1. EBENEN DER BLOCKADE
VOM WOLLEN UND WÄHLEN
Widerstände gegen die Veränderung des Landes finden sich auf vielen Ebenen. Die Barrikade gegen eine ökologische Modernisierung und gegen mehr Gerechtigkeit verläuft dabei mitten durch uns selbst hindurch. Die Blockierer sind nicht immer die anderen. Wir sind es selbst.
Viele Menschen in unserem Land wissen, dass es mit unserer Wirtschaft und Lebensweise nicht einfach so weitergehen kann. Sie meinen es ernst, wenn sie den Anrufern der Umfrage-Institute ihre Unterstützung für Klimaschutz, Mindestlohn, Energiewende oder gerechte Steuern mitteilen. Wenn sie mit großen Mehrheiten sagen, dass sie sich eine gerechtere Verteilung wünschen und eine umweltfreundlichere Wirtschaft, dann meinen sie das auch.
Diese allgemeinen Antworten lassen sich leicht geben. Wenn es aber an das konkrete Handeln geht, kommt Verunsicherung auf. Veränderung ist anstrengend.
Es muss nämlich in jede Innovation – vor allem am Anfang – investiert werden. Der eine oder andere muss sich umstellen und unter Umständen seine Gewohnheiten komplett umkrempeln. Umbau meint Aufbau und Abbau, es gibt Gewinner und Verlierer. Eine traditionsreiche Branche kommt in Schwierigkeiten und muss einer neuen Platz machen. Die Vorteile des Neuen sind noch nicht greifbar, der Verlust des Alten aber schon spürbar. Kurz: Es wird unbequem. Der tatsächliche Veränderungsstress ist etwas anderes als eine wohlfeile Meinungsäußerung. Viele kennen das vom Sport. Man wollte sich schon immer mehr bewegen, aber dummerweise war der Arbeitstag wieder so lang, es ist schon dunkel, man muss noch einkaufen – und schon entfällt der Waldlauf oder der Besuch im Fitness-Studio. Der Sport wird vertagt, oft auf den St. Nimmerleinstag.
Bei politischen Entscheidungen ist das nicht anders. Man schiebt die nötige Veränderung auf, hört auf die Warner, die Verzagten und die Bewahrer des Bestehenden. Für viele Menschen ist es ohne Weiteres vereinbar, morgens für den Wandel zu reden und mittags dem Bremser die Stimme zu geben. Klimaschutz muss sein, aber »die Wirtschaft« muss ebenfalls laufen. Mehr Gerechtigkeit? Ja, aber man darf die Reichen nicht aus dem Land treiben, schließlich geben sie uns Arbeit. Man kann das ambivalent nennen, kompliziert oder auch schizophren. Die Wahrheit ist: Wir haben eben unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse. Und diese widersprechen sich häufig. Wenn es ernst wird, haben die Menschen ein untrügliches Gespür für ihre unmittelbaren und kurzfristigen Interessen.
Wie kann das Vernünftige und langfristig Vorteilhafte das Prinzip der schnellen Wunscherfüllung aus dem Rennen werfen?
Ein schlechtes Gewissen führt selten zu einer dauerhaften Verhaltensänderung. Eine entscheidendere Motivation ist noch immer die des eigenen Vorteils. Menschen ändern ihr Verhalten vor allem, wenn sie einen Vorteil darin erkennen und erfahren. Und so kann man in der Gesellschaft viele Menschen zu mehr Veränderungsbereitschaft ermuntern und ihnen Vorteile in Aussicht stellen. Oder man kann ihnen durch Warnungen und Drohungen Angst vor der Veränderung einjagen.
Veränderung gilt als riskant. Gerade hier in Deutschland und gerade in einer Zeit, in der es dem Land wirtschaftlich noch gut geht. Die Selbstblockade entsteht in einem Spannungsfeld zwischen grundsätzlicher Veränderungsbereitschaft und tatsächlicher Umsetzung. Wir Deutschen sind nicht schizophren. Wir kennen unsere Prioritäten.
In den letzten Jahren wurde eine Geschichte rauf- und runtererzählt. Sie überlagert fast alle anderen. Sie geht so: Die erfolgreiche Wirtschaftsnation Deutschland muss sich im Konkurrenzkampf mit den aufstrebenden Nationen der Welt behaupten: mit China, Indien, Brasilien, der Türkei, Russland und anderen. Diese Geschichte vom Wettbewerb der Nationen dominiert die Einstellung der Deutschen zur Globalisierung, zum Klimawandel und zum Rest Europas. Sie ist nicht vollkommen absurd, zeichnet aber ein stark vereinfachtes und letztlich falsches Bild von der Welt. Sie sortiert die Menschen vor allem in nationale Gruppen ein, nicht in die Gruppe der Arbeitnehmer, Investoren, Flüchtlinge oder Touristen. Sie appelliert in der zusammenwachsenden Welt an das alte Kollektiv der »Nation« gegenüber den »Fremden«. Und vor allem: Sie schürt Angst. Eine Angst, die doch verwundern muss.
Fast ist es so, als würde der FC Bayern nicht mehr in der Bundesliga spielen wollen, aus Angst, doch mal ein Spiel pro Saison zu verlieren. Deutschland ist aus den Wettbewerbskämpfen auf den Weltmärkten des letzten Jahrzehntes als klarer Sieger vom Platz gegangen. Klar, das gilt nicht für alle Deutschen. Viele hierzulande haben von den Erfolgen der deutschen Exportwirtschaft überhaupt nicht profitiert. Das international strahlende Beispiel der deutschen Volkswirtschaft bedeutet nach innen, dass Millionen in prekären oder schlecht bezahlten Jobs arbeiten, dass Millionen seit Jahrzehnten keine Einkommenszuwächse haben.
