Einleitung
„Du bist überempfindlich.“ „Du bist zu empfindsam.“ „Du bist hypersensibel.“ Andere Variationen desselben Sachverhalts:
„Jetzt schon müde?“
„Du hast doch nicht etwa Angst?“
„Was ist los mit dir? Schüchtern?“ „Verstehst du keinen Spaß?“ „Hast du kein Selbstbewusstsein?“
Und hinter alldem steckt die Frage: „Was stimmt nicht mit dir?“
Kommt Ihnen das bekannt vor? Wenn Sie so sind wie ich, haben Sie Bemerkungen wie diese von wohlmeinenden Eltern, Lehrern und Freunden schon so oft gehört, dass Sie sie irgendwann für begründet halten und tatsächlich glauben, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. Und da Sie wissen, dass Sie sich nicht ändern können, sind Sie überzeugt, eine bislang unerkannte, folgenreiche Schwachstelle zu besitzen. Und Sie beginnen, Ihr Leben aufgrund dieses Makels als ständigen Kompromiss zu sehen, als Kampf gegen eine Schwäche.
Dieses Arbeitsbuch enthält für Sie eine wichtige und ganz zentrale Botschaft: Hochsensibilität ist keine Schwäche. Es ist in Ordnung, hochsensibel zu sein. Wenn zwölf oder mehr Aussagen im Selbsttest auf Seite 20 auf Sie zutreffen, verfügen Sie über ein hochsensibles Nervensystem – ein Nervensystem, das dafür ausgelegt ist, in der Umgebung feine Nuancen zu bemerken. In vielen Situationen kann das ein großer Vorteil sein.
Ein sensibles Nervensystem zu haben bedeutet auch, ab einem bestimmten Level zwangsläufig reizüberflutet zu sein. Das gehört leider dazu. Deswegen ist Hochsensibilität noch lange keine Krankheit oder ein schwerer Charakterfehler.
Ein stark empfängliches, hochsensibles Nervensystem wird an 15 bis 20 Prozent der Menschen weitergegeben, also vererbt. Dieser Anteil findet sich auch im Tierreich. Männer und Frauen erben diesen Wesenszug gleichermaßen. (Sensible Männer haben es in unserer Kultur allerdings eindeutig schwerer.) Bislang gibt es auch keinen Nachweis darüber, dass es sich bei den verschiedenen Ethnien anders verhält.
So viele Nervensysteme können nicht „falsch“, fehlerhaft oder genetisch defekt sein. Dieser Wesenszug muss also einen Zweck haben – zum Beispiel kommt es jeder Gruppe zugute, wenn eines ihrer Mitglieder Dinge bemerkt, die den anderen entgehen. Um dem nachkommen zu können, liegen jedoch noch einige für Sie unerlässliche Arbeitsschritte vor Ihnen, die Sie moralisch aufbauen: Stück für Stück müssen Sie all die subtilen und weniger subtilen Schäden ungeschehen machen, die wohlmeinende, aber irrende Kritiker an Ihrem Selbstkonzept angerichtet haben. Denn in Wahrheit handelt es sich hier um Ihre eigene, natürliche, Ihnen angeborene Art, die für alle von Nutzen ist. Dieses Arbeitsbuch – entstanden nach vielen Jahren persönlicher Erfahrung mit Hunderten von Menschen, die hochsensibel sind und HSP genannt werden, und getestet von fünfzig weiteren – soll Ihnen dabei helfen, sich von diesen Schäden zu erholen und Ihr sensibles Potenzial zu entfalten.
Vielleicht sind Sie auch hochsensibel und glauben, deswegen noch nie kritisiert worden zu sein. Oder Sie verstehen, worum es mir im Kern geht, und halten Hochsensibilität für einen positiven Wesenszug. Oder Sie sind alles andere als schüchtern und verfügen über ein gesundes Selbstbewusstsein, fühlen sich also nicht betroffen. Lesen Sie bitte trotzdem weiter. Denn Hochsensibilität ist nicht gleichzusetzen mit Schüchternheit oder Introvertiertheit – tatsächlich sind 30 Prozent aller HSP extrovertiert. Auch wenn Sie sich anscheinend keines Defizits bewusst sind, ist es unwahrscheinlich, dass Sie nicht doch kulturell bedingt unbewusst annehmen, Ihre wahre Persönlichkeit verschleiern zu müssen, weil Sie ein wenig merkwürdig, wenn nicht sogar „unnormal“ sind. Die meisten HSP berichten, dass es Monate oder Jahre innerer Arbeit gekostet hat, um die vielen negativen und falschen Vorstellungen von sich selbst zu erkennen und diese langsam auszuklammern – sowohl aus den unterbewussten emotionalen Reaktionen als auch dem bewussten rationalen Handeln. Der Zweck dieses Arbeitsbuchs ist es, Ihnen bei diesem Prozess zu helfen.
Was genau verstehe ich unter Sensibilität?
