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Landwirtschaft im Zusammenhang der Menschheits- und Gesellschaftsentwicklung
2.1 Eine neue Art der Nahrungsversorgung
Landwirtschaft ist im Maßstab der Menschheitsgeschichte eine relativ junge Unternehmung, die ca. 600, in Mitteleuropa höchstens 325 Generationen (zu je 30 Jahren) beschäftigt hat (Pretty 2002). Vorher haben mehr als 100 000 Menschengenerationen ihre tägliche Nahrung – als wichtigste ökologische Lebensgrundlage – genau wie alle anderen heterotrophen Lebewesen durch Sammeln und Jagen erwerben müssen, also in, mit und von der (wilden) Natur gelebt. Diese Art individueller Selbstversorgung könnte mit zunehmender Bevölkerungsdichte – ein Zeichen, dass sie recht erfolgreich war! – jedoch an ökologische Grenzen gestoßen sein: Vervollkommnete Jagdund Sammeltechniken verminderten, wenn auch nicht überall, die Bestände der von den Menschen begehrten Tiere und Pflanzen und schmälerten die Nahrungsbasis; die dadurch ausgelöste Suche nach neuen Wegen zur Nahrungsbeschaffung führte zu der Erkenntnis, Nahrungsmittel aus kontrollierter Haltung ausgewählter domestizierter Tiere und durch Anbau ausgewählter Pflanzen in Reinbeständen zu gewinnen (wobei diese Lebewesen zugleich oft auch als Werkzeuge, Baumaterial, Kraftquelle und Transportmittel dienten; vgl. Sieferle (2003), S. 46. Die einst in der Natur räumlich oft weit verstreuten Nahrungsgüter wurden an den menschlichen Wohnplätzen konzentriert, die damit zugleich dauerhafter als bisher angelegt und eingerichtet werden mussten und die Menschen zu stärkerer Sesshaftigkeit veranlassten. Motivationen und Auslöser für den Übergang zu dieser neuartigen Lebens- und Wirtschaftsweise werden bis heute sehr unterschiedlich gedeutet. Er begann jedenfalls in größeren Flussniederungen und locker bewaldeten oder waldarmen Flach- und Hügelländern der warm gemäßigten bis subtropischen Klimazonen, u. a. in Mesopotamien (heute: Irak), Ägypten, Indien und China. Von dort breitete sich die neue Art der Landnutzung innerhalb weniger Jahrtausende in alle dafür geeigneten oder anpassbaren Gebiete aus, allerdings mit unterschiedlichen, stärker individuellen oder gemeinschaftlichen Organisationsformen, und erreichte im 7. Jahrtausend v. Chr. auch Mitteleuropa, wo sie sehr wahrscheinlich auch durch ein relativ sommerwarmes und -trockeneres Stadium der nacheiszeitlichen Klimaentwicklung (Atlantikum; vgl. Wanner et al. 2008) begünstigt wurde (Tab. 2.1). Die weiteren Ausführungen beziehen sich im Wesentlichen auf die Landwirtschaft Mitteleuropas.
Tabelle 2.1 Klimawandel, Kulturstufen und Entwicklung der Landwirtschaft in Mitteleuropa.
2.2 Eine neuer Umgang mit der Natur – und ein „neuer Mensch“
Durch die neue Art der Nahrungsversorgung wurden erstmalig belebte natürliche Systeme (Ökosysteme) des festen Landes in die Dienste der Menschen genommen. Dieser Vorgang gilt als ein fundamentaler (Fort-)Schritt der kulturellen Evolution, mit dem die biologische Evolution von nun an überlagert und teilweise auch gesteuert wurde; man spricht daher von einer „Kultivierung“ der bis dahin wilden Natur. Sie umfasst ein Bündel gezielter Eingriffe in Boden, Wasserhaushalt, Pflanzendecke und Tierwelt mit Umlenkung biogeochemischer Stoffflüsse und hat das Ziel, jene Systeme in einen für die Menschen nützlicheren und wünschenswerteren Zustand zu bringen und in diesem auch zu erhalten. Zugleich wird die von Natur aus geringe Energiedichte der Sonnenstrahlung, die grundsätzlich nicht verändert werden kann, örtlich gebündelt und biotechnisch stärker konzentriert (Sieferle 2003, S. 47; Haber 2007 b). Das grundsätzlich Neue daran ist die Abkehr von der – für Jäger und Sammler typischen – bloßen Entnahme von nutzbaren „Biomasse“-Anteilen aus einer unbeeinflussten natürlichen Erzeugung. Durch die Kultivierung wurde diese nunmehr, in räumlich zunehmendem Umfang und durch Artenkonzentration, auf gesteigerte Produktion der erwünschten Biomasse und deren verbesserte Aneignung umgestaltet. Neben das „Sichentwickelnlassen“ der Natur setzte der Mensch nunmehr das „Entwickelnwollen“ (zwei Bedeutungen im Begriff „Entwicklung“, die oft nicht unterschieden werden!). Die Kultivierung betraf aber nur bestimmte Bereiche oder Funktionen der Ökosysteme, ließ der Natur also noch Spielraum und wollte oder konnte Grundprozesse wie den Antrieb der Sonnenenergie, die Photosynthese und das Wettergeschehen ohnehin nicht beeinflussen.
