1 Die Aufgabe des Erziehens
Unsere Kinder sind die Zukunft.
Eines Tages, wenn sie erwachsen geworden sind und wir unser Leben beenden, werden wir die Welt in ihre Hände legen, und sie werden viele Probleme bewältigen müssen, die wir oder unsere Vorfahren produziert haben. Es wird darauf ankommen, dass wir unser Bestes gegeben haben, um sie mit dem auszustatten, was sie brauchen, um ihr Leben zu meistern und den Aufgaben gewachsen zu sein, die auf sie zukommen.
Es ist eine sehr wichtige Aufgabe, Kinder erziehen zu dürfen, denn damit gestalten wir die Zukunft. Wir können uns beschenkt fühlen, wenn wir Kinder bekommen, und wir sollten sie so liebevoll und aufmerksam erziehen, wie es uns nur irgend möglich ist.
Sich für Kinder entscheiden
Seit einigen Jahrzehnten sind wir Bewohner der westlichen Welt immer besser dazu in der Lage, uns frei zu entscheiden, ob wir Kinder bekommen wollen. Wenn wir uns für sie entscheiden, so lassen wir uns bewusst auf ein interessantes, lebendiges, vielseitiges, aber auch manchmal anstrengendes Vorhaben ein, das mindestens achtzehn Jahre lang unsere volle Aufmerksamkeit und alle unsere Begabungen, Kräfte und schöpferischen Ideen fordert. Wir müssen uns der Verantwortung bewusst sein, die mit dieser Entscheidung verknüpft ist. Unsere Kinder brauchen unser waches Interesse, unsere Hingabe und Präsenz, unsere Liebe und Anerkennung. Selbstverständlich müssen wir auch unseren Beruf meistern und andere Aufgaben erfüllen, aber unsere Kinder sind der Mittelpunkt unseres Lebens in diesen achtzehn Jahren ihrer Kindheit.
Sich einlassen
Um ein Familienleben zu gestalten, das Kinder fördert und mit dem die Erwachsenen zufrieden sein können, ist es hilfreich, wenn die Eltern folgende Tatsachen akzeptieren können:
• Perfektionismus ist nicht angebracht.
• Der Wunsch nach Ruhe und Ordnung ist verfehlt.
• Konfliktscheu und Harmoniesucht von Eltern erschweren gedeihliches Aufwachsen von Kindern.
• Kinder sind darauf angewiesen, dass Eltern das Leben nach den existenziellen Bedürfnissen der Kinder ausrichten. (Kontakt ist eines dieser existenziellen Bedürfnisse.)
• Eltern müssen sich voll und ganz auf ihre Kinder einlassen. Diese sind darauf angewiesen, dass die Eltern sehr viel Zeit mit ihnen verbringen und dass sie sich in dieser Zeit ihnen bewusst zuwenden.
• Es ist die Aufgabe der Eltern, Entscheidungen zum Wohle der Kinder zu fällen und dafür die Verantwortung zu übernehmen.
• Es ist sinnvoll, dass Eltern bestimmte Regeln, Rhythmen und Beständigkeit in das Familienleben bringen, damit sich Kinder orientieren können. Eltern müssen damit umgehen lernen, dass Kinder sich aus verschiedenen, oft berechtigten Gründen nicht immer an diese Strukturen anpassen können. Die Strukturen müssen von den Eltern immer wieder den veränderten Bedingungen der Entwicklung der Familie angepasst werden.
Wenn ein Paar vor dem Kinderkriegen schon längere Zeit zusammengelebt hat, so hat es in der Regel bestimmte Gewohnheiten ausgebildet (etwa was Sauberkeit und den Besitz von Gegenständen betrifft) und einen bestimmten Rhythmus in sein Leben gebracht (z.B. wie viel Zeit man für sich selbst beansprucht). Das Leben «funktioniert» sozusagen «perfekt». In dem Moment, wo diese beiden Menschen Eltern werden, wird diese Ordnung völlig durcheinandergebracht, und zwar dauerhaft (siehe Kap. 35). Auch Paare, die zuvor viele Jahre getrennt gelebt haben, ehe sie sich nun zur Familiengründung zusammenfinden, werden sich umstellen müssen. Sehr junge Eltern, die noch bereit sind, unkonventionell zu leben, haben oft weniger Schwierigkeiten, Gewohnheiten umzustellen. Eher tun sie sich damit schwer, ein beständiges Leben zu führen und Verantwortung für Kinder zu übernehmen.
