Leonardo, gesehen von Melzi
Einleitung: Das Geheimnis der 10000 Seiten
Im Jahr 1520 verließ ein Edelmann das Schloss des französischen Königs in Amboise. Er überquerte die Loire, ritt mit seinem Gefolge ein Stück weit den Flusslauf entlang und verschwand dann in den südlichen Wäldern. Mit sich führte er eine Kiste. Das Gepäckstück war nicht sonderlich groß, aber so schwer, dass zwei Männer anpacken mussten, um es zu bewegen. Dennoch ließ Francesco Melzi seine Kiste auf der wochenlangen Reise nach Italien keinen Moment lang aus den Augen. Endlich in Mailand angekommen, wandten sich die Gefährten nach Osten. Nach einer weiteren Tagesreise erreichten sie eine Anhöhe über dem Ort Vaprio d’Adda am Fuß der Alpen, wo der junge Mann vor einer imposanten Villa absatteln ließ. Es war der Landsitz seiner Familie. Man schaffte die Kiste in ein Obergeschoss. Dort sollte Melzi seinen Schatz während der nächsten 50 Jahre bewachen.
Oft besuchten ihn Abgesandte der Herrscherhäuser Italiens, zu denen es sich herumgesprochen hatte, welch einzigartigen Besitz Melzi hütete. Er schickte sie fort. Hatte er als Schüler seinem Meister über ein Jahrzehnt lang treu gedient, war er ihm bis an die Loire gefolgt, um jetzt sein Werk zu verhökern? Leonardo da Vinci war tot, am 2. Mai 1519 am Hof Franz’ I. von Frankreich gestorben, Melzis Zuneigung zu ihm aber lebendiger denn je. »Er war wie der beste aller Väter zu mir«, hatte er aus Amboise an Leonardos Halbbrüder geschrieben, »solange meine Glieder zusammenhalten, werde ich die Trauer empfinden. Jeder muss über den Tod eines solchen Mannes betrübt sein, denn einen wie ihn zu erschaffen hat die Natur nicht mehr die Macht.«[1]
Melzi begann, sein Erbe zu sichten. An die 10000 Blätter hatte ihm Leonardo vermacht – von den Gemälden abgesehen sein ganzes riesiges Werk. Das Vermögen des jungen Adeligen erlaubte es ihm, sich ganz der Hinterlassenschaft seines Lehrers zu widmen, doch schnell erkannte er, dass ein Leben nicht ausreichen würde, um Ordnung in diesen Nachlass zu bringen. Er stellte zwei Sekretäre ein und versuchte, ihnen wenigstens einen Bruchteil von Leonardos Ideen zu diktieren. Im Übrigen malte er, so, wie es ihm der Meister beigebracht hatte. Gästen, die schauen, nicht kaufen wollten, gewährte er bereitwillig Einlass in das Allerheiligste der Villa – das Zimmer, in dem Leonardo einst selbst gewohnt hatte und in das nun seine Schöpfungen zurückgekehrt waren.
Riesige Bögen stapelten sich da, aber auch Notizbücher kleiner als ein Handteller, von Leonardo selbst in Leder gebundene Kladden und vor allem eine unübersehbare Menge loser Papiere in allen Formaten. Sie zeigten weit mehr als nur die Entwürfe eines außergewöhnlichen Künstlers. Das Abbild eines ganzen Lebens war hier zu besichtigen – der beispiellose Aufstieg des unehelichen Sohnes einer Tagelöhnerin zu einem Mann, um dessen Gegenwart die Mächtigen Italiens warben und der sich schließlich im hohen Alter für die Freundschaft des Königs von Frankreich entschied. Der Weg eines Jungen, der nie eine höhere Schule besucht hatte, aber als berühmtester Maler aller Zeiten und zugleich als Wegbereiter der Wissenschaft in die Geschichte eingehen sollte. Ob je ein Besucher Melzis Sammlung so studierte, wie sie es verdiente, wissen wir nicht; Leonardos Spiegelschrift machte es niemandem leicht. Wer aber die Mühe auf sich nahm, die Zeilen von rechts nach links und die Hefte von hinten nach vorne zu lesen, der erfuhr von Leonardos Kriegszügen mit dem gefürchteten Feldherrn Cesare Borgia, von abenteuerlichen Fluchten, von Ärger mit dem Papst: Der Meister aus Vinci hatte Triumph und Scheitern erlebt, Existenzangst und grenzenlosen Luxus gekannt, er wurde verachtet und als göttlich verehrt.
Aber wer seine Skizzen betrachtete, tat auch einen Blick in eine ferne Zukunft: Er bekam einen Vorgeschmack auf eine Zeit, in der die Menschen die Kräfte der Natur verstehen und sich mit Maschinen umgeben würden. Zu sehen waren Flugapparate, fürchterliche Katapulte, Automaten von Menschengestalt, durchtunnelte Berge. Manchmal hätte der Besucher ein Blatt nur wenden müssen, und schon wäre er eingetaucht in eine ganz andere, aber nicht minder fantastische Welt: Mit Kreide und Tusche hatte Leonardo das Innere eines menschlichen Herzens gezeichnet, auch, wie ein Fötus im Mutterleib wächst. Andere Darstellungen zeigten Landschaften und Städte Italiens so, wie ein Betrachter aus dem Flugzeug sie sähe.
