I. Junge Jahre eines altmärkischen Junkers
(1815–1847)
Kaum eine Bismarck-Biographie verzichtet darauf, die komplexe Persönlichkeit des Reichsgründers auf die unterschiedlichen Erbanlagen zurückzuführen, die ihm durch ein höchst ungleiches Elternpaar zuteil wurden. Der Vater Ferdinand von Bismarck entstammte dem altmärkischen Uradel. Die dem Ritterstand angehörende Familie, stolz darauf, schon vor den Hohenzollern in der Mark Brandenburg ansässig gewesen zu sein, hatte das Leben von Landedelleuten geführt und dem preußischen Staat seit Jahrhunderten Offiziere gestellt, aber keine großen Begabungen hervorgebracht. Ferdinand war fünfunddreißig Jahre alt, als er in Preußens Unglücksjahr 1806 die kaum siebzehnjährige Louise Wilhelmine Mencken zum Traualtar in der Potsdamer Garnisonskirche führte. Ihr Vater, ein hochangesehener Beamter, hatte drei preußischen Königen als enger Mitarbeiter gedient, zunächst als Kabinettssekretär, dann als Kabinettsrat; neben Beamten zählte er auch namhafte Gelehrte zu seinen Vorfahren. Altersunterschied, soziale Herkunft, Bildungsgrad und lebensweltliche Prägungen machten Ferdinand und Louise Wilhelmine von Bismarck zu einem recht inhomogenen Paar, das menschlich nicht gut miteinander harmonierte; als glücklich wird man diese Ehe kaum bezeichnen können. Doch es bleibt reine Spekulation, auf die divergenten Erbteile zu verweisen, um Bismarcks widersprüchliche Persönlichkeit plausibel zu erklären oder gar zu postulieren, die Gegensätze der unterschiedlichen Elternteile hätten ihn zu einer «problematischen Natur» gemacht. Gegenüber derartigen Deutungen empfiehlt sich Vorsicht – schon allein aufgrund der Tatsache, daß Bismarcks älterer Bruder Bernhard, mit denselben Erbanlagen ausgestattet, eine nicht aus dem Rahmen fallende Karriere als Gutsherr und Beamter (Landrat) gemacht hat.
Ferdinand und Louise Wilhelmine von Bismarck hatten sechs Kinder. Drei starben im frühen Kindesalter, die anderen drei – neben Otto der 1810 geborene Bernhard und die 1827 geborene Malwine – überschritten alle das achtzigste Lebensjahr – wie der Vater das siebzigste (die Mutter erlag knapp fünfzigjährig einem Krebsleiden). Otto von Bismarck ist am 1. April 1815 in Schönhausen geboren, dem rund fünfzig Kilometer nördlich von Magdeburg nahe dem rechten Elbufer gelegenen Stammsitz der väterlichen Familie. Aber nicht hier in Schönhausen, sondern in Hinterpommern verlebte der jüngere der beiden Söhne seine Kindheitsjahre, denn durch den Tod eines Vetters erbten die Eltern die Rittergüter Kniephof, Jarchelin und Külz im Kreis Naugard (nordöstlich von Stettin) und verlegten im Frühjahr 1816 den Wohnsitz der Familie von Schönhausen auf das Gut Kniephof. Von dort aus bewirtschafteten sie die drei Rittergüter, während Schönhausen verpachtet wurde.
Bismarck ist später nicht müde geworden, Kniephof als das Paradies seiner Kindheit zu preisen. Im herrlichen Park des Gutshauses keimte seine lebenslange Liebe zum Wald und zu den Bäumen. Doch die paradiesischen Jahre in Kniephof dauerten nicht lange. Im Alter von sechs Jahren mußte er die ländliche Idylle mit der fernen Residenzstadt vertauschen: Die Eltern gaben ihn in eine Schülerpension in Berlin, in der bereits der ältere Bruder Bernhard untergebracht war. In der Plamannschen Anstalt, in der vorwiegend Söhne des ostelbischen Landadels ihre Schulbildung erhielten, herrschte ein patriotischer Geist, der Franzosenhaß und Turnertum mit straffer Disziplinierung verband. Von einem «künstlichen Spartanertum» hat Bismarck später gesprochen. An die sechs Jahre, die er in dieser Erziehungsanstalt verbrachte, hat er sich sein Leben lang mit Erbitterung und Abscheu erinnert. 1864 äußerte er zu einem engen Mitarbeiter: «Meine Kindheit hat man mir in der Plamannschen Anstalt verdorben, die mir wie ein Zuchthaus vorkam.» Seiner Mutter hat er es sehr verdacht, daß sie ausgerechnet im Juli und August auf ihre Badereise ging und die Söhne deshalb nicht einmal die Ferienwochen im geliebten Kniephof verbringen durften. Nach Auflösung der Plamannschen Anstalt 1827 besuchten die beiden jungen Bismarcks das Gymnasium, zunächst das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in der Friedrichstraße (1827–1830), dann Otto das Gymnasium zum Grauen Kloster in der Klosterstraße (1830–1832). In diesen Jahren bewohnten die beiden eine Wohnung in Berlin, welche die Eltern gemietet hatten und in der sie selbst die Wintermonate verbrachten. Waren die Eltern nicht in Berlin, wurden Otto und Bernhard von einer Haushälterin betreut, die man aus Schönhausen hergeholt hatte, während tüchtige junge Hauslehrer die Aufsicht führten und sich vor allem um die fremdsprachlichen Fertigkeiten ihrer Zöglinge bemühten. In diesen Jahren erwarb Bismarck seine – später vielbewunderte – Fähigkeit, perfekt Französisch und fließend Englisch zu sprechen.
