Wie ich dazu kam, mich mit Gott zu beschäftigen
Meine Eltern waren »bekenntnislos«. Den Religionsunterricht in der Schule durfte ich daher schwänzen. Im Alter von 14 Jahren hatte ich mein erstes religiöses Erlebnis. Ich weiß nicht, was mich überkam, aber auf einmal spürte ich, dass es so etwas gab wie eine überirdische Schönheit und Liebe, die irgendwie mit Christus zusammenhing. Ich beschloss, in eine Religionsgemeinschaft einzutreten. Seltsamerweise überlegte ich, ob das Christentum, Islam oder Buddhismus sein sollte. Die schönen blauen Augen des Pastors gaben den Ausschlag: Ich ließ mich taufen.
Mit achtzehn trat ich wieder aus der Kirche aus. Das war die Phase, in der ich wie die meisten Gleichaltrigen damals gegen alles war, insbesondere gegen Institutionen. Außer gelegentlichen »religiösen Anwandlungen«, wie ich das nannte, vergaß ich die Religion wieder.
Mit der Liebe trat die Angst vor Trennung durch Tod in mein Bewusstsein, und ich begann mich für die Frage zu interessieren, ob das Leben nach dem Tod weitergeht. Fords »Bericht vom Leben nach dem Tode« fiel mir in die Hände, und das war der Beginn einer intensiven Beschäftigung mit der Esoterik, dem inneren Weg. Durch diese kam Gott wieder in mein Blickfeld. Aber das war ein etwas anderer Gott als der kirchliche. Weniger streng, weniger dogmatisch, freier und großherziger.
Nachdem ich mich durch Berge von Literatur gearbeitet hatte, stellte ich fest, dass Lesen mir nicht reichte. Es war hochinteressant gewesen, ich hatte die Bücher geradezu verschlungen, aber es hatte weder mich noch mein Leben verändert.
Ich beschloss also, mich auf einen spirituellen Weg zu begeben und meditieren zu lernen. Mein erster Lehrer war Swami Hariharananda Giri, der indische Nachfolger von Yogananda13 (Kriya Yoga). Von ihm lernte ich, »einen Teil der Aufmerksamkeit immer bei Gott zu lassen«, wobei er diesen in der einfachen, etwas kindlichen Sprache, die er für uns unwissende Westler verwendete, an einem Punkt hinter der Stirn lokalisierte. Genau in der Mitte zwischen den Ohren. Das war ganz hilfreich, denn ohne diese Ortsangabe hätte ich mit der Anweisung, immer an Gott zu denken, nicht viel anfangen können. Wie denkt man an Gott? Was soll man da denken: Oh Gott, oh Gott? Oder was? Ich lernte Atemübungen, Körperübungen und Mantras. Letztere halfen mir sehr, eine extrem schwierige Lebenssituation zu bewältigen.
Durch Rhea Powers, eine spirituelle Lehrerin aus den USA, lernte ich die New-Age-Auffassung von der Göttlichkeit unseres Wesens kennen, verbunden mit einem sehr modernen, amerikanischen Stil – humorvoll, liebevoll, leicht. Bald entdeckte ich die Fähigkeit, mit höheren Ebenen des Bewusstseins in Kontakt zu treten. Ich entdeckte in mir das Ich mit dem großen I, das eine Ich in allen. Besonders intensiv arbeitete ich daran, mit Hilfe der Erkenntnisse, die ich aus dieser Entdeckung ableitete, mein damals größtes Problem zu lösen: Geldmangel und einen Schuldenberg. Ich wollte sozusagen Gott zu Geld machen. Bis zu einem gewissen Grad gelang mir das auch, wenn auch unter Umkehrung der Reihenfolge. »Gott statt Geld« brachte schließlich Geld.14
Ich beschäftigte mich eine Zeitlang mit positivem Denken und begann mit Affirmationen zu experimentieren. Das sind Sätze, die man ständig wiederholt, um sein Unterbewusstsein positiv umzustimmen. Ich benutzte hierfür nicht irgendwelche Sätze, die ich gelesen hatte, sondern Erkenntnisse, die mir selber in tiefer Meditation zuteil geworden waren, und dennoch ging es gründlich schief. Sagte ich mir »Ich bin unendliche Fülle und grenzenloser Reichtum« (durchaus eine Realität auf einer höheren Ebene), so protestierte etwas in mir: »Ach ja, und wieso kannst du dir dann noch nicht einmal ein richtiges Essen leisten?« Die Diskrepanz zwischen meiner Realität und den positiven Aussagen – die im alltäglichen Bewusstseinszustand lediglich Behauptungen waren – machte mich ebenso verrückt wie der Abgrund, der zwischen den positiven Gefühlen, die ich damit zu erzeugen versuchte, und meinen wahren Gefühlen klaffte. (Damals war die Methode der Körperzentrierten Herzensarbeit noch nicht entwickelt, die mich befähigt hätte, beides zu vereinbaren.) Ich merkte, dass ich mich mehr und mehr spaltete, und gab es schließlich ganz auf.
Da ich zur Radikalität neigte, warf ich mit dem positiven Denken gleich alles über Bord, was ich je auf spirituellem Gebiet gelesen, gehört, gelernt und mir als Überzeugung angeeignet hatte. Ich machte Tabula Rasa. Alles erschien mir plötzlich falsch. Ich war entschlossen, noch einmal von Punkt Null15 anzufangen. Ab sofort wollte ich nichts mehr voraussetzen, nur noch wahrnehmen – ganz nüchtern und objektiv. Keine Lehre interessierte mich mehr. Meine Meditation war nur noch Zen. Objektiv, nüchtern, präsent: wahrnehmen, wahrnehmen, wahrnehmen. Folgte ich einer geführten Meditation bei einem geistigen Lehrer, so hörte ich mit kritischen Ohren zu. Äußerte er eine Überzeugung, so erkannte ich sie als Überzeugung und wies sie innerlich von mir. Nur noch wahrnehmen. Gedanken als Gedanken wahrnehmen.
