Vorwort
Mozart, der große Widerspruch
Eine Gebrauchsanweisung für dieses Buch
Alles wäre so einfach, hätte Mozart keine Briefe geschrieben. Oder testamentarisch verfügt, sie verbrennen zu lassen. Obwohl nur ein Teil von ihnen erhalten ist, führte Mozart die Nachgeborenen damit selbst auf seine Fährte. Auf die Fährte eines Mannes, der seinen Vater belog und finanziell betrog. Der sich in Fäkalsprache und Obszönitäten erging. Der verdiente Künstler mit groben Worten herabsetzte. Der sich unflätig über Menschen äußerte, denen er viel verdankte. Der intrigierte und trickste. Der seine Gläubiger mit Ausreden hinhielt, seine Schwester im Unglück hängen ließ, über das Äußere von Frauen übel herzog und Unschuldige verleumdete.
Was Mozart in den Briefen von sich preisgab, zerrte ihn aus dem mythischen Dunkel, das Shakespeare bis heute vergönnt ist. Als Otto Jahn die bis heute umfangreichste Lebensbeschreibung zu Mozarts hundertstem Geburtstag veröffentlichte, konnte er noch so tun, als seien ihm viele Briefe unbekannt; sie lagen damals noch nicht vollständig in gedruckter Form vor. Das war noch immer so, als 1945 Alfred Einsteins Mozartbiographie erschien. Einstein vermutete, niemand wage sie zu drucken, weil sie Mozart so sehr als Menschen dieser Welt enthüllen. Der Kollege Jahn habe nämlich bereits den größten Teil der Briefe gekannt, aber alle tieferen Dissonanzen in Mozarts Leben und Werk halb unbewusst, halb geflissentlich übersehen. Einstein hatte hingesehen und erklärte im ersten Satz des ersten Kapitels: Ein großer Mensch wie Mozart ist, wie alle großen Menschen, ein erhöhtes Beispiel und Exemplar jener sonderbaren Gattung von Lebewesen, die man im allgemeinen als eine Mischung von Körper und Geist, von Tier und Gott bezeichnen kann.[1]
Zu Beginn der 1960er Jahre erschienen endlich alle damals erfassten Briefe. In der Folge widerlegten die Mozartforscher Stück für Stück die Geschichte von Mozart dem Opfer und förderten Fakten zu Tage, die eine Verklärung des Menschen Mozart unmöglich machten. Die war und ist auch nicht erforderlich.
Die Größe des Werks wird von menschlichen Schwächen nicht beeinträchtigt. Und dass Mozart ein Zotenreißer war, störte bereits in den 1970er Jahren kaum mehr jemanden. Trotzdem war das Bedürfnis, Mozart zu entlasten, damit nicht aus der Welt. Um es zu befriedigen, mussten seine Fehler wenigstens teilweise anderen angelastet werden. Die beiden Mozart am nächsten stehenden Menschen boten sich dafür an: sein Vater und seine Frau.[2] Doch wer die Rehabilitierung von Constanze und das zurechtgerückte Bild von Leopold Mozart nicht ignoriert, weiß: Sie taugen nicht als Sündenböcke, die an Stelle Mozarts in die Wüste gejagt werden könnten. Von Seiten der Medizingeschichte kam in den 1990er Jahren ein weiteres Hilfsangebot. Durch die psychiatrische Diagnose einer bipolaren Störung würden sich Mozarts Stimmungsschwankungen, durch die des Tourette-Syndroms zumindest manche verbalen Entgleisungen und Ticks Mozarts erklären lassen. Überzeugen konnten diese Bemühungen die meisten nicht.[3] Vielmehr neigt wohl jeder, der sich lange mit Mozart befasst, zu der Ansicht Hanns Eislers, der zugab, für ihn sei Mozart immer ein seltsamer, ein unheimlicher Mensch gewesen.[4]
Warum geben wir die Anstrengungen also nicht einfach auf? Warum zögern wir, das Verständnis für den Künstler Mozart und für seine Kunst von dem Verständnis für den Menschen Mozart zu trennen? Eine Antwort darauf gab 1991 ein Mozart-Buch des Soziologen Norbert Elias, das noch vor dem Tod des Dreiundneunzigjährigen aus Stücken eines unvollendeten Projektes zusammengestellt wurde. Diese Trennung, protestierte Elias, ist künstlich, irreführend und unnötig. Der heutige Stand unseres Wissens erlaubt uns zwar nicht, die Zusammenhänge zwischen der sozialen Existenz und den Werken eines Künstlers wie mit einem Seziermesser offenzulegen; aber man kann sie mit einer Sonde ausloten.[5]
Die Anatomie dieses Gewebes soll hier noch immer nicht riskiert werden. Aber der Versuch, beim Objekt Mozart mit einer neuen Sonde zu arbeiten. Wie kann diese Sonde aussehen? Wo genau kann sie zum Einsatz kommen? Und was soll sie ergründen?