Alle Menschen, die Eltern werden, durchleben während der Schwangerschaft und in der ersten Zeit nach der Geburt eine Krise.[∗] Nicht nur äußerlich, sondern vor allem innerlich sind wir in dieser Zeit einem unumgänglichen Umwandlungsprozess unterworfen. Wer sich für diese Veränderung entscheiden kann, wird die Krise als aufregend und interessant erleben. Wer hingegen im Trauerzustand um die verlorene Selbstbestimmtheit stecken bleibt oder Ängste vor der Zukunft entwickelt, wird sie schmerzlich durchleiden. Unser Kind wird in seiner Kindheit schrittweise immer wieder durch Krisen und große Veränderungen gehen, und wir als Eltern werden fast immer mehr oder weniger davon mit betroffen sein. Wenn wir uns immer wieder für diese Veränderungsprozesse öffnen, sie bejahen und bereit sind, uns selbst auch zu verändern, können wir etwas begreifen vom tiefen Sinn des Lebens und seinen Wandlungsprozessen. Wir Erwachsenen haben manchmal Ängste vor Veränderung, vor dem Verlust dessen, was wir haben, oder dessen, was so bleiben soll, wie es ist. Eine unserer Lebensaufgaben ist es aber, uns den Wandlungen hinzugeben, immer wieder das Errungene loszulassen. Wer dies bejaht, hat die Chance, diese Prozesse wach und interessiert wahrzunehmen und sie sogar zu genießen. Eine andere Lebensaufgabe ist es daneben auch, die Veränderungsprozesse aktiv mitzugestalten und dafür zu sorgen, dass sie sich in gesunder Weise ereignen können.
Blickt man in dieser Weise auf das Erziehen von Kindern, wird man feststellen, dass die Elterngeneration wie ein Vermittler zwischen der Großelterngeneration und der Kindergeneration steht. Die mittlere Generation trägt entscheidend dazu bei, welche Werte, Normen, Haltungen, Umgangsformen und Wissensinhalte weitergegeben werden. Dies geschieht in der Regel hauptsächlich unbewusst: Die erwachsen gewordenen Kinder übernehmen viele Dinge so, wie sie von ihren Eltern vorgelebt worden sind, und geben sie an ihre Kinder weiter. Nicht jede Generation muss sozusagen «das Rad neu erfinden».
Wenn die Elterngeneration das Tradierte nicht mehr als richtig ansieht oder sogar darunter gelitten hat, so bricht diese Generation in irgendeiner Weise mit der Tradition (dem Weitertragen). Das Durchschneiden der Generationenkette ist ein bewusster Akt, der oft mühsam errungen werden muss. Ich glaube, dass das Verwandeln eines Teils des zunächst unbewussten generationenübergreifenden Handlungsstroms in ein bewusstes neues Handeln einer der schwierigsten Veränderungsprozesse ist, den Menschen vollbringen können.
Über Generationen hinweg zeigte sich, dass Menschen, die als Kinder nicht liebevoll behandelt wurden, als Erwachsene auch nicht liebevoll mit ihren Kindern umgehen konnten. Es ist an der Zeit, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Dies ist nicht nur eine individuelle Aufgabe, sondern auch eine gesellschaftliche.
Menschen, die das wollen, können es leisten, wenn sie es als doppelte Aufgabe verstehen. Einerseits müssen sie das Kind, welches sie selbst einmal waren und das als Erinnerung und Erfahrung in ihnen auch dann noch lebt, wenn sie schon Erwachsene geworden sind, «verstehen, trösten und liebevoll versorgen» (siehe Kap. 39). Andererseits haben sie gleichzeitig ihre aktuelle Aufgabe der liebevollen Versorgung der nächsten Generation zu erfüllen. Der erstgenannte Teil der Doppelaufgabe ist ein Nachholprozess, dem es in manchen Fällen guttun kann, wenn er von einer Therapie begleitet wird. Er ist auch ein Stellvertretungsvorgang, in dem wir bestimmte Aufgaben, die unsere Eltern an uns nicht gut erfüllt haben, nun gewissermaßen nachträglich an ihrer Statt übernehmen. Dies gelingt uns, indem wir uns nicht mehr nur wünschen, dass unsere Eltern uns so liebevoll behandelt hätten, wie wir nun unsere Kinder behandeln, sondern uns selbst auch tatsächlich liebevoll behandeln. Diese Doppelaufgabe braucht die Geduld der kleinen Schritte. Wenn sie gelingt, dann können wir zu Recht mit Stolz von uns behaupten, dass wir uns selbst verändert haben.
Das Kind von damals «verstehen, trösten und liebevoll versorgen»
Wenn wir Kinder erziehen, haben wir die wunderbare Chance, sie bei ihren Verwandlungen zu begleiten, uns selbst zu verändern und gleichzeitig mitzuerleben, wie sich mit der nächsten Generation auch die Welt verändert.
Es gehört zu den Tatsachen dieses Veränderungsprozesses, dass Kinder frischen Wind, Lebendigkeit, Freude und viele Überraschungen ins Leben bringen. Es kann sehr aufregend und zutiefst sinnvoll und erfüllend sein, mit Kindern zu leben.
Erziehungsziele
Die Aufgabe des Erziehens umfasst das Begleiten und Fördern der Kinder in ihrer körperlichen, seelischen und geistigen Entwicklung zum Erwachsenwerden.
Ich formuliere im Folgenden, welche übergeordneten Erziehungsziele ich aus der Perspektive des Elternseins für die wichtigsten halte:
Es geht darum,
• das Leben miteinander zu leben;
• Freude mit- und aneinander zu erleben;
• das Kind in seinen vielschichtigen Begabungen und Wesenszügen liebevoll und anerkennend wahrzunehmen, so dass es lernen kann, seine schöpferischen Kräfte zu Zielen zu führen;
• Schwierigkeiten, Probleme, Konflikte und Krisen zu bejahen und miteinander zu durchleben, damit das Kind daraus Vertrauen in das...