Wir hier oben, ihr da unten
Warum Sie Reden halten sollten
Am Anfang müssen wir erst einmal feststellen, ob Sie überhaupt zur Zielgruppe gehören. Machen wir doch so einen Test wie in den Frauenzeitschriften. Die erste Frage lautet: Sind Sie ein charismatischer Redner, Liebling aller Konferenzveranstalter, mit mehr als zehn Rede-Auftritten im Monat, der donnernden Applaus kassiert sowie beeindruckend hohe Honorare? Wenn ja, lesen Sie bitte nicht weiter, klappen Sie das Buch zu und verkaufen Sie es im Internet – aus zweiter Hand ist es ja auch noch was wert. Wenn Sie diese Frage hingegen mit „nein“ beantwortet haben, dann gehören Sie zu einer der beiden Gattungen von Menschen, für die dieses Buch geschrieben ist. Sehen wir mal, zu welcher.
Frage Nummer 2: Wissen Sie, ohne in den Terminkalender zu schauen, wann Sie demnächst eine Rede, eine Ansprache, einen Vortrag oder eine Präsentation halten müssen? Ja? Der Grund dafür ist nicht schwer zu erraten. Sie wissen es, weil es Ihnen Sorgen bereitet. Denn eigentlich sind Sie ja „kein guter Redner“. Eigentlich sind Sie ja immer froh, wenn es vorüber ist. Und am liebsten hätten Sie es, wenn der Kelch an Ihnen vorbei ginge. Zwar gehören Sie damit zu jenen, die sich der Pflicht, öffentlich etwas kundgeben zu müssen, ungeachtet ihrer dagegen vorhandenen Abneigung heroisch unterziehen, ähnlich denen, die trotz Flugangst fliegen und trotz Klaustrophobie enge Aufzüge besteigen. Dennoch müssen wir etwas dagegen tun. Und zwar erstens, weil man Ihnen diese Mischung aus Unsicherheit und Unbehagen anmerkt. Zweitens, weil Sie mit Ihren Reden ganz offensichtlich zu wenig bewirken, denn sonst würden Sie sie längst als Chance und nicht mehr als Belastung begreifen. Und drittens, weil das Leben viel zu kurz und kompliziert ist, um sich wegen „so etwas“ Sorgen zu machen. Wir müssen also dazu beitragen, dass Ihnen der Satz „Ich muss eine Rede halten“ gar nicht mehr in den Sinn kommt. Wir werden ihn durch „Ich darf eine Rede halten“ ersetzen. Wir werden Ihre Ängste, Ihre Nervosität und Ihr Lampenfieber auf Null reduzieren und dazu beitragen, dass Ihr Auftritt um ein Vielfaches effektiver, eindrucksvoller und wirksamer wird.
Jetzt gibt es noch eine dritte Möglichkeit. Sie sind kein Gewohnheits-Redner, deswegen haben Sie Frage 1 verneint. Sie sind auch kein gelegentlicher Redner, deswegen passte Frage 2 auf Sie nicht. Dann können Sie nur noch professioneller Nicht-Redner sein. Nicht-Redner sind jene, die das Mikrofon scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Viele Angehörige dieser Gruppe besuchen zwar eifrig Kongresse, Veranstaltungen, Symposien und Podiumsdiskussionen, verfügen über ein großes Fachwissen und wären, was meist in Pausengesprächen deutlich wird, mühelos in der Lage, zu den Themen der Konferenz ausführlich Stellung zu nehmen. Aber den Quantensprung vom Teilnehmer zum Referenten vollziehen sie nicht. „Das ist nichts für mich“, hört man sie oft sagen, und „Ich will mich nicht in den Vordergrund drängen“, und „In meiner Branche kommt es nicht auf Worte an, sondern auf Taten“. Sie sagen es, als wären sie beim Geheimdienst beschäftigt oder Steuerflüchtling, Mafiaboss und Drogendealer. Natürlich sind sie das nicht, und deswegen gibt es auch gar keinen Grund für ihr Wirken im Verborgenen, ihr Abtauchen in die Anonymität und ihr Dasein als rhetorischer Underdog.
Nicht-Redner haben sich eingebildet, dass sie nicht reden können. Das aber ist großer Unsinn. Abends im Kreis ihrer Familie erzählen sie anschaulich, was tagsüber im Büro passiert ist. Beim Mittagessen plaudern sie ohne jede Hemmung mit Kunden oder Kollegen über das Geschäft. Aber sie glauben, für öffentliche Auftritte müsse man ein besonderes Talent haben oder speziell geschult sein. Doch die ganze Kunst besteht darin, den Mund aufzumachen und Worte zu artikulieren. Fangen wir schon mal an. Machen Sie bitte den Mund auf und sagen Sie „Meine Damen und Herren!“ Sehen Sie? So einfach ist das. Na gut, ein wenig mehr als das wird man schon von Ihnen am Rednerpult erwarten. Aber das schaffen Sie. Lesen Sie nur einfach weiter.