Die kultivierten Ökosysteme sowie ihre Pflanzen und Tiere, die nun in menschlichen Diensten standen, wurden in ihrem Lebensablauf von diesen abhängig, erlegten ihrerseits den Menschen aber auch einen recht genau geregelten Arbeitsablauf auf – oft, vor allem bei Tieren, sogar im täglichen Rhythmus. Küster (2009) nennt die Landwirtschaft daher eine „tägliche Plackerei“. Denn die „dienenden“ Lebewesen bedürfen ständiger Aufsicht, Pflege und Betreuung sowie auch des Schutzes. Dieser richtete sich einmal gegen die „wilde“ Natur, aus der sie zwar stammten, in die sie aber nicht zurückkehren – d. h. nicht „verwildern“ – durften und die sie auch bedrohen oder gefährden konnte. Zum andern mussten Felder mit angebauten Pflanzen vor Tieren – auch vor den eigenen Nutztieren! – und vor anderen Menschen, die die Ernte stehlen oder zerstören könnten, geschützt werden. Das in diesem Zusammenhang verwendete Wort „Schutz“ hat also ein grundsätzlich anderes Ziel als im Begriff Naturschutz, auf den dieses Handbuch besonders eingeht.
Durch die Kultivierung, auch Land- oder Landeskultur genannt, entstanden die vom Menschen abhängigen „Nutzorganismen“ als eine ganz neue Kategorie von Lebewesen – wobei der Begriff „Nutzen“ weit über die Nahrungs- und Rohstoffproduktion hinausgeht und auch solche Lebewesen einschließt, die nur wegen ihres Schmuck- oder Zierwerts gehalten werden. Damit ist eine stetige, bewusste Auslese und Züchtung verbunden, die die Nutzorganismen tiefgreifend verändert sowie ihren Ursprungsformen entfremdet hat, die z. T. sogar ausgestorben sind. Es änderten sich aber auch die Menschen (Laland et al. 2010). So entstand z. B. bei den Europäern die vorher nicht vorhandene Fähigkeit zur Milchverdauung, die einen entscheidenden Selektionsvorteil bei der Entwicklung der sesshaften Ackerbauer und Viehzüchter im mittleren und nördlichen Europa gebracht hat (Burger et al. 2007) und sogar als die wirkungsvollste Veränderung im menschlichen Genom überhaupt bezeichnet wird. Daneben entwickelte sich aber auch, und zwar innerhalb relativ weniger Generationen, ein ganz neues menschliches Verhalten als eine aus biologischer Sicht ungewöhnliche Wandlung, eine „Psychoevolution“ (Lüning 1989). Sie war bedingt durch längeres Zusammenleben größerer Menschengruppen am gleichen Ort, erforderte neue Regeln mit strengerer Arbeitseinteilung, neues Recht und sogar eine neue Moral. Die „neuen“ Menschen (Leonard 1974) hatten sich einen Teil der Natur, nämlich die kultivierten Systeme mit den Nutzorganismen, im biblischen Sinn untertan gemacht, den sie aber wie erwähnt gegen die „übrige“ Natur, der er abgerungen war, stets verteidigen mussten. Eine solche Einstellung, nämlich Schutz vor der (wilden) Natur, hat seitdem wie erwähnt über 300 Menschengenerationen geprägt! Dem Schutz dieser Natur vor den und für die Menschen widmen sich erst vier bis fünf Generationen – und auch nur Teile von ihnen (s. Abschnitt 6.5).
Aus der heutigen Sicht der Ökologie, wie auch des Naturschutzes und der Landschaftspflege, ist der Übergang zur Landwirtschaft der wohl folgenschwerste irreversible, nie wieder ausgleichbare Eingriff in die Natur gewesen, auch wenn er zunächst nur lokal oder regional begrenzt war. Denn von nun an unterschieden die Menschen eine wilde von einer domestizierten Natur als ihrer neuen Lebensgrundlage, die zwar aus der wilden Natur stammte, aber ständig gegen sie verteidigt, also Schutz erhalten musste. Erst damit begannen die Menschen – und zwar wohl nicht nur aus freien Stücken – sich eine eigene Umwelt, ja ihre eigene Biosphäre (Anthroposphäre) zu schaffen, die auch alle in Symbiose mit den Menschen lebenden, anpassungsfähigen Lebewesen begünstigt (McNeill 2003, S. 209). Mit der Landwirtschaft schränkten die Menschen auch erstmals und massiv die biologische Vielfalt der Natur ein, und zwar gleich doppelt: Sie reduzierten ihre Nahrungsbasis auf eine sehr kleine Auswahl von Pflanzen und Tieren – und hielten diese, vor allem die für die quantitative Grundversorgung als optimal erkannten Ackerpflanzen (Getreide), in möglichst reinen Beständen (Haber 2007 b, S. 360). In heutiger, ethisch motivierter Anschauung wird mit dem jungsteinzeitlichen Übergang zur Landwirtschaft die menschliche „Naturverletzung“ eingeleitet, die seitdem ständig eskaliert ist (Henrich 2003). Nach einer...