Was ist ein Traum?
Ein Traum ist erst dann ein Traum, wenn wir aus ihm erwachen. Ein Traum ist ein eindrückliches Erlebnis im Schlaf, das wir im Wachen einigermaßen erinnern können, das etwas über unsere im Moment zentrale emotionale Lebenssituation aussagt und zu mannigfaltigen kognitiven und emotionalen Verbindungen anregt, das Veränderung bewirkt. Es ist ein Ausdruck unseres Selbst im Schlaf – unsere ganz eigene Schöpfung, es gibt wenig Einfluss von außen.46 Jung sagt: »Der Traum ist ein Stück unwillkürlicher psychischer Tätigkeit, das gerade so viel Bewusstheit hat, um im Wachzustand reproduzierbar zu sein.«47
Der Traum entstammt unbewussten psychischen Prozessen. Deshalb konnte die Traumdeutung auch als der »Königsweg zur Erkenntnis des Unbewussten«48 von Freud bezeichnet werden. Diese unbewussten Prozesse sind aber dennoch von Bewusstsein begleitet; insofern ist der Traum auch sehr interessant für die Untersuchung der Frage, was denn Bewusstsein ist,49 und er könnte auch im Zusammenhang mit Untersuchungen zur Kreativität neue Fragestellungen ergeben.
Nacht für Nacht bewegen wir uns in unseren Traumwelten. Träumen ist ein schöpferischer Vorgang: etwas in uns bringt diese Traumwelten hervor, die unsere ureigensten sind. Es sind nicht einfach Erinnerungen, die wir vergessen haben, Bilder aus der Kultur, die wir einmal gesehen haben – das manchmal auch –, sondern aus diesen Erinnerungen, aus diesen Erfahrungen werden immer wieder neue Traumszenarien, viele neue und einzigartige Traumwelten geschaffen, die in sich doch einen Zusammenhang zu haben scheinen. Einige erinnern uns an Träume, die wir schon einmal gehabt haben: Da besuchen wir im Traum wieder einmal ein Ferienhaus, das wir in der Alltagswelt gar nicht besitzen – wohl aber in der Traumwelt. Dieses Ferienhaus aber tritt nun in neuen Zusammenhängen auf. Diese Welten, manchmal bizarr, manchmal erstaunlich logisch – und dennoch nicht unserer Wachwelt vergleichbar –, bringen wir Nacht für Nacht hervor. Es ist unsere ganz eigene Welt. Die Welt im Wachen, die finden wir vor. Wir können sie individuell wahrnehmen, weil wir sie so sehen, wie es unserer Stimmung, unseren Bedürfnissen entspricht. Aber letztlich ist die Wachwelt nicht unsere Schöpfung, ganz anders als die Traumwelt. Und nicht nur die Traumwelt generiert sich immer wieder neu – auch unser Leben darin; Anteile unserer Persönlichkeit treten da auf, die wir noch gar nicht kennen! Wir erschaffen mit der Traumwelt auch immer unser Selbst.
Wir sind aber auch seltsam gefangen in dieser Traumwelt: Wir sind ganz und gar von ihr eingenommen; wir können, solange wir träumen, uns nicht distanzieren, nehmen alles für wahr, sind unkritisch. Gewiss, gelegentlich wissen wir, dass wir träumen, oder wir sind glücklich darüber, wenn uns in einem schrecklichen Traum einfällt, dass das nun möglicherweise nur ein Traum ist. So oft kommt das aber nicht vor. Wenn wir luzide träumen, sind wir uns der Tatsache bewusst, dass wir träumen. Wir sind wach und wir träumen auch gleichzeitig. Vielleicht gelingt es uns, unsere Traumfiguren zu einem bestimmten Handeln zu bewegen – aber letztlich können wir uns nicht aus dem Traum herausbewegen, es sei denn, wir wachen auf. Von Uslar sagt dazu: »Der Traum als Traum, solange er geträumt wird, ist Welt, und zwar nicht nur eine Welt unter anderen Welten, […] sondern die Welt.«50
Mir scheint es außerordentlich wichtig zu sein, dass wir den kreativen Prozess, der sich im Träumen ereignet, auch wirklich gebührend wertschätzen. Der Traum ist die einzige Welt, die nur wir selbst hervorbringen. Aber auch: Wenn es wirklich so ist, dass der Traum eine heilende Wirkung hat, wenn er Anreize zu Entwicklung gibt, wie Jung das sieht, so heißt das, dass wir in uns selbst die Möglichkeiten tragen, uns zu heilen, uns zu entwickeln; vor allem aber tragen wir in uns selbst die Möglichkeit, kreativ zu sein, und das ist die Voraussetzung dafür, dass wir viele Situationen in unserem Leben auch verändern können.