Hiermit endet unser Test. In den Frauenzeitschriften erfahren Sie an dieser Stelle meist noch etwas Geistreiches. Daran mangelt es hier. Beschränken wir uns daher auf eine Kurzfassung, was dieses Buch erreichen will. Es macht aus Rednern gute Redner und aus Nicht-Rednern Redner.
Aber warum eigentlich? Warum ist es so wichtig, Reden zu halten? Dafür gibt es eine Menge Gründe. Teilen wir sie ein in altruistische, egoistische und finanzielle. Altruistisch gesehen ist das Preisgeben von Wissen, Meinungen und Einschätzungen für unsere Demokratie und unsere Wirtschaft essentiell. Auch Sie hatten mindestens einen Lehrer oder Lehrmeister, wahrscheinlich sogar viele davon, die ihre Kenntnisse und Fähigkeiten nicht für sich behalten, sondern an Sie weitergegeben haben. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft, in denen jeder „sein“ Spezialgebiet hat, letztlich aber nur im Zusammenwirken mit anderen weiter kommt, ist die Mitteilung des Gelernten, Erforschten und Erfahrenen notwendige Voraussetzung für Fortschritt. Wenn wir also nicht im Stillstand erstarren wollen, müssen wir miteinander reden. Dies funktioniert nicht einseitig. Sollten Sie sich auf den Standpunkt stellen, es reiche für Ihr Fortkommen bereits aus, anderen zuzuhören, wäre das reichlich eigensinnig und würde bald dazu führen, dass kaum noch jemand sein Wissen weitergibt.
Deswegen sollten Sie auch Einladungen von Schulen, Universitäten, Akademien und Bildungszentren annehmen. Wenn Sie wollen, dass der Nachwuchs praxisnah und nicht nur theoretisch ausgebildet wird, müssen Sie Ihren Beitrag dazu leisten. Damals, als Sie in Ihrer Ausbildung waren, wären Sie auch froh gewesen, so viel wie möglich von Praktikern zu erfahren. Solche altruistisch motivierten Auftritte, mit denen Sie scheinbar nur anderen Gutes tun, haben übrigens durchaus positive Nebenwirkungen für Sie selbst. Zum einen nehmen Sie sich dadurch zwangsweise die Zeit, über das, was Sie täglich machen, mal wieder nachzudenken. Sie werden merken, dass Ihnen beim Entwerfen der Gedankengänge Ihres Vortrags so manches einfällt, was Ihnen im Tagesgeschäft nicht in den Sinn gekommen wäre. Die Vorbereitung einer Rede hat damit einen ähnlichen Effekt wie etwa die Erstellung eines ausführlichen Vermerks. Ich habe immer wieder erlebt, dass meine Mitarbeiter Projekte und Vorschläge viel genauer und kritischer durchdachten, wenn ich sie aufforderte, das Ganze erst einmal auf einigen Seiten zu Papier zu bringen, anstatt sofort in mein Büro zu stürmen und ihre Ideen atemlos vorzutragen. Der zweite Aspekt besteht darin, dass Sie insbesondere von jungem Publikum kritische und manchmal sogar naive Fragen hören werden, die Ihnen aufgrund der Verinnerlichung Ihres Geschäfts gar nicht eingefallen wären. Die Besucher von Kursen, Seminaren und Kolloquien sind meist ideale Sparringspartner und so manche Geschäftsidee wurde schon in Schulungsräumen geboren.
In der Regel werden Sie Reden allerdings nicht aus altruistischen, sondern aus egoistischen Gründen halten. Dies ist völlig legitim. Mit dem Versuch, ein bestimmtes Interesse durchzusetzen, drängen Sie sich keineswegs unberechtigt in den Vordergrund, sondern verhalten sich geradezu idealtypisch. Nur die Summe der Egoismen bringt Gerechtigkeit. Unser Staat, unsere Gesellschaft, unser Rechtswesen und unsere Wirtschaft basieren auf dem Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Der Verzicht auf ihre Einbringung ist nicht Ausdruck vornehmer Bescheidenheit, sondern führt zur Diktatur der Vorlauten. Es wäre daher geradezu fatal, wenn Sie, nur weil Sie nicht gerne Reden halten, anderen das Feld überließen. Es gibt auch keine Alternativen dazu. Ihr so sorgfältig und dramatisch formulierter Brief an den Vereinsvorsitzenden wird in der entscheidenden Versammlung von eloquenten Wortmeldungen überdeckt; nur wenn Sie dort auch auftreten und Ihre Argumente vortragen, können Sie Ihr Ziel erreichen. Ihre Unterschriftensammlung für die neue Ampelanlage vor dem Kindergarten ist völlig wirkungslos, wenn Sie in der damit erreichten Bürgerversammlung nicht auch das Wort ergreifen und die lokalen Politiker überzeugen. Ein ans Gericht gesandter Schriftsatz ist nichts wert, wenn er nicht mit einem pointierten Plädoyer bekräftigt wird. Auch viele Entscheidungen im Bundestag wären anders gefallen, wenn es nicht eindrucksvolle Reden gegeben hätte; denken Sie nur an die Abstimmung über die Hauptstadt-Frage. In all diesen Fällen ist die Rede unverzichtbares Mittel zur...