Seinen Konfirmandenunterricht erhielt Bismarck vom berühmten Theologen Schleiermacher. Dieser scheint ihn allerdings nicht übermäßig beeindruckt zu haben; er war, wie man gesagt hat, Bismarcks Lehrer, dieser aber nicht sein Schüler. Nach der Einsegnung (Ostern 1830) war seine Entwicklung zur Skepsis gegenüber Theologie und Gottesglauben nicht mehr aufzuhalten. Noch nicht siebzehnjährig bestand Bismarck an Ostern 1832 das Abitur und konnte jetzt die Universität beziehen.
Am liebsten wäre er an die Universität Heidelberg gegangen. Aber seine Mutter war dagegen, weil sie befürchtete, ihr Sohn könne sich dort das von ihr verabscheute Biertrinken angewöhnen. So fiel die Wahl auf Göttingen, die Hochschule des jungen Adels, der sich auf den Staatsdienst vorbereiten wollte. Anfang Mai 1832 immatrikulierte sich Bismarck als Student der Rechte und der Staatswissenschaften, wenige Wochen später trat er der – überwiegend bürgerlichen – Landsmannschaft Hannovera bei. Bismarcks drei Göttinger Semester sind von Legenden umrankt, doch authentische Zeugnisse sind spärlich. Zweifellos erlebte er diese Zeit als Befreiung von der bisher erduldeten Bevormundung. Der hochaufgeschossene und überschlanke Siebzehnjährige mit dichtem hellblondem Haar und einem Gesicht voller Sommersprossen tauchte begeistert in ein ausgelassenes studentisches Leben und Treiben ein, mit Trinkgelagen und Schuldenmachen, provozierendem Gebaren und Karzerstrafen. Intensiv engagierte sich Bismarck in seinem Corps und brillierte auf dem Fechtboden. Seinem Bruder berichtete er im Januar 1833, seit Michaeli sei er vierzehnmal auf der Mensur gestanden und habe «fast immer meinen Gegner glänzend abgeführt. Wenigstens bin ich nur das eine Mal blutig getroffen.» Nicht nur ein gewandter Fechter war der junge Bismarck, sondern auch ein ausdauernder Reiter, ein guter Schwimmer und ein begehrter Tänzer – nur gegen das Turnen legte er, aufgrund der leidvollen Erfahrungen in der Plamannschen Anstalt, eine tiefe Abneigung an den Tag.
Zum Vorlesungsbesuch gibt es nur wenige Angaben. Am Fachstudium scheint er kaum Interesse gehabt zu haben; die einzige Vorlesung, die er eifrig besuchte, war die des Historikers Arnold Heeren über das europäische Staatensystem. Auf die Frage, was er studiere, war seine Antwort: «Diplomatie.» Nach drei Göttinger Semestern wechselte Bismarck im Winter 1832/33 für drei weitere Semester an die Universität Berlin. Die meistzitierten Zeugnisse aus dieser Zeit sind seine Briefe an den Göttinger Corpsbruder Gustav Scharlach, abgefaßt in jenem schnoddrigburschikosen, von bissiger Selbstironie bis zu sprühendem Sarkasmus reichenden Ton, der im Milieu des studentischen Verbindungswesens gepflegt wurde – dies gilt es zu berücksichtigen, wenn man aus diesen Briefen Rückschlüsse auf Wesensart und Befindlichkeit des jungen Bismarck ziehen will. Das von ihm in diesen Briefen gezeichnete kraftmeierische Selbstbild enthüllt nur die eine Seite. Es gab eine andere Seite. Er war ein aufgeweckter, belesener junger Mann, der die Oper besuchte, viel französisch und englisch sprach, sich routiniert in Berlins aristokratischen Zirkeln bewegte, vor allem im großen Kreis verwandter oder befreundeter Familien, und der zu echter Freundschaft fähig war. Die engsten Gefährten der Berliner Studienzeit, der baltische Aristokrat Graf Alexander Keyserling und der Amerikaner John L. Motley, wurden zu Lebensfreunden. Motley, später amerikanischer Botschafter in Wien und London, ließ in seinem Jugendroman «Morton’s Hope» (1839) Bismarck in der Figur eines Otto von Rabenmark auftreten: «Auf der Kneipe und auf der Straße treibt er es toll; auf seinem Zimmer, inmitten der Pfeifen und Silhouetten, wirft er die Narrenmaske ab und redet mit Morton ‹vernünftig›.»
Höchst erstaunlich ist indessen, daß wir keinerlei Zeugnisse besitzen über die damalige politische Gesinnung Bismarcks, dessen späteres Leben ganz in der Politik aufging. Nach der französischen Julirevolution 1830 kam es auch in vielen deutschen Staaten zu innenpolitischen Konflikten, die im Hambacher Fest (Mai 1832) und im Frankfurter Wachensturm (April 1833) gipfelten; liberale und konservative Tendenzen gewannen immer deutlichere Konturen. Den jungen Bismarck...