Nicht zuletzt offenbarte Leonardos Geist in Melzis Zimmer sich selbst. Da waren Gedanken und Träume niedergeschrieben; Prophezeiungen und eine Lebensphilosophie, Theorien über den Ursprung der Welt, Pläne für Bücher, selbst Einkaufslisten hatte Leonardo notiert. Vermutlich trug der Meister seine Notizbücher am Gürtel festgeschnallt, jedenfalls muss er sie ständig mit sich geführt haben, damit sich kein Gedanke verflüchtigen konnte. Selten hat ein Mensch so vollständig die Regungen seines Geistes erfasst. Wer Leonardos Aufzeichnungen verstand, konnte dem Verstand des Meisters auf seinen Höhenflügen folgen, wurde Mitwisser seiner Zweifel und Widersprüche. Denn die Aufzeichnungen dokumentierten auch das innere Selbstgespräch eines einsamen Mannes, seine Angst, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen, und sein Wissen um die Kosten des Ruhms: »Als der Feigenbaum ohne Frucht da stand, sah keiner ihn an. Im Wunsch, Früchte zu tragen und Lob zu bekommen, ließ er sich von Menschen verbiegen und brechen.«[2] Was Melzi in seiner Kiste aus Frankreich in seine Villa geschafft hatte, war nicht weniger als eine Innenansicht von Leonardos Gehirn.
Eine der 10000 Seiten: Überlegungen zum Vogelflug
Aber Melzis Schatz ist zerstört. Als Leonardos einstiger Lieblingsschüler im Jahr 1570 hochbetagt starb, bewies sein Sohn Orazio für die Leidenschaft seines Vaters nicht das geringste Verständnis. Er ließ die Plünderer zugreifen. Der Hauslehrer der Familie verschickte 13 gestohlene Bände an den Großherzog der Toskana. Ein riesiger Packen ging an einen Bildhauer namens Pompeo Leoni, der seinerseits versuchte, Ordnung in die Beute zu bringen, und dazu mit Schere und Leim über Leonardos Werke herfiel. Zeigte ein Blatt mehrere Skizzen, deren Zusammenhang Leoni nicht verstand, zerschnitt er es einfach. Er klebte die Fragmente auf Bögen, band diese zu Folianten zusammen und verkaufte sie. So begann Leonardos Nachlass zerfetzt und zerstreut wie Konfetti über die Bibliotheken Europas zu regnen. Ein großer Teil des Erbes ist verschollen. Von den wohl einst an die 10000 Seiten, die Melzi besaß, ging fast die Hälfte verloren. Wer den Rest studierte, konnte zwar spektakuläre Zeichnungen des Meisters bewundern, doch die Zusammenhänge waren zerstört. Der Geist Leonardos erschloss sich nicht mehr.
Und doch konnten die Plünderer Leonardos Nachruhm nicht schaden. Denn wo die Spuren verwischt sind, kann ein Mythos entstehen. An unzählige Künstler erinnern sich bald nach ihrem Tod nur noch ein paar Spezialisten, obwohl ihre Schöpfungen bestens erhalten und jedermann zugänglich sind. Leonardo hingegen, von dem man nicht einmal zwei Dutzend Werke öffentlich betrachten kann, fasziniert heute, ein halbes Jahrtausend nach seinem Tod, Millionen.
Sie fühlen sich angezogen von seinen Bildern, mehr noch aber von seiner Person: Wie konnte ein Mensch scheinbar das Wissen der ganzen Welt in sich vereinigen – und seine Kenntnisse in ein Werk ohnegleichen übersetzen? Wie vermochte er epochale Gemälde zu erschaffen – und zugleich intensiv über Flugmaschinen, Roboter, allerlei andere Apparate und eine große Bandbreite wissenschaftlicher Fragen nachzusinnen? Dass jemand in der Spanne eines Menschenlebens auf so vielen Gebieten zugleich tätig sein konnte, erscheint uns als ein Wunder.
Schon sein erster Biograph, der toskanische Maler und Architekt Giorgio Vasari, nannte diesen Mann »göttlich«. Das war 1550. Und je mehr Zeit verstrich, umso weniger war es begreiflich, wie ein Mensch des 15. Jahrhunderts all diese Werke hervorbringen konnte. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Faksimiles von Leonardos verstreuten Skizzen der Öffentlichkeit zugänglich wurden, wuchs die Gestalt des Meisters aus Vinci ins schier Unermessliche; Leonardo wurde zum Inbegriff des »Universalgenies«. Selbst Sigmund Freud, der Schöpfer der Psychoanalyse, fand diese romantische Vorstellung plausibel: Leonardo habe einem Menschen geglichen, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während alle anderen noch schliefen – so weit war er seiner Epoche voraus. Die wenigsten, die heute die Mona Lisa, das Abendmahl oder die selten zu sehenden Zeichnungen des Meisters bewundern, würden widersprechen.
Was im Übrigen von Leonardo, dem Sohn des Ser Piero aus Vinci, überliefert ist, nährte die Legenden erst recht. Seine Notizen sowie die Aussagen von Zeitgenossen zeichnen ihn als einen höchst widersprüchlichen, extravaganten Charakter. Er war stolz darauf, dass er als Maler, anders als die Bildhauer, sich bei der Arbeit nicht die Hände beschmutzen musste – aber sezierte Dutzende verwesender Leichen. Er bekundete eine hohe moralische Gesinnung als Vegetarier und Pazifist – und stellte sich zugleich in den Dienst blutrünstiger Tyrannen, für die er Massenvernichtungswaffen entwarf. Er zeigte sich gegenüber der Religion zeitlebens kritisch,...