Es war erfrischend. Ich liebte Zen. Was für eine Offenbarung zu entdecken, dass man mit seinen Gedanken nicht identifiziert sein muss, sondern sie einfach wahrnehmen kann! Diese Entdeckung wurde später zur Basis der Körperzentrierten Herzensarbeit. Ich liebte alles, was mit Zen zu tun hatte. Die Haltung. Die Achtsamkeit. Die Künste. Die Schlichtheit. Die Schriften, von denen ich allerdings kein Jota verstand. Jedoch, es fehlte mir etwas.
Schließlich begegnete ich dem Meister, der rund zwanzig Jahre lang (bis zu seinem Tod im Jahre 2004) mein Lehrer sein sollte, Pir Vilayat Khan. Er war ein universaler Geist, mit nie ermüdender Experimentierfreude und Begeisterungsfähigkeit und zugleich einem nüchternen und scharfen Verstand. Pir Vilayat Khan war Oberhaupt eines interreligiösen und internationalen Sufi-Ordens, Sohn und Nachfolger des großen indischen Sufi-Meisters Hazrat Inayat Khan, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Sufi-Lehre und die Idee der Einheit aller Religionen in den Westen gebracht hatte. Pir Vilayat Khan war tief eingeweiht nicht nur in seine eigene spirituelle Schule, den Sufismus, sondern auch in die Lehren des Buddha, in das Christentum, das Judentum, die Religion Zarathustras, in Yoga und Vedanta sowie in Philosophie, Psychologie, Musik und in die Geheimnisse der modernen Naturwissenschaft. Er verstand es, die Botschaft der Propheten und Meister der Weltreligionen und verschiedenen spirituellen Traditionen für uns Heutige verständlich und den Geist dieser Meister so lebendig zu machen, als seien sie anwesend. Durch ihn begann ich das, was ich in christlichen, yogischen und buddhistischen Zeiten praktiziert, aber nicht verstanden hatte, zu begreifen. Er war es, von dem ich die Bedeutung der Phasen der katholischen Messe erfuhr, von dem ich lernte, dass Buddha entgegen der gängigen Meinung doch über Gott gesprochen hatte, welchen Zweck Atemübungen haben und warum Licht der Schlüssel zum Erwachen ist. Und bei ihm fand ich auch die Elemente, die mir gefehlt hatten: das Feuer des Herzens, die himmlischen Ebenen, ein Verständnis für den Sinn des Ganzen.
Zu Beginn der 1990er-Jahre – ich hatte meine journalistische Karriere16 an den Nagel gehängt und begonnen, spirituelle Trainingsgruppen und Meditationen zu leiten und Bücher zu schreiben – begann sich aus meiner damals ausschließlich von Intuition geleiteten Arbeit mit mir und anderen eine Methode herauszukristallisieren, die ich schließlich zu lehren und in Büchern darzustellen begann. Ich nannte sie »Körperzentrierte Herzensarbeit«, weil sie mit der Körperwahrnehmung beginnt und bei der Öffnung des Herzens endet. Ihre Basis ist die nüchterne und objektive Wahrnehmung, wie man sie in der Zen-Meditation übt. Ihre Elemente entstanden aus konzentrierter Beobachtung, geleitet von Intuition. Die Ebene des Herzens, die sozusagen den krönenden Abschluss bildet, hatte ich bei den Sufis kennengelernt. In ihrer Essenz ist die Methode nichts weiter als die schrittweise Wiederherstellung eines eigentlich natürlichen Zustandes. Es geht darum, die eigenen Gefühle und die anderer bewusst und mit offenem Herzen wahrzunehmen.
Diese Methode wurde mir zum wertvollen Begleiter auf meinem spirituellen Weg, zeitweise sogar zum Weg selbst. Mit ihrer Hilfe gelang es mir endlich, eine Brücke zu bauen zwischen den hohen inneren Erlebnissen, die ich in Meditationen und Retreats17 kennengelernt hatte, und meiner alltäglichen Persönlichkeit. Ich hatte den Eindruck, etwas entdeckt zu haben, das jeder brauchen kann, der sich auf dem spirituellen Weg – welcher auch immer es sei – befindet: eine Technik, die hilft, sich seiner Gefühle bewusst zu werden; sein Herz zu öffnen; die Fähigkeit neutraler und bewusster Wahrnehmung zu entwickeln und somit eine Plattform zu haben, von der aus man die Reise des Erwachens mit nüchterner Bewusstheit antreten kann, ohne sich in Fantasie oder Spinnerei zu verlieren, ohne seine momentanen Erkenntnisse in bleibende Überzeugungen zu verwandeln und vor allem auch, ohne seine Emotionen zu verdrängen, weil man einem spirituellen Ideal entsprechen will.
In den Jahren, die folgten, konzentrierte ich mich hauptsächlich auf die Körperzentrierte Herzensarbeit, die mir ein anderer Weg zu sein schien als der Sufi-Weg, diesen aber ergänzte. Jedoch, nach der Entdeckung des »entscheidenden Schrittes«18 merkte ich, dass ich auf meinem eigenen Weg zu dem gleichen Ergebnis gelangt war wie die...