Klara – Die Hölle auf Erden
Klara sitzt zu Hause in ihrem Zimmer und weint. Die Uhr an der Wand tickt laut, unaufhaltsam vergeht Minute um Minute, während sich Klara immer einsamer fühlt und diese Leere in sich beinahe als körperlich schmerzhaft empfindet. Sie sehnt sich nach Zuneigung, doch alles, was sie erhält, wenn sie einmal nicht alleine sein muss, ist Lieblosigkeit und Kälte. Das Leben ist zu einer niemals enden wollenden Qual geworden, zur Hölle auf Erden, aus der es kein Entrinnen gibt.
Mit zittrigen Fingern wählt Klara schließlich eine Telefonnummer und hat innerhalb kurzer Zeit Herrn Weber am Apparat, dem sie all ihre Sorgen und Nöte anvertrauen kann. Wie nett, warm und beruhigend seine Stimme klingt, er muss wirklich ein ganz besonderer Mensch sein, denkt Klara. Die Telefonate, die sie etwa alle zwei Tage mit dem netten Mann führt, geben ihr Kraft und Zuversicht und lassen sie ihren Kummer zumindest für kurze Zeit vergessen.
Doch da hört Klara plötzlich Schritte vor ihrem Zimmer, schwere Schritte, die sich rasch nähern. Schnell flüstert sie: »Ich muss auflegen«, und beendet das Gespräch, als sich auch schon die Türe öffnet und ein bedrohlich großer Schatten auf ihr Bett fällt. »Was machst du da schon wieder, Klara?«
Es war an einem Donnerstag Vormittag im Jahr 1999, als mich Herr Weber vom Kindertelefon anrief und mich um Unterstützung bei der Suche nach einem Kind bat, das zwar nicht vermisst, aber unauffindbar wäre, obwohl es seiner Meinung nach dringend Hilfe benötigte.
Er erzählte mir, dass bereits einen Monat lang zwei bis drei Mal pro Woche, immer etwa gegen 19 Uhr, ein ca. 13-jähriges Mädchen bei der Hotline anrief, das erzählte, dass es zu Hause misshandelt, mit Drogen vollgepumpt und zur Prostitution gezwungen würde. Klara, so hieß der Teenager, wollte ihren vollen Namen nicht nennen, und laut Herrn Weber klang ihre Stimme von Woche zu Woche verzweifelter. Er bat mich, das Kind zu suchen.
Aber das war nicht so einfach, ich besaß viel zu wenige Anhaltspunkte, um eine Ermittlung einzuleiten. Wen genau sollte ich suchen, und vor allem wo? Herr Weber beharrte auf seinem Wunsch, er meinte, das Mädchen würde vermutlich aus einer Telefonzelle in der Nähe eines Bahnhofes anrufen, da bei jedem Gespräch im Hintergrund neben erheblichem Straßenlärm auch an- und abfahrende Züge zu hören waren. Er zeigte sich enttäuscht, als ich erneut ablehnte, einen Einsatz zu starten. Ich machte ihm klar, dass ich nicht alle Telefonzellen in der Nähe von Bahnhöfen in Wien von Funkstreifen abfahren oder gar bewachen lassen konnte. Der besorgte Mann, selbst Familienvater, machte daraufhin den Vorschlag, Klaras Telefonnummer beim nächsten Anruf zurückzuverfolgen. Aber auch diese Maßnahme war nicht ohne Weiteres durchzuführen, da aufgrund der lückenhaften Informationslage mit dem für die Telefonüberwachung erforderlichen Gerichtsbeschluss nicht zu rechnen war.
Doch bevor Herr Weber noch auf dumme Ideen kam und selbst den Helden spielte, wollte ich mit ihm ausführlich über den Fall sprechen und bat ihn zu mir ins Büro. Ich wollte ihm meine schwierige Situation, die mir in vielerlei Hinsicht ein Eingreifen verbot und die Hände band, erklären und gemeinsam mit ihm eventuell machbare Schritte überlegen und planen. Und es war ja auch nicht komplett abwegig, dass es sich bei der ganzen Aktion um einen Scherz handelte, das galt es ebenso zu bedenken und sollte als Erstes recherchiert werden.
Am Tag darauf saß mir ein sehr aufgeregter und wild entschlossener Kindertelefon-Mitarbeiter gegenüber und bat mich erneut dringend um meine Mithilfe. Ich machte Herrn Weber klar, dass er nur versuchen konnte, das Kind zu motivieren, zu ihm zu kommen. Das heißt, man müsste Klara beim nächsten Anruf davon überzeugen, dass ein persönliches Gespräch viel angenehmer und auch sinnvoller wäre, natürlich ohne sie dazu zu drängen oder Druck auszuüben.
Ich wollte noch wissen, ob das Mädchen wienerisch oder mit ausländischem Akzent sprach, und erfuhr, dass ihr Deutsch, mit örtlichem Akzent, einwandfrei wäre.
Mein nächster und zu diesem Zeitpunkt einzig möglicher Schritt war der zum Referat für Geheimprostitution und Menschenhandel (GM-Referat), um nachzufragen, ob den Kollegen dort ein Fall bekannt war, in dem eine Klara auftauchte – diese Spur verlief jedoch im Sand, kein einziger Akt enthielt einen Hinweis auf diesen Namen. Die Kollegen wollten aber bei zukünftigen Nachtstreifen ganz gezielt auf etwa 13-jährige Mädchen achten, die sich ohne Begleitung draußen aufhielten und sich in einem zwielichtigen Milieu bewegten.