Aber im Vergleich mit anderen Staaten, deren Unternehmen auf den Weltmärkten verloren haben oder chancenlos sind, geht es vielen in Deutschland derzeit sehr gut. Diese dem Anschein nach einheitliche Nation, diese trügerische, aber suggestive Gesamtidee der sogenannten »deutschen Wirtschaft« – sie steht gut da. Sie hat im Wettbewerb fürs Erste gewonnen.
Und obwohl gar nicht alle etwas davon haben: Auf der intuitiven Ebene fühlen sich viele Deutsche zugehörig zu dieser erfolgreichen Wirtschaftsnation. Ihren Erfolg und Vorsprung möchte man nicht gefährden. Bevor wir »unsere« Industrie durch zu hohe Löhne und zu viel Klimaschutz im Wettbewerb schwächen, halten wir uns doch lieber an das, was »unsere« Wirtschaftsführer und die von ihnen unterstützten Politiker uns sagen.
Und so stimmen wir Deutschen gegen unsere eigenen Werte und gegen unsere eigenen langfristigen Interessen ab. Bevor wir selbst zurückstecken, und die anderen uns »über den Tisch ziehen«, treffen wir eine Prioritätsentscheidung. Wir leben als Wettbewerbsgewinner Germany auch ohne große Veränderungen ganz gut.
Diese Story von der erfolgreichen Wirtschaftsnation im globalen Wettbewerb ist bei aller Geschmeidigkeit der Angela Merkel das Geheimnis ihres Erfolges. Der Appell an den verdrucksten deutschen Kollektiv-Egoismus ist – wie auch die Angst vor »den anderen« – archaisch. Er sollte in unserer Zeit keinen Platz mehr haben. Er verleitet dazu, zu vergessen, wovon wirtschaftlicher Erfolg heute abhängt, wie verflochten und international Wirtschaft heute funktioniert, wer alles an den Produkten mitarbeitet, die aus Deutschland stammen, wie viel wir anderen verdanken und wie stark unser Wirtschaftswunder vom Wohlergehen anderer Volkswirtschaften abhängt. Und er widerspricht in vielerlei Hinsicht dem, was wir Deutsche eigentlich denken und wollen, wie wir uns sehen und wie wir gesehen werden wollen.
Viele von uns wollen weltoffen, international und empathisch sein. Wir sind gute Nachbarn, hilfsbereit und kooperativ. »Die Welt zu Gast bei Freunden«, so lautete das Motto der WM 2006, nicht »die Welt zu Gast beim Wirtschaftskönig«! Junge Deutsche studieren im Ausland und ausländische Studierende machen in Deutschland ihren Abschluss. Wir sind das reiselustigste Volk der Welt, 11 Millionen Touristen besuchen jedes Jahr Berlin. Ist nicht eher die Welt unsere Heimat?
Auch in der harmlosen Form der Kartoffelsuppenköchin und Autokanzlerin Angela Merkel hat der Wirtschaftswunder-Stolz etwas Kurzsichtiges, Kleingeistiges und Rückwärtsgewandtes. Das offenbart sich regelmäßig, wenn AfD, CDU oder CSU das wahre Gesicht des Nationalkonservatismus zeigen und mit Ressentiments gegen Zuwanderer Punkte machen. In CSU-Kampagnen wie »Wer betrügt, der fliegt« offenbarte sich die Kehrseite des Eigenstolzes: Die Verachtung der anderen.
Die Fixierung auf den Wettbewerb der Völker zieht. Auch bei uns. Aber typisch deutsch ist das schon lange nicht mehr. Und leider sind derartige Gefühle nicht nur in Deutschland auf dem Vormarsch. In vielen anderen Ländern wird die entsprechende Geschichte heute noch weitaus aggressiver und chauvinistischer erzählt. Ob in Dänemark, Ungarn, in Frankreich oder Großbritannien, in Indien oder Russland, in vielen Staaten sind extrem nationalistische, rechtspopulistische und manchmal offen neofaschistische Kräfte auf dem Vormarsch.
Leider hat es nun auch die »Alternative für Deutschland« ins Europaparlament geschafft. Lange hatten wir den Rückfall ins nationalistische Denken in Deutschland unter dem harmloseren Unions-Deckel halten und dort einhegen können.
Auch wenn man die Macht der nationalen (Angst-)Visionen versteht, so bleibt es verblüffend, wie wenig konsequent die Menschen das, was sie zu denken scheinen, in die politische Tat umsetzen. Seit Jahren beschweren sich Mehrheiten der Bevölkerung über die Gier an den Finanzmärkten, über die deregulierten Banken und Hedgefonds, wenn sie Millionengewinne einsacken und Verluste auf den Steuerzahler abwälzen. Über Steuerbetrüger wie Uli Hoeneß, Klaus Zumwinkel und Alice Schwarzer. Seit Jahren empören sie sich über die Ausbeutung von Arbeiterinnen und Arbeitern, deren Lohn nicht zum Leben reicht und vom Steuerzahler aufgestockt werden muss. Immer wieder beklagen die Deutschen, wie fragwürdig sie doch das immer weitere Auftürmen von materiellem Wohlstand auf Kosten der Umwelt finden. Doch politische Angebote, die daran wirklich etwas ändern wollen, die werden nur von einer Minderheit gewählt.
Bevor man über Wahlkampffehler spricht, bevor wir uns über die Manipulation der Öffentlichkeit und den grassierenden...