Die Musik Mozarts und den Menschen Mozart verbindet etwas Wesentliches und Wesenhaftes: Sie sind im doppelten Sinn des Wortes unfassbar. So nah, so fern. So vertraut, so fremd. Werk wie Person entziehen sich dem Zugriff. Nichts ist linear, auf nichts ist Verlass. Sobald wir etwas wörtlich nehmen, scheitern wir. Zum Beispiel bei Mozarts Briefen. Kaum hat er sich in der verbalen Kloake gesuhlt, philosophiert er über den Tod, kaum hat er im Ton tiefster Demut um Geld gebettelt, funkelt er vor Übermut, kaum hat er einem das Herz aufgerissen mit den Schilderungen seines Missachtetwerdens, leuchtet er vor Zuversicht. Schon Carl Dahlhaus hat es aufgezeigt: Diese Briefe sind Meisterwerke der Eigenregie. Mozart setzte sich in Szene, wie es ihm gefiel und opportun schien. Er stellte seine Situation und seine Mitmenschen so dar, wie sie der Adressat wahrnehmen sollte. Mit jeder Rolle, die er in diesem Theater spiele, sei er authentisch, erkannte Dahlhaus. Aber wer jenseits des Rollenspiels Mozarts Kern erfassen wolle, der greife ins Leere. Wenn wir meinen, ihn zu fassen, ist er schon wieder ein anderer oder anderswo.[6]
Oft wurde wiederholt, Mozart sei als Komponist kein Neuerer. Er habe die Formen seiner Zeit einfach übernommen und vollendet. Die meisten Werke wirken beim ersten Hören schön und klassisch ebenmäßig. Aber Mozart bricht mit Konventionen und mit seinen eigenen Versprechungen. Oft mit solchen, die er gerade erst gegeben hat. Der Komponist Wolfgang Rihm gestand 1991 in einer Umfrage zum Mozart-Jahr, er verstehe es, dass man Mozart vorgeworfen habe, unrein zu komponieren. Nichts sei richtig, alles sei irgendwie schief. Haydn wurde schon zu Lebzeiten zum Klassiker gekürt. Bei Mozarts Musik vermissten nicht wenige Zeit genossen das, was für die klassischen Forderungen gilt: Ausgeglichenheit und Konsequenz. So erklärte der Schweizer Komponist, Musikalienhändler und Musiktheoretiker Hans Georg Nägeli, sechzehn Jahre nach Mozart geboren, in seinen Vorlesungen über die Musik, so wie Mozart dürfe man einfach nicht komponieren. Er kritisierte, dass Mozart in der Instrumentalmusik den Gesang nachahme. Er warf ihm vor, er entwickle nichts konsequent durch, er wolle vor allem Effekt machen durch das über triebene, ausschweifende Contrastieren. Mozart sei zugleich Schäfer und Krieger, Schmeichler und Stürmer; weiche Melodien wechseln häufig mit scharfem, schneidendem Tonspiel. Unter den wichtigen Komponisten sei er der allerstylloseste, schlimmer: oft von einer widerwärtigen Styllosigkeit.[7] Auch wer gegen Nägelis Vorwürfe protestiert, muss eingestehen: Es gibt bei Mozart in den meisten größeren Werken diese radikalen Umschwünge. Johann Friedrich Reichardt bemängelte schon 1782, die Instrumentalmusik Mozarts sei höchst unnatürlich, weil es in ihr erst lustig, dann mit einmahl traurig und straks wieder lustig hergeht. Ihm missfiel wie dem Schweizer Kollegen diese höchst unschickliche Mischung, wo Lachen und Weinen sich jagen.[8] Auch in den Vokalwerken lässt sich das beobachten. Gerade war die Stimmung noch erotisch schwebend, da stürzt sie ab ins Tragische. Gerade noch wähnten wir uns geborgen in sommerlicher Heiterkeit, da bricht die Eiseskälte des Todes ein. Gerade noch haben uns beruhigende Klänge umschmeichelt, da bedroht uns ein aufziehendes Weltengewitter. Kaum fühlen wir uns auf sicherem Terrain, tut sich ein Abgrund auf. Der Trugschluss ist charakteristisch für den Menschen Mozart und für seine Musik. In seinen allerersten Kompositionen, Menuetten, die der Vater notiert, finden sich bereits Trugschlüsse. Seine Opern enden mit einem Frieden, der trügerisch ist im psychologischen Sinn. Seine Instrumentalwerke lieben den Trugschluss im Sinn der Harmonielehre. Lassen zwingend die Tonika erwarten, lösen aber diese Erwartung nicht ein.[9]
Eine ungestillte Sehnsucht treibt die Musik voran. Bei einer Berliner Don Giovanni-Aufführung 1791 regte sich ein Kritiker darüber auf, unaufhörlich werde man ohne Ruhe und Rast von einem Gedanken zum andern gleichsam fortgerissen.[10] Diese ungestillte Sehnsucht trieb den Menschen Mozart an und um. Er sei immer rastlos in Bewegung gewesen, bezeugte seine jüngste Schwägerin Sophie Weber. Nie habe er länger ruhig stehen oder sitzen können. Dieses Ruhlose, sagt der Dirigent Daniel Harding, ist ein Aspekt seiner Persönlichkeit, der sich auch in seiner Musik wiederfindet.[11] Jede Aufführung Mozarts, die das Nervöse unter der Oberfläche des Schönen und Harmonischen nicht hörbar zu machen wagt, hält Harding für verfehlt und für Ulrich Konrad ist Mozart der Fragment-Komponist par excellence.
Unablässig war Mozart unterwegs, nirgendwo war er wirklich zu Hause, nie war er von dem...