Einige Tage später meldete sich Herr Weber und berichtete, dass Klara wieder angerufen hatte und es ihr etwas besser zu gehen schien. Ihr Vater würde in letzter Zeit angeblich weniger Alkohol trinken und sie daher auch weniger schlagen, und an die Arbeit am Strich hätte sie sich bereits gewöhnt. Der Kinderseelsorger hatte Klara gebeten, bald wieder anzurufen, da er noch immer nichts über ihren Aufenthaltsort in Erfahrung bringen konnte. Ein persönliches Gespräch lehnte das Mädchen ab. Herr Weber war erneut sehr aufgebracht und ich befürchtete immer noch, dass er im Alleingang unsinnige und vielleicht sogar gefährliche Maßnahmen ergreifen würde, wenn er mit seiner sanften Methode nicht bald weiterkam.
Klaras Geschichte beschäftigte mich also weiter. Was sollte man von ihren Schilderungen halten und wie war dieser Sachverhalt tatsächlich einzuschätzen? Konnte man davon ausgehen, dass es sich um einen Scherz handelte und die Sache daher einfach ignorieren? Aber daran wollte ich eigentlich nicht glauben … Etwas an dieser Sache gefiel mir nicht – aber was war es … dieses zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich greifbare Etwas?
Ich besprach den »Fall Klara« mit unseren Spezialisten vom Prostitutionsreferat. Deren gezielte Ausschau auf den Nachtstreifen und Fragen nach einem 13-jährigen Mädchen hatten bis dahin keine Erkenntnisse gebracht. Aber konnte man den Informanten trauen? Und wie kamen wir bloß an dieses Kind heran?
Der Schlüssel zu Klaras Aufenthaltsort war schlicht das Mädchen selbst und das passende Schloss dazu das Kindertelefon. Wir mussten nun versuchen, den Schlüssel in das Schloss zu bringen. Das sollte die Aufgabe von Herrn Weber sein, dem Klara bereits vertraute. Ich besprach mit dem Seelsorger einige Techniken, die er anwenden konnte, um mehr aus dem Mädchen herauszubekommen und die Informationen zu erhalten, die wir so dringend benötigten, um tätig zu werden.
Einige Tage lang rief Klara dann nicht mehr an, als ob sie etwas ahnte. Herr Weber wurde unruhig. Ich bat ihn, Ruhe zu bewahren und ein wenig mehr Geduld zu haben. Allerdings verschwieg ich ihm, dass auch mich dieser Fall immer nervöser machte. Wir fanden nicht die kleinste Spur, die wir verfolgen hätten können. Darüber hinaus wusste niemand von uns, wie ernst die Sache mit Klara tatsächlich war, wie sehr dieses Kind vielleicht jede Stunde seines Daseins litt und das Gefühl hatte, von allen Menschen in seinem Leben im Stich gelassen worden zu sein.
Unser Kopfkino bekam bereits am Tag darauf einen neuen Film zum Abspielen: Herr Weber rief an und berichtete, dass sich das Kind erneut gemeldet und dabei gar nicht gut geklungen hätte – ihr Vater würde wieder mehr trinken, sie ständig schlagen und mittlerweile jeden Abend an fremde Männer verkaufen. Dann wäre schon nach fünf Minuten die Telefonverbindung abgerissen, was den Seelsorger verständlicherweise noch unruhiger machte. Aber dann nahm die Geschichte eine für mich völlig unerwartete Wendung: Der Mitarbeiter des Kindertelefons offenbarte mir überraschend, dass er Klara schon einmal getroffen hatte! Ja, einige Wochen zuvor war das Kind bei ihnen vermummt auf der Terrasse erschienen. Da es jedoch die Verkleidung nicht abgelegt hätte, so Herr Weber, wäre es ihm unmöglich gewesen, das Mädchen zu erkennen. Klara wäre etwa eine halbe Stunde und eine Tasse Tee später wieder gegangen, mit der Bitte, nicht verfolgt zu werden.
Ich ersuchte den Mann, den offensichtlich das schlechte Gewissen plagte, weil er mir diese Begegnung verschwiegen hatte, erneut zu versuchen, das Mädchen zu ihm zu locken. Die Kollegen vom Prostitutionsreferat würden dann einen Zugriff starten und dem Spuk ein Ende bereiten.
Schon zwei Tage später schien der Plan aufzugehen – Klara wollte gegen 22 Uhr in den Räumlichkeiten des Kindertelefons erscheinen. Sie betonte allerdings, dass es dunkel sein müsste, nicht nur außerhalb, sondern auch im Gebäude, wenn sie dieses betreten sollte, damit sie niemand erkennen würde.
Und dann war es endlich so weit – wir standen kurz davor, den »Fall Klara« zu lösen. Doch sie tauchte nicht auf, meldete sich auch nicht telefonisch, um ihr Fernbleiben zu begründen. Ungewöhnliche Fahndungen Wir hofften darauf, dass Klara wieder anrufen würde, und dann sollte Herr Weber das...