitt, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, weil sie einem Armen ein Stück Brot gegeben hatte, ebenso wie eine weitere, namenlose Jungfrau, die für dasselbe Vergehen mit Honig bestrichen und auf einem Hausdach den Bienenschwärmen überlassen wurde. Selbst das Steuerwesen in der Stadt war perverserweise regressiv. Wer zwei Ochsen besaß, musste einen Tag für die Gemeinde arbeiten, wer einen Ochsen besaß, wurde für zwei Tage herangezogen. Und zur Krönung all dessen waren die Sodomiter auch noch undankbar, denn die Stadt war mit Reichtümern gesegnet. Gärtner, die Gemüse in ihren Wassern wuschen, konnten Goldflocken aus den erdigen Wurzeln schütteln, die Straßen waren statt mit Steinen mit Saphiren gesäumt, und sieben Baumarten – Traube, Feige, Granatapfel, Walnuss, Mandel, Apfel und Pfirsich – spendeten all ihren Wegen Schatten. Doch trotz dieses Überflusses fürchteten die Sodomiter nur eins: teilen zu müssen. In einer Quelle heißt es, Sodoms Bewohner töteten sämtliche Vögel, damit diese nur ja kein Körnchen aufpickten. Wo Freundlichkeit gegenüber Fremden die Grundlage der Zivilisation bildet, da ist das Handeln der Sodomiter doppelt empörend. Viele Orte ignorieren das moralische Gesetz, Sodom stellt es auf den Kopf.
Der wichtigste Teil der Geschichte spielt sich jedoch vor der Zerstörung der beiden Städte Sodom und Gomorrha ab. Nachdem Gott Abraham in Sein Vertrauen gezogen und ihm versprochen hat, ihm Macht zu verleihen, eröffnete Er ihm die Absicht, die Städte vernichten zu wollen. Abrahams Reaktion ist ehrfurchtgebietend. Bis dahin hatte Abraham Gottes Worte schweigend empfangen, doch nun hält er inne und spricht offen heraus: Was, wenn unter den Sündern 50 Unschuldige wären? Sollte der Richter der ganzen Welt wirklich die Unschuldigen mit den Schuldigen verderben?1 Der Richter der ganzen Welt stimmt ihm zu: Wenn es 50 Gerechte in Sodom gibt, werde Er die Stadt verschonen. Aber der HErr ist doch sicherlich kein Pedant. Was, wenn es weniger wären? Würde Er die ganze Stadt zerstören, weil fünf an der Zahl fehlten?2 Die Antwort erfolgt prompt: Der HErr werde Sodom retten, wenn sich 45 Gerechte in der Stadt finden. Der HErr wird doch nicht willkürlich sein? Was, wenn es nur 40 gute Menschen in der Stadt gibt?3 Abraham handelt Gott auf zehn herunter, und diese Zahl ist kein Zufall. Für eine Handvoll Menschen ist es leicht, aus einer brennenden Stadt zu fliehen, und genau das geschieht dann auch. Obwohl Lot versucht, sie zu warnen, stößt er selbst bei einigen Mitgliedern seiner Familie auf taube Ohren, so schart er die Übrigen um sich und macht sich davon.
Es sind drei Aspekte an Abrahams Handeln, die Menschen wie mich berühren. Erstens: sein entschiedener Universalismus. Abrahams Sorge um die Unschuldigen in Sodom gilt nicht seinen Freunden oder Nachbarn, sie gilt den Unschuldigen überall. Die Menschen von Sodom bleiben abstrakt und namenlos und sind es dennoch wert, dass er sein Leben für sie einsetzt. Der zweite ist seine Entschlossenheit. Mit seinem Einsatz für die Unschuldigen gefährdet er sein eigenes Leben. Schließlich lebt er nicht in einer Demokratie, sondern in einer Welt, in der Könige es nicht gerade schätzen, von ihren Untertanen getadelt zu werden. Abraham wagt es, den König der Könige daran zu erinnern, dass Er dabei ist, das moralische Gesetz zu brechen. Aus dem Text geht klar hervor, dass Abraham sich fürchtet. Seine Worte sind weder stolz noch weinerlich, sie sind die Bitte eines Dieners an einen Herrn, der ihn mit einem Blick vernichten könnte. »Siehe doch, ich habe mich erdreistet, zu dem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin«, so leitet er seinen Handel mit Gott ein. »Der Herr möge doch nicht zürnen, dass ich noch einmal rede«, steht vor der Zeile, in der er Gott auf 30 herunterhandelt.4 Der dritte bemerkenswerte Aspekt an dieser Geschichte ist die Beachtung der Details. Moralische Urteile lassen sich nicht ein für alle Mal fällen, vielmehr müssen wir die Unterschiede im Blick behalten. Zahlen sind wichtig. Auch graduelle Differenzen. Abraham mag wie ein Kaufmann sprechen, aber er denkt wie ein Moralist. Wenn er sogar Gott dazu bringt, auf die kleinen Unterschiede zu achten, wer von uns kann sich dann dagegen sträuben? Moralische Urteile sind bedächtig, spezifisch und selten absolut. Zweierlei aber geht aus der biblischen Geschichte ganz klar hervor: Vergewaltigung ist ein Verbrechen – und Kollateralschäden sind es ebenfalls.
Wir haben moralische Bedürfnisse, Bedürfnisse, die so stark sind, dass sie, wie Abrahams Geschichte beweist, unseren Selbsterhaltungstrieb außer Kraft setzen können. Die Geschichte zeigt auch, dass diese Bedürfnisse nicht in der Religion wurzeln oder in irgendeiner Form göttlicher Gebote. Sie schließen das Bedürfnis ein, Ehrfurcht auszudrücken und Empörung zu äußern, wie auch das Bedürfnis, Schönfärberei und Scheinheiligkeit zurückzuweisen und die Dinge beim Namen zu nennen. Sie schließen das Bedürfnis ein, unser eigenes Leben als eine Geschichte mit Bedeutung zu sehen – Bedeutungen, die wir der Welt verleihen und die eine wesentliche Quelle menschlicher Würde sind –, weil wir unser Leben andernfalls für wertlos halten würden. Das fundamentalste und erstaunlichste Bedürfnis ist allerdings, dass wir die Welt mit moralischen Kategorien betrachten wollen. Diese Bedürfnisse gründen in der Struktur der Vernunft. Religion oder Gefühle mögen sie zwar fördern, aber sie werden durch sie nicht lebendig gehalten. Wie ich im Folgenden ausführen werde, beruhen sie auf dem Prinzip des zureichenden Grundes, das uns als Kompass dient. Moralisches Hinterfragen und politisches Engagement fangen dort an, wo es uns an Gründen fehlt. Wenn rechtschaffene Menschen leiden und böse Menschen gedeihen, beginnen wir nach dem Warum zu fragen. Forderungen nach moralischer Klarheit lassen die Glocken so laut ertönen, weil wir mit Recht danach suchen. Wer sie nicht findet, wird sich stattdessen wahrscheinlich mit einer sehr viel gefährlicheren moralischen Einfachheit oder Reinheit begnügen.
Dieses Buch entstand als Reaktion auf Bedürfnisse, die Leser meines vorigen Buches »Das Böse denken« geäußert haben. Konzipiert als eine Geschichte der Philosophie, hat es das Interesse von Lesern außerhalb der Universität erregt, die ernsthaft über Werte und ethische Fragen diskutieren...