HSP werden mit einem Wesenszug geboren, der sie alle möglichen subtilen Botschaften von außen und innen wahrnehmen lässt. Es geht nicht darum, schärfere Augen oder ein besseres Gehör zu haben, sondern wir verarbeiten Informationen, die wir erhalten, viel gründlicher als andere. Wir reflektieren gern. Diese Sensibilität ist in vielen Situationen von Vorteil. So haben Forschungen ergeben, dass HSP intuitiver, bewusster und gewissenhafter sind. (Sie ziehen mögliche Konsequenzen wie „Was wäre, wenn ich das nicht schaffe?“, „Was wäre, wenn jemand diese Regel bräche?“ immer in Betracht.) Wir können gut mit Kindern und Tieren umgehen und haben ein Händchen für Pflanzen. Und wir sind hilfreich in Situationen, in denen es wichtig ist, subtile Signale zu bemerken. Kleinteilige Arbeiten und das Auffinden von Fehlern liegen uns, wir sind aber auch Visionäre, haben eine Vorstellung vom „großen Ganzen“. Dabei ziehen wir stets zurückliegende Erfahrungen und mögliche Auswirkungen in der Zukunft in Erwägung. Wir haben ein reiches, komplexes Innenleben und ungewöhnliche Träume; uns liegt viel an sozialer Gerechtigkeit, und wir besitzen eine spirituelle Gabe oder philosophisches Talent. Da wir Feinheiten sehr stark wahrnehmen, werden wir auch sehr leicht von weniger subtilen oder ausgeprägten Reizen überwältigt. Lärm. Visuelles Chaos. Kratzige Stoffe. Merkwürdige Gerüche und Lebensmittel, die nicht mehr ganz frisch sind oder Flecken aufweisen. Extreme Temperaturen und alle Arten plötzlicher Veränderung. Emotional fordernde Situationen. Menschenmengen. Fremde. Und da wir Informationen gründlicher verarbeiten als andere, setzen wir uns auch ausführlicher mit Kritik, Zurückweisung, Vertrauensbruch, Verlust und Tod sowie ihrer Bedeutung auseinander. Weitere nüchterne Tatsachen über uns sind: Wir neigen zu Allergien und reagieren stärker auf Schmerzen, Medikamente, Koffein und Alkohol. Normalerweise empfinden wir schneller und häufiger Hunger und müssen daher regelmäßig essen. Keine dieser Eigenschaften macht uns schwach – wir sind nur anders.
Kurz zusammengefasst ist Sensibilität in vielen Situationen ein Vorteil und zweckdienlich, umgekehrt auch nicht. Wie bei der Augenfarbe handelt es sich dabei um ein neutrales, gewöhnliches Merkmal, das zwar nicht von der Mehrheit, aber von einem großen Teil der Bevölkerung geerbt wurde.
Was Sie über Ihren Wesenszug wissen müssen – oder warum Sie dieses Buch lesen sollten
Als ich anfing, über Hochsensibilität zu forschen, hatte ich nicht vor, Bücher darüber zu schreiben. Als klinische Psychologin war ich plötzlich in einen für mich persönlich sehr wichtigen Bereich eingebunden – ich suchte nach den Gründen dafür, warum ich selbst mich so anders als andere Menschen fühlte. Doch schon bald hatten mich andere HSP davon überzeugt, dass auch ihnen grundlegende Informationen über sich selbst fehlten. Als dann eine Lokalzeitung meine Forschungsergebnisse abdruckte, setzten sich Hunderte HSP mit mir in Verbindung und baten mich inständig, eine Vorlesung darüber zu halten. Danach sollte ich einen Kurs darüber geben und schließlich ein Buch schreiben. Und das habe getan: Sind Sie hochsensibel? Es war nicht einfach, einen Verlag dafür zu finden, doch mittlerweile wurden über 100.000 Exemplare in dreizehn Auflagen verkauft, beinahe ohne Medienberichterstattung und nur durch die Mundpropaganda unter HSP. Immer wieder versichern sie mir, dass all das ihr Leben verändert hätte. Einem ethisch motivierten Aufruf zum Handeln wie diesem kann kein Wissenschaftler widerstehen.
Ich glaubte, nach dem ersten Buch sei Schluss. Doch es kam anders: Meine Leser wollten mehr – Kurse, Beratung, Selbsthilfegruppen und andere Formen der Unterstützung, um diese Vorstellungen zu verinnerlichen, was, wie ein HSP es beschrieben hat, „einem innerlichen Möbelrücken gleicht“.
Inzwischen verstehe ich das Bedürfnis nach noch mehr Information, denn man ändert nicht sein komplettes Selbstbild nach der Lektüre eines einzigen Buchs. Aber da ich nicht ständig Vorlesungen halten und lehren kann, versuche ich, durch dieses Arbeitsbuch vielfach präsent zu sein und jeder HSP das zu geben, was ich ihr in einem Kurs, bei einer persönlichen Beratung und im Rahmen einer Selbsthilfegruppe hätte zuteilwerden lassen.
Aus meinen Erfahrungen mit vielen HSP kann ich Ihnen sagen, was Sie brauchen:
- •Basiswissen über Ihren Wesenszug. Dieser Punkt wird ausführlich in Sind Sie hochsensibel? behandelt. Das Gleiche gilt auch für dieses Arbeitsbuch, wobei es in einem anderen Format geschieht. Hier erforschen Sie die Bedeutung Ihres Wesenszugs viel stärker, vor allem in den Kapiteln 1 und 2.
- •Hilfe bei der Selbstfürsorge. HSP haben ein anderes Nervensystem als andere Menschen. Wenn wir versuchen, uns an die gleiche Betriebsanleitung zu halten wie diese, ziehen wir uns alle möglichen chronischen Krankheiten zu, wie viele von Ihnen schon am eigenen Leib erfahren mussten. Umgekehrt kommen unsere Vorzüge nicht zum Tragen, wenn wir uns selbst überbehüten, was ebenfalls zu Stress und Krankheit führen kann. Vor allem Kapitel 3 beschäftigt sich mit der Selbstfürsorge von HSP.
- •Hilfe bei der Neubewertung Ihres Lebens. Unter Berücksichtigung Ihrer Sensibilität werden Sie bis zu einem gewissen Grad automatisch anders über Ihr Leben denken – vor allem über die...