Solange wir träumen, ist die gerade konstituierte Welt im Traum unsere eigene Welt, und wir sind wenig erstaunt darüber, dass Kühe Rollschuh fahren können. Wir wundern uns nur wenig über Riesen, die sich an mathematischen Gleichungen versuchen und dabei weinen. Im Traum können wir eindrückliche emotionale Erfahrungen machen: nicht nur Ängste, sondern auch Freuden, Interessen, Wut, Ärger sind erlebbar, nicht losgelöst, sondern in einer Geschichte, vielleicht auch nur einer kleinen Episode, die für uns im Moment des Träumens ganz real und auch existenziell bedeutsam ist. Erst wenn wir erwachen, wird der Traum zu einem Traum – und er löst Erstaunen aus. Wie konnte ich bloß so etwas träumen?! Haben wir einen Traum wahrgenommen, erzählen wir ihn vielleicht sogar jemandem, haben wir sofort Einfälle zu diesem Traum, stellen Verbindungen her zu unserer Wachwelt, zu anderen Träumen, zu Konflikten mit ihren Emotionen, zu unseren Sehnsüchten und Wünschen. So verwebt sich der Traum mit der gegenwärtigen Wachwelt, mit unserer Geschichte in der Vergangenheit und in der Zukunft, verknüpft er Aspekte unserer Persönlichkeit. Vielleicht betrachten wir diese zunächst spielerisch und fiktiv: Wie wäre es, wenn ich in gewissen Situationen dieser Riese wäre? Wie würde sich das anfühlen? Von dieser Fiktion kann ich mich, anders als im Traum, spielerisch auch wieder lösen. Und dennoch: der Traum lässt mich nicht ganz los, ich bin auch dieser Riese. Nicht ganz und gar, aber gelegentlich – und schon ist man mitten im Nachdenken und auch im Nachfühlen, was denn dieser Traum sagen will, was er will, welchen Sinn er hat. Im Wachen stellen wir Verbindungen her, verbinden die Traumwelten, diese schöpferischen Welten unserer Alltagswelt mit unseren Wünschen, Bedürfnissen, Problemen, Enttäuschungen.
Traumwelt und Wachwelt vernetzen sich
Träume sind Welten, die wir erleben und die wir uns bei der Traumerzählung wiederum vorstellen. Aus diesem Grunde ist es wichtig, sich Träume, mit denen wir uns beschäftigen, wirklich und konkret in ihrer Bildhaftigkeit vorzustellen, sie in ihrer emotionalen Gestimmtheit so gut wie möglich wahrzunehmen und wenn immer möglich, sie jemandem zu erzählen. Gelingt es uns, den Traum uns lebendig vorzustellen und ihn auch so zu erzählen, dann vernetzt er sich wie von selbst mit alltäglichen Erfahrungen, mit Befürchtungen, mit Zielen.
Ein Traum von einem 38-jährigen Mann:
»Ich soll in mein Haus hineingehen. Es ist zwar nicht mein Haus, aber es ist doch mein Haus. Drinnen ruft mich jemand. Der Schlüssel funktioniert nicht – ich werde immer aufgeregter: Wie kann ich denn öffnen? Wo ist noch ein Eingang? Ich werde immer aufgeregter, schimpfe, versuche trotzdem, den Schlüssel noch zu gebrauchen – ich erwache. So ein blöder Traum! Was will denn der jetzt von mir?«
Wir haben hier einen realitätsnahen Traum vor uns, den viele Menschen geträumt haben könnten. Der Träumer erzählt den Traum, den er sich beim Erzählen so lebendig wie möglich noch einmal vergegenwärtigt und dabei auch die mit der Traumgeschichte verbundenen Emotionen wahrnimmt.
Das Haus: »Ein fremdes Haus, eines, das ich gern hätte, eine Art Höhle, wie sie Freunde von uns haben. Die sind introvertiert, menschenscheu. Das Haus ist ein Kompromiss: es ist eine Höhle und hat dennoch Fenster. Ich mag es lieber hell! Das erinnert mich daran, dass ich gestern ein Gespräch mit meinem Chef führte. Ich hielt mich bedeckt, obwohl er mich zu Vertraulichkeiten verführen wollte …« Es folgen längere Überlegungen, wie weit sein Chef ihn aushorchen wollte, wie weit es sinnvoll gewesen sei, sich nicht aushorchen zu lassen, oder aber, ob es ganz falsch gewesen sei.
»Drinnen ruft jemand« – das scheint wichtig zu sein. Der Träumer: »Keine Stimme, die ich kenne, eher ein Hilferuf – vielleicht auch etwas manipulierend. So wie mein Sohn, wenn er zu faul ist, etwas selbst zu machen. Dann ruft er plötzlich, als wäre er in großer Not. Aber vielleicht ist er in Not – dieses Mal.« Der Traum bildet ein Problem ab: Der Träumer kann nicht die Tür öffnen, um zu diesem Menschen zu gelangen, der ruft und den er mit seinem Sohn in Verbindung bringt; der Sohn kann offenbar nicht aus diesem Haus heraus.
Der Träumer ist erstaunt, dass er sich im Traum so aufregt. »Im Alltag bin ich cool: Der soll kommen, wenn er etwas will.« Vielleicht wäre es besser, etwas weniger cool zu sein?
Indem Vernetzungen und Querverbindungen hergestellt werden, verliert die Traumerzählung ihre Kohärenz, sie wird mit Wachbewusstsein angereichert. Traumwelt und Wachwelt durchdringen sich, daraus ergeben sich neue Perspektiven auf die Wachwelt.
Die meisten Träume haben ein emotionales Thema oder auch mehrere emotionale Themen, um die herum die Traumszenen gestaltet sind. Die Emotionen werden in Gestalten sichtbar. Wo Emotionen sichtbar werden, ist Bedarf nach Einsicht, nach Handlung, nach Veränderung, vielleicht auch nach Gestaltung.
In diesem Traumbeispiel ist das emotionale Thema, jetzt auch verbunden mit den Assoziationen, das des »Kindes in Not«. Durch die Verknüpfungen mit dem Alltag ist das emotionale Thema lebensnäher, verständlicher geworden. Dieses Kind in Not wird vom Träumer nicht aufgenommen: Er assoziiert, es sei manipulierend, es soll abgehärtet werden, es wird zurückgestoßen. Dieses Verhalten steht im Widerspruch zum Verhalten des Traum-Ichs. Im Traum scheint es für den Träumer existenziell wichtig zu sein, dieses Haus zu öffnen, zu dieser rufenden Stimme vorzudringen. Er reagiert verzweifelt darauf,...